Die Lüge von der Vereinbarkeit
Wer Kinder hat und Karriere machen möchte, zahlt einen hohen Preis – besonders als Frau. Mütter reiben sich auf zwischen Familie und Beruf. Denn die viel zitierte Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet vor allem eins: ganz viel Stress. Eine Entmystifizierung.
Salome ist froh, dass sie nicht mehr arbeiten muss. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes wurde ihr Job zusehends zur Belastung. «Ich hatte wenig zu tun im Büro, fragte mich je länger, je mehr nach dem Sinn meiner Stelle, während zu Hause unzählige Arbeiten hätten erledigt werden sollen», erinnert sich die Juristin. Nach der Geburt des dritten Kindes reichte sie die Kündigung ein.
Ihr Mann hatte inzwischen einen Chefposten ergattert, ein Vollzeitpensum. «Zudem wollte ich mir den Stress nicht mehr länger zumuten, die Kinder an meinem Job vorbeizujonglieren », erzählt Salome. «Mittlerweile geniesse ich es so richtig, bei meinen Kindern zu sein.»
Allerdings spricht sie nur im engsten Freundeskreis offen über ihre Situation: «Ich meine, darf man heute überhaupt noch sagen, dass einem die Kinder mehr am Herzen liegen als der Job, ohne den Stempel einer Konservativen zu haben?»
Die sogenannte Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird uns seit Jahren als harmonisch verkauft. Die Realität sieht anders aus.
Die Ökonomin Sabine pendelte dreimal die Woche von Bern nach Zürich – frühmorgens gab sie in der Kita ihre beiden Mädchen ab und rannte anschliessend auf den Zug.
Als sie im Büro erzählte, dass sie Mühe hätte, ihre weinende Tochter einer ihr fremden Betreuerin in die Arme zu drücken, erntete sie ein müdes Lächeln. «Man sagte mir, ich sei eben eine Glucke, die ihre Kinder nicht loslassen könne.»
Sabine verstand die Welt nicht mehr, nahm sie doch einen mehr als zweistündigen Arbeitsweg auf sich, um weiterzuarbeiten. Irgendwann wurde ihr die Belastung zu viel. «Hätte ich so weitergemacht, wäre ich in ein Burn-out geschlittert», sagt sie. «Allein schon wegen meiner Töchter konnte ich mir das nicht leisten.»
Exakt deshalb hat Nadine ihren Job reduziert. Heute arbeitet die Politologin noch einen Tag die Woche als wissenschaftliche Mitarbeiterin – meistens von zu Hause aus, weil sich das mit der Betreuung ihrer beiden schulpflichtigen Buben am einfachsten vereinbaren lässt.
Nach der Geburt des ersten Kindes hatte sie sich die Betreuung mit ihrem Mann noch «einigermassen gleichmässig» geteilt. Er reduzierte auf 80 Prozent; sie arbeitete 60 Prozent. «Das war aber ein riesiger Stress», erinnert sie sich. Am Abend sah die Wohnung aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Zeit, um auszuruhen, blieb keine.
Gemeinsam hätten sie dann die Kinder gefüttert, sie ins Bett gebracht, die Wohnung aufgeräumt, bevor sie erschöpft ins Bett sanken. Hinzu kam, dass ihr Mann bei der Arbeit vermehrt bessere Angebote erhielt, stets mehr verdiente, während Nadine nach einem Jobwechsel eine Lohneinbusse von 30 Prozent hinnehmen musste und zu blossen Sekretariatsarbeiten verdonnert wurde.
Irgendwann wurde es ihr zu viel, sie nahm sich eine Auszeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Drei Frauen, drei Szenarien, eine Rechtfertigung: Heute müssen sich Frauen verteidigen, wenn sie den Job an den Nagel hängen, um für ihre Kinder da zu sein.
Denn die Maxime in Sachen Vereinbarkeit lautet: Wer will, kann auch. Hey, dröhnt es aus allen Richtungen, ihr müsst euch nur genügend anstrengen, dann seid ihr auch so gut organisiert wie alle anderen Powerfrauen. Dabei hat sich an den Rahmenbedingungen viel weniger geändert, als man glauben könnte.
Starre Strukturen erschweren die Vereinbarkeit
Die Strukturen in der Arbeitswelt sind so unbeweglich wie vor 50 Jahren; nach wie vor wird mehr Wert auf lange Präsenzzeit gelegt als auf den Output. Zudem diskutiert die Politik die Vereinbarkeit nur halbherzig. Einzig die Anzahl Kita-Plätze hat sich erhöht.
