Kinder unter Druck

Fast täglich hören wir Berichte über Druck, Stress und Burnout – und immer öfter scheinen bereits Kinder darunter zu leiden. Warum ist das so? Und was hilft gegen zu viel Druck?
Das Wichtigste zum Thema
Fordert eine Mutter ihr Kind zu wenig, wenn dieses statt der Klavierstunde oder des Sprachunterrichts einfach bloss spielt, wenn es aus der Primarschule kommt? Reale Bedrohungen gibt es in unserem Leben in der Schweiz nicht mehr. Es geht uns und unseren Kindern grundsätzlich gut und doch plagen uns Ängste und Sorgen, die eng mit überfordernden Erwartungen zusammenhängen, die sich die Gesellschaft selbst auflädt. Das führt zu enormem Druck. Fabian Grolimund beschreibt im Text diese bedenklichen Muster und verrät einen einfachen Trick, wie man sich diesem Druck entziehen kann. Hand aufs Herz: Wie sieht es bei Ihnen aus mit Druck aus Ihrem Umfeld? Wie reagieren Sie selbt, wie Ihre Kinder?
Bis heute fällt es mir schwer, nachzuvollziehen, warum Stress und Burnout die grossen Themen unserer Zeit zu sein scheinen. Hatten unsere Vorfahren nicht mit Problemen ganz anderen Kalibers zu kämpfen? Wenn unsere Grosseltern von früher erzählen, dann tauchen Themen auf wie Armut oder die Anforderung, sechs Kinder durchzubringen. Es wird vom Krieg erzählt und von Krankheiten, gegen die wir uns heute impfen können, die früher aber zum Tode führten.
Auch unsere Eltern hatten es oft nicht leicht. Mein Vater erzählt von der Zeit im Internat mit Geistlichen, die beim kleinsten Vergehen zum Rohrstock griffen. Von Strafen, Härte und Gefühlskälte.
Wie schön scheinen es im Vergleich dazu wir und unsere Kinder zu haben. Wir müssen nicht um unser Leben bangen. Unsere Kinder werden in der Schule nicht geschlagen, wenn sie die Hausaufgaben vergessen. Die realen Bedrohungen von früher haben für die meisten von uns hier in der Schweiz abgenommen.
Das, was wir am meisten schätzen, setzt uns oft am meisten unter Druck.
Freiheit
Wenn wir diese Fragen lesen, merken wir gleich: Freiheit bedeutet Stress! Denn wir müssen uns entscheiden. Die Angst, die falsche Option zu wählen, wächst mit den verfügbaren Möglichkeiten. Oft fühlen wir uns blockiert, weil wir nicht in der Lage sind, eine Entscheidung zu treffen.
Manche Menschen sind immer latent auf der Suche.
Früher war für viele Kinder der Weg vorgezeichnet – sie sind in die Fussstapfen der Eltern getreten. Sie haben den Hof, den Betrieb, das Handwerk übernommen. Heute haben wir als Eltern nicht die leiseste Ahnung, was aus unseren Kindern einmal werden wird. Vielleicht werden sie einen Beruf ergreifen, der heute nicht einmal existiert. Wie also sollen wir sie auf die Zukunft vorbereiten?
Nach einem Vortrag fragte mich eine Mutter: «Meine Tochter ist in der ersten Klasse und möchte nach der Schule einfach nur spielen, in den Garten gehen, sich um die Tiere kümmern und ihre Freundinnen treffen. Ich habe mich so erschrocken, als ich gehört habe, was die anderen Kinder in ihrer Klasse alles machen. Die anderen Eltern meinten, es sei doch wichtig, dass ein Kind ein Instrument lernt und Sport macht. Ich habe Angst, dass ich meine Tochter zu wenig fördere.»
Potenzialentfaltung
Sehnsüchtig suchen wir auf der ganzen Welt nach Musterbeispielen. Nach Finnlands Pisa-Sieg im Jahr 2000 tingelten ganze Expertenscharen dorthin und berichteten von einer besseren Welt. Experten, Eltern und Lehrer waren und sind sich einig: Dort gelingt es. Andere Länder wie Deutschland und die Schweiz haben dagegen «Nachholbedarf».
Solche Berichte haben etwas Bewegendes. Sie berühren und beflügeln uns. Manchmal sind sie ein Trost in schwierigen Zeiten. Sie geben uns das Gefühl: In meinem Kind könnte noch ganz vieles stecken – wir müssen es nur finden und zur Entfaltung bringen. Misstöne werden dabei gerne zur Seite gewischt. Wie beispielsweise die Schülerbefragung im Rahmen einer gross angelegten Studie der Unicef aus dem Jahr 2007, die zeigte: In keinem anderen Land geben weniger Schülerinnen und Schüler an, gerne zur Schule zu gehen, als in Finnland.
Wir glauben, dass in jedem Kind ein Genie steckt.
Es scheint gar keine Option zu sein, sich mit weniger als dem Maximum zufrieden zu geben. Auf dem Weg zum Bahnhof mit zwei Teilnehmerinnen einer Weiterbildung erzählte eine Lehrerin, dass ihr Sohn nun endlich eine Lehrstelle in seinem Traumberuf gefunden habe. Darauf sagte die andere Teilnehmerin: «Ja – und heute mit dem dualen Bildungssystem kann er dann ja immer noch die Berufsmatura machen und sich weiterqualifizieren.» Ich nickte und sagte in gewohnter Manier: «Ja, da haben wir in der Schweiz wirklich Glück.» Die Mutter sah uns genervt an und erwiderte: «Er macht jetzt einfach diese Lehre! Ihm gefällt’s. Das reicht. Jedes Mal, wenn ich davon erzähle, kommen mir die Leute gleich mit ‹Er kann ja dann immer noch…›.»
Wer am Wochenende und in den Ferien lieber zu Hause bleibt, als seinen Horizont zu erweitern, wer seinen Job gut und gern genug macht, anstatt sich permanent nach dem nächsten Karrieresprungbrett umzusehen, wer dankbar ist, dass die Kinder gesund und zufrieden sind, ohne etwas Aussergewöhnliches zu sein, wer zugibt, dass man als Paar ein gutes Team ist, aber nicht jeden Tag von Leidenschaft gepackt wird, wirkt auf andere rasch etwas armselig.
Und dennoch: Zumindest in manchen Bereichen weniger zu wollen und sich und seinen Kindern zu erlauben, durchschnittlich, gewöhlich, langweilig oder einfach «gut genug» zu sein, ist vielleicht gar kein schlechtes Mittel gegen zu viel Druck.