Mit Kindern über Ängste sprechen
«Mensch, Nicole, man hat doch nicht jedes Mal Bauch- und Kopfweh, wenn man zu einer Geburtstagsparty eingeladen ist. Jetzt sag doch einfach, was mit dir los ist!»
Das Wichtigste zum Thema
Nicole möchte nicht auf die Geburtstagsparty eines Klassenkameraden. Jonas fürchtet sich vor dem Ausflug ins Alpamare, zu dem er von einem Freund und dessen Eltern eingeladen wurde. Wenn Kinder Angst vor einer Situation haben, versuchen Eltern häufig, Ratschläge zu erteilen. Doch gut gemeint ist nicht zwingend gut gemacht. Fabian Grolimund zeigt an zwei Beispielen, wie Eltern ihrem Kind einfühlsam und unterstützend zur Seite stehen, die zugrundeliegenden Ängste erkennen und ein Angebot machen, das dem Kind Sicherheit gibt.
Wichtig: Auch die Frage «Warum macht dir das Angst?» hält der Psychologe für ungeeignet, um dem Kind zu helfen. Es gibt häufig kein logisches Argument, das die Angst begründet. Ein solches Hinterfragen kann dazu führen, dass sich das Kind verschliesst. Was Sie Ihr Kind stattdessen fragen sollten, erfahren Sie im vollständigen Text.
Ein Tipp des Autors:
Beobachten Sie Ihr Kind genau beim gemeinsamen Finden einer Lösung. So können Sie auf eine aufkeimende Anspannung direkt reagieren und Ihr Kind beruhigen.
Erhalten Sie im Beitrag weitere nützliche Tipps von Fabian Grolimund. Der Psychologe und Vater zweier Kinder weiss, wie Sie Ihrem Kind die Angst nehmen oder diese zumindest reduzieren können.
Oft steht uns als Eltern der Wunsch im Weg, unserem Kind möglichst rasch Erleichterung zu verschaffen, indem wir Ratschläge geben oder mit Argumenten gegen die kindliche Angst angehen. Damit verunmöglichen wir es dem Kind jedoch, in sich hineinzuhorchen und uns zu sagen, was es wirklich beschäftigt: Mutter: «… jetzt sag doch einfach, was los ist!»
Nicole: «Was mache ich, wenn auf der Party niemand mit mir spielen will?»
Mutter: «Florian würde dich doch nicht einladen, wenn er dich nicht mag.»
Nicole: «Die ganze Klasse ist eingeladen …»
Mutter: «Dann sind Sabrina und Mahide auch dabei – und mit denen verstehst du dich doch gut. Wie willst du denn Freunde finden, wenn du dich in deinem Schneckenhaus verkriechst?»
Es ist hilfreich, wenn wir uns in solchen Momenten als Forscher oder Entdecker sehen, die gemeinsam mit dem Kind seine Gefühlswelt auskundschaften. Dabei kann man an Orte geraten und Dinge sehen, die unangenehm sind. Gerade dann wird der Wunsch umso stärker, die Sache mit einem Tipp «zu regeln». Wenn wir diesem Drang widerstehen und weiter offen zuhören können, erfahren wir mehr.
Nicole: «Was mache ich, wenn ich dort bin und niemand mit mir spielen will?»
Mutter: «Hm … Warum meinst du denn, hat Florian dich eingeladen?»
Nicole: «Alle sind eingeladen – seine Mutter hat sicher gesagt, er müsse die gesamte Klasse einladen.»
Mutter:: «Sabrina und Mahide kommen in diesem Fall auch?»
Nicole: «Ja …»
Mutter: «Du hast trotzdem Angst, dass du am Ende alleine dastehst?»
Nicole: «Sabrina und Mahide haben den gleichen Schulweg wie ich – aber weisst du, wenn wir in der Schule sind, gehöre ich nicht wirklich dazu – dann sind sie mit Jessica und Svetlana zusammen.»
Widerstehen Sie dem Drang, die Ängste Ihres Kindes mit «guten Argumenten» zu widerlegen.
Wir Eltern treffen ständig Annahmen über die Welt unserer Kinder und glauben meist, recht gut im Bild zu sein. So ging Nicoles Mutter davon aus, dass ihre Tochter in der Klasse gut integriert ist und Sabrina und Mahide verlässliche Freundinnen ihrer Tochter sind. Erst ein offenes Ohr und die Annahme, «mein Kind würde keine Bauchschmerzen entwickeln, wenn es keinen triftigen Grund dazu gäbe», machten ihr bewusst, dass ihr Kind ziemlich isoliert war.