Doch reduziert haben sich die Selbstzweifel und das schlechte Gewissen der Frauen nicht: «Ich habe zusehends Mühe, meine Kinder wegzugeben, bloss damit ich für einen Arbeitgeber attraktiv bleibe », gibt etwa Daniela zu.
Als die Anwältin nach dem 14-wöchigen Mutterschaftsurlaub ihren Sohn in fremde Hände gab, fühlte sie sich, als würde ihr das Herz aus dem Leibe gerissen. Auf Verständnis in ihrem Umfeld konnte die Angestellte nicht zählen.
«Von einer modernen Mutter wird heute erwartet, dass sie ihr dreimonatiges Baby ohne Reue fremdbetreuen lässt, um schnellstmöglich an den Arbeitsplatz zurückzukehren.» Bei Daniela war das Gegenteil der Fall. Sie vermisste nicht nur ihr Kind, auch die Arbeit erschien ihr fade.
Die Strukturen in der Arbeitswelt sind so unbeweglich wie vor 50 Jahren. Einzig die Kita-Plätze haben sich erhöht.
Und in Sachen Beförderung erwies sich ihre Mutterschaft als Karrierekiller: Daniela wurde einfach übergangen. Ihr Vorgesetzter war überzeugt, als Mutter sei sie nicht mehr flexibel genug für einen verantwortungsvollen Job. Drei Frauen, drei Ausnahmen? Mitnichten.
Die sogenannte Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird uns seit Jahren als «harmonisch» und «befriedigend» verkauft. Erfolgreiche, glückliche und reiche Firmengründerinnen, Ministerinnen und weibliche CEOs lassen sich mit aufmunternden Worten zitieren oder schreiben Bücher über ihren Willen zum Erfolg.
- Gemeinsam Regie führen. Ein Impuls der Gleichstellungsfachstellen der Kantone Bern, Luzern, Zürich, der Fachstelle UND sowie des eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann: www.gemeinsam-regie-fuehren.ch
- Fachstelle UND, Familien- und Erwerbsarbeit für Männer und Frauen: www.und-online.ch
- Informations- und Beratungszentrum Frau und Arbeit: www.frac.ch
- Familienfreundliche Unternehmen finden und bewerten: www.jobundfamilie.ch, www.familyscore.ch
- Sibylle Stillhart: Müde Mütter – fitte Väter. Warum Frauen immer mehr arbeiten und es trotzdem nirgendwohin bringen. Limmat- Verlag, 2015. 110 Seiten, Fr. 23.90
- Michèle Roten: Wie Mutter sein. Echtheit-Verlag, 2013. 176 Seiten, Fr. 31.90
- Marc Brost, Heinrich Wefing: Geht alles gar nicht. Warum wir Kinder, Liebe und Karriere nicht vereinbaren können. Rowohlt-Verlag, 2015. 240 Seiten, Fr. 18.30
- Susanne Garsoffky, Britta Sembach: Die Alles-ist-möglich-Lüge. Wieso Beruf und Familie nicht zu vereinbaren sind. Pantheon-Verlag, 2014. 256 Seiten, Fr. 20.40
- Stefanie Lohaus, Tobias Scholz: Papa kann auch stillen. Wie Paare Kind, Job und Abwasch unter einen Hut bringen. Goldmann-Verlag, 2015. 224 Seiten, Fr. 10.30
Keine Einzige spricht oder schreibt von Augenringen, schlaflosen Nächten oder Organisationskatastrophen wegen Grippe, Prüfungsangst oder einem Zug, der morgens schon wieder Verspätung hat.
Der Alltag von ganz normalen erwerbstätigen Eltern ist nüchtern betrachtet ein permanent andauernder Ausnahmezustand. Sie klagen über «Stress», «zu wenig Zeit». Sie fühlen sich «wie in einem Hamsterrad ».
Sie führen ein Leben in der Rushhour, strampeln sich täglich ab, bringen ihre Kinder frühmorgens in die Kita, eilen ins Büro, arbeiten über Mittag durch und hasten nach Feierabend noch in den Supermarkt – bevor sie zu Hause das Abendessen zubereiten und die Kinder ins Bett bringen.
