«Eltern sollten ihre Angst bei sich selbst lassen» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Eltern sollten ihre Angst bei sich selbst lassen»

Lesedauer: 4 Minuten

Die Psychologin Anna Mathur ist Mutter von drei Kindern und leidet unter einer Angststörung. Sie sagt, wer starke Ängste habe, trage manchmal schweren emotionalen Ballast ins Familienleben. Und sie erzählt, was ihr geholfen hat.

Interview: Julia Meyer-Hermann
Bilder: Rawpixel

Frau Mathur, alle Eltern sorgen sich dann und wann um ihre Kinder. Doch welche Auswirkungen hat es auf die elterliche Alarmbereitschaft, wenn man ohnehin sehr oder sogar ­krankhaft ängstlich ist?

Stellen Sie sich eine Autoalarman­lage vor. Diese soll immer dann ausgelöst werden, wenn die Sicherheit des Autos bedroht ist. Jetzt stellen Sie sich vor, dass der Alarm jedes Mal losgeht, wenn jemand einfach vorbeigeht oder ein Luftzug das Metall streift.

Die Alarmanlage ­würde dann auf Dinge reagieren, die keine Bedrohung darstellen, und uns mit ihrem unnötigen Alarm stören und beunruhigen. Elterliche Angst kann so sein. Wenn unser Nervensystem ohnehin angespannt und gestresst ist, kann es leichter passieren, dass Angst in uns aufsteigt, obwohl es keine tatsächliche Bedrohung gibt. 

Woran erkennt man, dass man nur gedanklich Angstgebilde auftürmt? 

Die Auslöser entspringen oft nicht einer Gefahrensituation, sondern dem Kopfkino. Wir lesen vielleicht etwas über eine Krankheit, und dann beginnen die Gedanken zu einem Szenario zu eilen, das bislang nicht eingetreten ist und möglicherweise nie eintreten wird.

Anna Mathur ist Psychologin und Psychotherapeutin. Die Mutter von drei Kindern leidet unter einer Angst­störung und Panikattacken. Auf Instagram postet die Britin zu psychischer Gesundheit und Mutterschaft. Sie schreibt Bücher, hat einen eigenen Podcast und gibt Webinare unter annamathur.com

Das Nervensystem reagiert darauf, weil unserem Körper nicht bewusst ist, ob dieses Szenario real oder eingebildet ist. Wenn wir Angst erleben, befinden wir uns in einem hyperwachsamen und schützenden Zustand. Unser Geist und unser Körper konzentrieren sich darauf, alles zu tun, um die Sicherheit wieder­herzustellen.

Mit welchen Folgen?

Wenn wir permanent in diesem Zustand sind, entwickelt sich Angst von einem sinnvollen Schutzmechanismus zu etwas, das unsere Fähigkeit behindert, präsent zu sein und unser Leben zu geniessen.

Angst verbraucht viel gedanklichen Raum und Energie.

Jemand, der sich ständig ängstlich fühlt, kann nicht lachen, sich ausruhen und den gegenwärtigen Moment aufnehmen. Angst verbraucht viel gedanklichen Raum und Energie. Deshalb ist es unglaublich wichtig, Techniken und ein mentales Handwerk für sich zu finden, um die Angst- und Anspannungsspirale zu beenden. 

Wie haben Sie selbst erkannt, dass Sie eine Angststörung haben? 

Ich habe irgendwann begriffen, dass ich ungeheuer viel Zeit damit verbrachte, über Worst-Case-Szenarien nachzudenken. Es ist ganz normal, dass wir nicht kontrollieren können, welche Gedanken uns in den Sinn kommen, beispielsweise «Mein Kind hat Kopfschmerzen, ich hoffe, es ist keine schwere Krankheit». Aber wir haben als Erwachsene die Möglichkeit, diese Gedanken als unbegründet einzuordnen.

Wir können entscheiden, wie ausgiebig und lange wir über solche Angst­gedanken grübeln. Ich konnte das zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr. Ich habe meinen ängstlichen Gedanken jede Menge Raum gegeben, sich in meinem Geist auszudehnen. Mein Körper, der nicht wusste, ob dieser Gedanke real oder eingebildet war, reagierte mit Stresshormonen und erhöhtem Herzschlag.