Auch beim Finden einer Lösung sollten wir unser Kind genau beobachten und bei Zeichen von Anspannung genauer nachfragen: Mutter: «Hm … du musst da nicht hingehen. Aber vielleicht wird es schön und du lernst die anderen besser kennen. Was würde dir helfen hinzugehen? Du könntest doch Florians Mutter sagen, dass du nach Hause willst – dann hole ich dich sofort ab.»
Nicole: «Ja …»
Mutter: «Überzeugt dich nicht, gell?»
Nicole: «Wenn die dann mit den anderen von der Klasse redet, wird es oberpeinlich.»
Mutter: «Und wenn du Papas Handy mitnimmst? Dann schleichst du dich aufs Klo, schreibst mir eine SMS, und ich hole dich sofort ab?»
Nicole: «Das fände ich gut.»
Ängste sind nicht rational
Manchmal erliegen wir auch dem Irrglauben, wir könnten Ängste bei anderen durch gut begründete Argumente wegdiskutieren. Damit erreichen wir jedoch nur, dass das Kind nicht mehr über seine Ängste spricht. Viele Ängste sind irrational – aber deswegen nicht weniger real. Dem Spinnenphobiker können wir noch so viele Beweise liefern, dass Spinnen ungefährlich sind. Er wird das alles bejahen – und sich trotzdem fürchten.
Es gibt daher eine Frage, die wir nicht stellen sollten: «Warum macht dir das Angst?» Kinder – und auch Erwachsene – kommen bei dieser Frage unnötig in Erklärungsnot. Eine bessere Frage ist: «Was könnte denn passieren?»
Fragen Sie «Was könnte denn passieren?» statt «Warum macht dir das Angst?».
Jonas, sieben Jahre alt, wurde von seinem Freund und dessen Eltern ins Alpamare eingeladen. Bereits zwei Wochen vor dem Besuch konnte er nicht mehr schlafen. Seinem Vater gelang es, mit dieser Frage genauer zu erfassen, wovor sich sein Kind fürchtet: Vater: «Hey … das macht dir ganz schön Angst, dieser Alpamare-Besuch, hm?»
Jonas: «…»
Vater: «Wenn man etwas noch nicht kennt, kann einem das schon Schiss machen. Was meinst du, was könnte denn passieren?»
Jonas: «Tanja hat gesagt, dass mal einer bei der Rutsche aus der Kurve gespickt ist …»
Vater: «Da weiss ich jetzt nicht, ob die Geschichte stimmt. Aber klar, dass dich das beunruhigt. Was hast du denn noch vom Alpamare gehört?»
Jonas: «Da gibt es ein Bad mit riesigen Wellen!»
Vater: «Ja, das Wellenbad … das findest du unheimlich …»
Jonas: «Ja, was, wenn mir die Wellen über den Kopf gehen und es mich untertaucht?»
Vater: «Weisst du was? Wir gehen dieses Wochenende einfach zu zweit hin und schauen uns das Ganze mal in Ruhe an. Wenn es dir Angst macht, gehen wir wieder und finden eine Ausrede, damit du nicht mitmusst. Einverstanden?»
Jonas war unter dieser Voraussetzung bereit, das Erlebnisbad auszukundschaften. Sein Vater setzte sich mit ihm an den Rand des Wellenbads, dort erkannte Jonas bald, dass «die Köpfe über den Wellen schwimmen». Die Rutschen wollte er benutzen, als er gesehen hatte, dass auch kleinere Kinder Spass daran haben. Sein Vater konnte ihm zusätzlich Angst nehmen, indem er beim Beobachten feststellte: «Aha, wenn man will, dass man nur langsam runterrutscht, muss man gerade sitzen – und wenn man will, dass es richtig schnell flutscht, kann man sich auf den Rücken legen.» Jonas entschied sich zuerst für die sichere Methode und wurde mit jeder Partie mutiger.
Das gute Gespräch über die Angst
- Fragen Sie bei Ängsten nicht nach dem «Warum». Kinder fühlen sich dadurch unter Druck gesetzt, ihre Ängste erklären oder rechtfertigen zu müssen.
- Die Frage «Was könnte da passieren?» und ein offenes Ohr helfen Kindern dabei, ihre Ängste genauer zu beschreiben.
- Die Frage «Was würde dir helfen?» ist eine Ermutigung, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Das Angebot, das Kind zu begleiten und zu unterstützen, wirkt mehr als gute Argumente.