«Zwischen 1997 und 2013 zeigt sich eine Zunahme der zeitlichen Gesamtbelastung für alle Väter und Mütter in Paarhaushalten», hält das Bundesamt für Statistik (BfS) in seiner jüngsten Auswertung fest.
Mütter und Väter von kleinen Kindern arbeiteten insgesamt durchschnittlich 68 respektive 70 Stunden pro Woche. Allmählich wird klar, dass «Vereinbarkeit von Familie und Beruf» vor allem bedeutet, nahtlos am Stück zu arbeiten.
Dass sich Kinder und Karriere reibungsfrei vereinbaren lassen, ist also ein Mythos. Es ist an der Zeit, diesen Mythos zu entlarven. Herauszufinden, was in dieser Debatte schiefläuft.
Mythos 1:
Falsch: Hausarbeit und Kinderbetreuung liegen nach wie vor in der Verantwortung der Frau.
Immer mehr Frauen arbeiten nach der Geburt eines Kindes weiter, die meisten – 63 Prozent – Teilzeit. Die Hoffnung, dass Männer ihr Arbeitspensum ebenfalls reduzieren würden, um sich mit ihren erwerbstätigen Partnerinnen Haushalt und Kinder zu teilen, hat sich aber als Irrtum erwiesen.
Laut Bundesamt für Statistik (BfS) tragen nach wie vor gut drei Viertel der erwerbstätigen Frauen die Hauptverantwortung für Hausarbeit und Kinderbetreuung allein.
In Zahlen ausgedrückt: Mütter wenden durchschnittlich 55,5 Stunden pro Woche dafür auf, dass der Kühlschrank gefüllt, das Essen gekocht und die Wohnung aufgeräumt ist, die Kleider gewaschen und die Kinder zufrieden sind.
Burnout bei Hausfrauen und berufstätigen Müttern nimmt zu.
Geht sie zusätzlich einer Erwerbsarbeit nach, erhöht sich der durchschnittliche Arbeitsaufwand auf 68 Stunden. Das sind täglich knapp 10 Stunden, auch samstags und sonntags. Die vermehrte Erwerbsbeteiligung der Mütter, die in den letzten Jahren zu beobachten ist, führt zu einer noch grösseren Gesamtbelastung der Frau, lautet das Fazit der BfS-Studie. Allerdings ist auch das durchschnittliche Arbeitspensum der Männer enorm.
Sie müssen aufgrund ihrer erwerbstätigen Frauen vermehrt im Haushalt mit anpacken: 30,5 Stunden pro Woche Hausarbeit leisten Väter in Familien mit kleinen Kindern. Kumuliert mit der Erwerbsarbeit – die in den meisten Fällen ein Vollzeitpensum von mindestens 40 Stunden umfasst – ist das ebenfalls ein beachtliche 70-Stunden-Woche.
Mythos 2:
Falsch: Beruflicher Erfolg ist Vätern wichtiger als die Familie.
Ja, es gibt sie, die «modernen Väter», die ihre Babys stolz im Tragetuch spazieren führen, sie mit Brei füttern und im Supermarkt Windeln kaufen. Tatsächlich glaubt man, dass «moderne Väter» ihre berufstätigen Partnerinnen zu Hause entlasten.
Wünschen tun es sich einige – wie eine repräsentative Studie von Pro Familia zeigt, die sich generell mit dem Teilzeitarbeitswunsch von Männern (nicht nur Vätern) befasst. Sie besagt, dass 9 von 10 Männern gerne Teilzeit arbeiten würden.
Doch Wunsch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander: 9 von 10 Vätern arbeiten nach wie vor Vollzeit. «Der engagierte Vater, der sich die Familienarbeit partnerschaftlich mit der Mutter teilt, ist ein Exot», sagt die österreichische Familienforscherin Irene Mariam Tazi-Preve.
Der Mann sei erwerbsorientiert und definiere sich über seinen Beruf, über seine Position, das Geld – und erst dann über seine Kinder, so Tazi-Preve.
Auf ein ähnliches Resultat kommt eine Studie des deutschen Instituts für Demoskopie Allensbach, in der 947 Männer zwischen 18 und 65 Jahren befragt wurden: Der Erfolg im Beruf ist für die meisten Männer wichtiger als die Familie.
Kommt es zu einem zeitlichen Konflikt zwischen Beruf und Familie, entscheidet sich die Mehrheit der Männer – ganz im Gegensatz zu den Müttern – für den Beruf.