Ich wollte dem etwas ent­gegensetzen und habe ständig Massnahmen ergriffen, um eine nicht existente Situation zu kontrollieren. So habe ich beispielsweise ständig die Temperatur meines ­Kindes gemessen. Es ist meine Mission, Eltern wissen zu lassen, dass Angst in der Elternschaft zwar weit verbreitet ist, aber nicht etwas sein muss, dass sie daran hindert, Freude, Präsenz und Ruhe zu erfahren.

Sie haben als Kind Ihre Schwester wegen einer Krebserkrankung verloren. Wie geht man mit solch einer Erfahrung um?

Wenn jemand ein traumatisches Ereignis erlebt hat, kann es schwierig sein, sich selbst zu versichern, dass «das Schlimmste wahrscheinlich nicht passieren wird». Man hat ja abgespeichert, dass das eigene Leben berührt, herausgefordert oder verändert wurde. Es ist dann sinnvoll, sich Unterstützung bei der Verarbeitung des Traumas zu holen, um der damit verbundenen Angst etwas entgegenzusetzen. Meine Ängste beruhen oft auf dem Gedanken, dass bei meinen Kindern oder mir selbst Krebs auftritt. Ich habe meinen traumatischen Verlust mit einer Therapie aufgearbeitet. Das war sehr hilfreich.

Viele Eltern raten sich selbst, weniger ängstlich und helikoptermässig zu agieren. Können das Angst­patienten? 

Ängstliche Eltern finden es möglicherweise schwieriger, aufkom­mende Sorgen zu rationalisieren. Es bringt aber nichts, sich dann zusätzlichen Druck zu machen. Es ist ­wichtig, dass wir lernen, Angst mit einem forschenden und mitfühlenden Geist zu beobachten.

Das Anschreien eines ängstlichen Kindes lindert die Angst dieses Kindes ja auch kein bisschen. Es hilft, wenn wir freundlich auf das Kind zugehen und fragen, wovor es sich fürchtet, und versuchen, es zu unterstützen und zu trösten. So sollten wir auch unserer eigenen Angst begegnen. 

Versuchen Sie, Ihre Angst vor Ihren Kindern zu verbergen? 

Angst ist ein Teil des Lebens. Wir alle erleben manchmal Angst. Wir sollten unseren Kindern – auf altersgerechte Weise – zeigen, wie wir mit Sorgen umgehen. Sie sollen sehen, wie wir konstruktiv auf Angst reagieren können. Viele Eltern fragen mich, wie sie es schaffen können, ihre Angst nicht auf ihr Kind zu übertragen.

Betrachten Sie Ihre Selbstfürsorge als gute Investition. Ihr Geist, Ihr Körper und Ihre Kinder werden davon profitieren.

Meine Antwort ist immer, dass sie versuchen müssen, die Angst vorrangig bei sich selbst zu lassen! Unsere Kinder erwarten von uns, dass sie sich sicher fühlen, genauso wie wir von einem Flugzeugpiloten erwarten, dass er uns sicher durch Turbulenzen bringt. Wenn ich ohne Begründung ängstlich wirke, wird mein Kind sich auch diffus ängstlich fühlen. Wenn wir auf gesunde ­Weise mit Angst umgehen, werden unsere Kinder das auch lernen und sich sicher fühlen.

Wie lautet Ihr persönlicher ­Erste-Hilfe-Tipp, wenn Ängste zu viel mentalen Raum einnehmen?

Holen Sie sich Unterstützung! Schämen Sie sich nicht für Ihren Zustand. Sprechen Sie mit einem Freund oder einer Freundin. Wenn Ihr Anspruch an das Wohlbefinden Ihres Kindes hoch ist, muss auch Ihr Anspruch an Ihr eigenes emotionales Wohlbefinden hoch sein.

Warten Sie nicht, bis Sie Ihre Angst für «schlimm genug» halten, um sich Hilfe zu holen. Betrachten Sie Ihre Selbstfürsorge als gute Investition. Ihr Geist, Ihr Körper und Ihre Kinder werden davon profitieren, wenn Sie Wege finden, sich zu beruhigen und zu verankern.

Julia Meyer-Hermann
lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Hannover. Ihre Schwerpunkte sind Wissenschafts- und Psychologiethemen.

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