Der enteignete Vater
Mit einem Kind ist das eigene Leben nicht mehr Privatsache, schreibt Lukas Linder und fragt sich, warum er nicht früher Vater wurde.
Als unser Sohn auf die Welt kam, war ich 36 Jahre alt. Heute bin ich sogar noch älter. Mein Haar ist aus genetischen Gründen schon fast vollständig ergraut, und wenn ich mit meinem Sohn unterwegs bin, halten mich die Leute manchmal für seinen Opa. Das stört mich aber nicht. Denn als Opa werde ich viel milder beurteilt.
Wenn unser Sohn beispielsweise auf dem Spielplatz vom Kletterturm stürzt oder auf der Strasse beinahe von einem Lastwagen überfahren wird, schreiben sie das meiner Altersschwäche zu und nicht schlampiger Aufmerksamkeit. Kaufe ich ihm Eis oder Zuckerwatte, finden sie mich nicht verantwortungslos, sondern rührend. Und wenn ich ihm die Leviten lese, sehen sie keinen überforderten Psycho-Dad mal wieder die Beherrschung verlieren; nein, es ist die alte Garde, die ein Machtwort spricht. Ja, so ist es. Hätte ich keine grauen Haare, ich würde sie mir färben.
Ab 40 nehmen tödliche Leiden dramatisch zu. Was Panikattacken verursacht.
Etwas anderes bereitet mir viel mehr Kopfzerbrechen. Ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem viele Krankheiten immer realistischer werden. Echte Krankheiten. Nicht diese Erkältung, die ich mit mir herumschleppe, seit unser Sohn in den Kindergarten geht. Ich spreche von Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall. Rein statistisch gesehen nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass mich ein tödliches Leiden ereilt, ab dem 40. Lebensjahr dramatisch zu.
Mit anderen Worten: Ich kann jetzt eigentlich jederzeit sterben. Das verursacht Panikattacken und / oder körperliche Untersuchungen. So habe ich neulich, wiederum aus genetischen Gründen, eine Darmspiegelung gemacht. «Schönen Dank auch», zischte ich meinem Sohn zu, während ich die drei Liter Abführmittel herunterwürgte, um dann die Nacht auf der Toilette zu verbringen.
Ein Druck, den man Verantwortung nennt
Aber was meinte ich eigentlich damit? Mein Sohn kann doch nichts dafür, dass ich eine Darmspiegelung machen muss. Als ich noch alleine gelebt habe, war mein Leben Privatsache. Ich erinnere mich, wie ich während meiner Studienzeit an einem weinseligen Abend die steile Treppe eines Restaurants heruntergestürzt bin.
Es war dunkel und die Stiege eine dieser Wendeltreppen, wie man sie von Ritterburgen kennt. Ich hätte mir das Genick brechen können, tat es jedoch zufälligerweise nicht. Dass man sterben könnte, war mir nie in den Sinn gekommen. Und wenn, dann hätte es mich auch nicht weiter bekümmert. «Wenn ich sterbe, so sterbe ich eben», tönte ich selbstgefällig und öffnete die nächste Flasche.
Mein Leben gehört jetzt auch meiner Frau und meinem Sohn. Es liegt in ihrem Interesse, dass ich am Leben bleibe.
Mit der Geburt unseres Sohnes wurde ich gefühlsmässig enteignet. Mein Leben gehört jetzt auch meiner Frau und meinem Sohn. Es liegt in ihrem Interesse, dass ich am Leben bleibe, zumindest bis die Wohnung abbezahlt ist und mein Sohn sich im Besitz sämtlicher Matchbox-Autos befindet.
Wahrscheinlich ist dieser Druck genau das, was man Verantwortung nennt. Es ist das so schöne wie beklemmende Gefühl, dass unser Leben einen Sinn hat. Also mache ich all die Darmspiegelungen und Blutuntersuchungen, die EKGs und MRIs. Ich ernähre mich gesund. Ich treibe sogar Sport – oder habe es zumindest vor. Nur meine Haare färbe ich nicht. Manchmal frage ich mich: Warum nur bin ich nicht schon viel früher Vater geworden? Dann denke ich an mein altes Ich und es kommt mir wieder in den Sinn: Ach ja, darum.