Mythos 3:
Falsch: Zu viel Arbeit macht krank.
Die Arbeitsbelastung, die sowohl Väter wie auch Mütter wöchentlich bewerkstelligen, bleibt nicht folgenlos. Eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) ergab, dass rund ein Drittel der Erwerbstätigen häufig oder sehr häufig gestresst ist.
Dies sind 30 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Während Männer Deadlines, nervende Chefs oder belastende Arbeitszeiten als Stressfaktoren nennen, kämpfen Frauen am häufigsten damit, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. Hinzu kommt, dass die Doppelbelastung vermehrt zu psychischen Störungen führt.
«Burnout bei Hausfrauen und bei berufstätigen Müttern nimmt tendenziell zu», sagte Wulf Rössler, Vorsteher und Klinikdirektor der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Frauen mit einer 60-Stunden-Woche haben ein dreimal höheres Risiko, an Krebs zu erkranken oder einen Herzinfarkt zu erleiden.
Ähnliches ist in Deutschland zu beobachten: Die Zahl der Mütter mit Erschöpfungssyndrom bis hin zum Burnout, mit Schlafstörungen, Angstzuständen oder Kopfschmerzen ist gemäss Anne Schilling, Geschäftsführerin des Müttergenesungswerkes in Berlin, deutlich gestiegen.
Der Anteil der Mütter, die wegen psychischer Störungen eine Kur machten, lag im Jahr 2003 noch bei 49 Prozent. Zehn Jahre später waren es bereits 86 Prozent. Zeitdruck und zu wenig Anerkennung für ihre Arbeit belasten Mütter am meisten.
Amerikanische Wissenschaftler haben zudem herausgefunden, dass Frauen mit einer 60-Stunden- Woche ein dreimal so hohes Risiko haben, an Krebs, Arthritis oder Diabetes zu erkranken oder einen Herzinfarkt zu erleiden.
Auslöser sei der gesundheitsschädigende Einfluss von multiplem Stress, der durch die Mehrfachbelastung von Kindern und Haushalt entsteht.
Mythos 4:
Falsch: Wir arbeiten immer mehr für immer weniger Geld.
Mütter und Väter arbeiten immer mehr – und kommen trotzdem auf keinen grünen Zweig: Teure Kinderbetreuungskosten, die Steuerprogression bei zwei Einkommen, explodierende Krankenkassenprämien und die Wohnungsmieten belasten das Portemonnaie der Mittelschicht.
Oft ist am Ende des Monats kaum mehr Geld übrig, auch wenn beide Eltern in hohen Pensen arbeiten. Monika Bütler, Wirtschaftsprofessorin an der Universität St. Gallen, hat bereits vor Jahren herausgefunden, dass sich ein Zweiteinkommen oft gar nicht lohnt.
Ein Krippenplatz kostet im Durchschnitt pro Tag 110 Franken. Bei durchschnittlich 22 Krippentagen pro Monat ergibt sich ein stattlicher Betrag, der einem Drittel des Haushaltseinkommens einer Durchschnittsfamilie entspricht, wie die Universität St. Gallen in einer Studie 2013 herausfand.
Schweizer Familien bezahlen damit für die externe Kinderbetreuung doppelt so viel wie Eltern in 24 anderen europäischen Ländern.
Kommen die Kinder in die Schule, reduzieren sich die Beiträge zwar, sind aber vergleichsweise immer noch hoch. So kostet ein Hortplatz mit Mittagessen und Nachmittagsbetreuung pro Kind und Tag 70 Franken.
Wer eine ausgebildete Nanny beschäftigt, muss bei Vollzeit mit monatlichen Kosten von bis zu 4500 Franken rechnen. Deshalb macht die Erwerbstätigkeit einer Zweitverdienerin laut Bütler erst dann Sinn, wenn der Nettolohn einer Vollzeitanstellung nach Steuern und anderen Berufsauslagen mindestens 50 000 Franken beträgt.
Das heisst: Selbst für gut ausgebildete Mütter lohnt es sich finanziell nicht, zu arbeiten. Trotzdem arbeiten immer mehr Frauen nach der Geburt weiter – der Anteil nicht erwerbstätiger Frauen ist seit 1992 von rund 40 auf 20 Prozent gesunken. Frauen in der Schweiz bezahlen also dafür, dass sie zur Arbeit gehen dürfen.
Mythos 5:
Falsch: Weibliche Arbeit wird nach wie vor schlechter oder gar nicht bezahlt.
In der Arbeitswelt zählen immer noch dieselben starren Mechanismen wie vor 50 Jahren: Noch immer gilt als produktiv, wer von frühmorgens bis spätabends an seinem Arbeitsplatz ausharrt, egal wie effizient er tatsächlich ist.
«Karriere in Deutschland», hat der Trendforscher Matthias Horx einmal geschrieben, «ist ein Wettbewerb um Anwesenheitszeiten, um kommunikative Präsenz. Wer führt, muss nach einem Acht-Stunden-Tag noch für Meetings und Absprachen an der Bar zur Verfügung stehen.
Kann sein Wochenende vergessen. Muss immer erreichbar sein.» In der Schweiz ist das nicht anders. Kaum eine Mutter kann es sich leisten, zwölf Stunden bei der Arbeit auszuharren oder am Feierabend mit ihren Kollegen abzuhängen.
Frauen hetzen nach Büroschluss nach Hause zu den Kindern, während es für Männer verpönt ist, um 17 Uhr wegen der Kinder das Büro zu verlassen. Zudem verdienen Männer immer noch 20 bis 30 Prozent mehr als Frauen.
Erfolg im Job ist für die meisten Männer wichtiger als die Familie.
In «typischen Männerberufen » – wie etwa in der Banken-, Auto- oder Versicherungsbranche – ist der Lohn schon von Beginn an höher angesetzt als etwa im Pflegebereich, wo sich vermehrt Frauen um Kleinkinder, Kranke und ältere Leute kümmern.
Hinzu kommt die unbezahlte Arbeit: Haushalt, Kinderbetreuung und die Pflege bedürftiger Angehöriger. 2013 wurden in der Schweiz dafür 8,7 Milliarden Stunden gearbeitet, was einem Geldwert von 401 Milliarden Franken entspricht, wie das Bundesamt für Statistik berechnet hat.
Es sind vorwiegend Frauen (62 Prozent), die diese unbezahlten Tätigkeiten ausführen, während 62 Prozent der Männer bezahlter Arbeit nachgehen. Weil Frauen oft gratis arbeiten oder schlechter bezahlt sind, droht ihnen die Gefahr der Altersarmut, weil unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit nicht rentenrelevant ist.
Auch bekommen Frauen im Alter eine kleinere Pension, obwohl sie lebenslang gearbeitet haben.
Mythos 6:
Falsch: Die Karrierefrau mit Kindern ist die Ausnahme.
Das Bild der beruflich erfolgreichen Mutter, die ihre Karriere verfolgt, während sie spielend drei Kinder aufzieht, ist heute genauso ideologisiert wie unlängst das überhöhte Bild der duldsamen Mutter, die sich für ihren Mann und ihre Kinder aufopfert. Beides hat mit der Realität wenig zu tun.
Auch in den ehemaligen sozialistischen Ländern, in denen die Strukturen so ausgelegt waren, dass Mütter voll erwerbstätig waren, blieb die Karrierefrau mit Kindern die Ausnahme.
Während Frauen vorwiegend assistierende Tätigkeiten ausführten, hatten die Männer die interessanten Jobs – Männer befahlen, Frauen dienten. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine trügerische Behauptung von Wirtschaft und Politik.
Dieses Hin und Her zwischen den Ansprüchen der Arbeitswelt und der Familie zehrt an der Substanz – bei Vätern wie auch bei Müttern. Trotzdem werden wir dazu angehalten, immer mehr und immer länger zu arbeiten.
Die Schweiz gehört zu den Ländern mit den höchsten Präsenzzeiten.
In der Europäischen Union hat sich der Appell des «dual earner couple» – der Integration beider Elternteile in die Arbeitswelt – schon seit längerer Zeit etabliert. Beide Eltern sollen möglichst Vollzeit arbeiten, um eigenverantwortlich ihr Leben zu verdienen, während die staatlichen Leistungen ausgedünnt oder abgeschafft werden.
Der Ruf nach der weiblichen Arbeitskraft hat nichts mit einem emanzipierten, selbstbestimmten Leben zu tun: Es geht nicht darum, den Frauen in der Arbeitswelt die gleichen Rechte wie den Männern einzuräumen oder ihnen einen Lohn zu bezahlen, mit dem sie eine Familie ernähren könnten.
Will die Wirtschaft mehr Arbeitnehmerinnen, dann nur, um den Profit des Unternehmens oder die Wirtschaftskraft des Landes zu steigern.
Und wer fragt die Kinder?
Bemerkenswert ist, dass bei der ganzen Vereinbarungsdebatte das Wohl der Kinder nicht im Zentrum steht. Noch vor 20 Jahren wurden Kinder bemitleidet, die eine Krippe besuchen mussten. Heute werden Eltern schräg angeguckt, die ihre Kinder nicht fremdbetreuen lassen – obwohl eine Studie aus dem Jahre 2012 die Qualität in Schweizer Kitas sogar als «durchzogen» beurteilt.
Es fehle an Personal und finanziellen Ressourcen, um eine qualitative Betreuung zu gewährleisten. Es ist falsch, dass sich Familien den Bedürfnissen der Arbeitgeber unterordnen müssen. Kinder sollen nicht weggebracht, fremdbetreut und rumgeschoben werden, nur damit ihre Eltern als Arbeitskräfte verfügbar sind.
Es muss umgekehrt sein: Die Arbeitswelt muss sich den familiären Bedürfnissen anpassen. In einer familienfreundlichen Gesellschaft darf die Vereinbarung von Beruf und Familie nicht dazu führen, dass Väter wie Mütter 100 Prozent arbeiten.
Eher sollten sich Eltern für ein Familienmodell entscheiden, das ihnen am besten behagt: Wer von beiden weniger, gar nicht oder voll arbeitet, ist Privatsache. Ebenso, ob beide einem Teilzeitjob nachgehen. Das zu ermöglichen, wäre Aufgabe des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, die daran interessiert sein müssten, die Burnout-Diagnosen der angestellten Bevölkerung so niedrig wie möglich zu halten.
Es wäre deshalb klug, einmal grundsätzlich über unsere Arbeitsstunden nachzudenken. Die Schweiz gehört zu den Ländern mit den höchsten Präsenzzeiten. Doch ist es tatsächlich sinnvoll, dass ein Arbeitstag acht oder achteinhalb Stunden dauert, wenn neurologische Studien beweisen, dass Menschen nicht mehr als vier Stunden täglich konzentrationsfähig sind?
Würde es mit einem Arbeitstag von fünf oder sechs Stunden nicht ebenso gut funktionieren? In Göteborg experimentieren Unternehmen seit Kurzem mit einem Sechs-Stunden-Arbeitstag – bei gleichem Gehalt. Angestellte eines Pflegeheims, eines Krankenhauses, einer Fabrik und eines Tech- Start-ups arbeiten nur 30 Stunden pro Woche.
Noch vor 20 Jahren wurden Kinder bemitleidet, die eine Krippe besuchen mussten.
Das Resultat lässt auf horchen: Die Angestellten sind nicht nur motivierter und weniger erschöpft, sondern auch zufriedener, weil mehr Zeit für die Familie bleibt. Apropos Skandinavien: Die Dänen – die 35-Stunden-Woche ist dort wie übrigens auch in unserem Nachbarland Frankreich längst die Regelstufen Familienleben und Freizeit höher ein als ihre Arbeit.
Wer meint, in Dänemark seinem Chef mit langen Arbeitsstunden zu imponieren, sei auf dem Holzweg, schreibt Rahel Leupin, eine Doktorandin, die an der Universität Roskilde arbeitet und mit ihrer Familie seit zwei Jahren in Dänemark lebt, in einem Blog des «Tages-Anzeiger».
Tue man das, trete das Gegenteil ein, man ernte besorgte Blicke von Kollegen und vielleicht sogar eine Verwarnung des Vorgesetzten, doch bitte die Familien- und Freizeit zu wahren. Spätestens um 16 Uhr wird die Bürotüre ganz selbstverständlich zugemacht – übrigens auch vom Chef.
In Dänemark sorgt es noch nicht einmal für Erstaunen, wenn die Chefin der IT-Abteilung einer grossen Bank jeden Tag um 14.30 Uhr verschwindet, weil sie vier Kinder hat. Ja, Sie haben richtig gelesen: die Chefin der IT-Abteilung. Vier Kinder. Geht um halb drei nach Hause. In der Schweiz ist das die Zeit, in welcher der Sitzungsmarathon in vollem Gange ist