Der enteignete Vater
Merken
Drucken

Der enteignete Vater

Lesedauer: 2 Minuten

Mit einem Kind ist das eigene Leben nicht mehr Privatsache, schreibt Lukas Linder und fragt sich, warum er nicht früher Vater wurde.

Text: Lukas Linder
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Als unser Sohn auf die Welt kam, war ich 36 Jahre alt. Heute bin ich sogar noch älter. Mein Haar ist aus genetischen Gründen schon fast vollständig ergraut, und wenn ich mit meinem Sohn unterwegs bin, halten mich die Leute manchmal für seinen Opa. Das stört mich aber nicht. Denn als Opa werde ich viel milder beurteilt.

Wenn unser Sohn beispielsweise auf dem Spielplatz vom Kletterturm stürzt oder auf der Strasse beinahe von einem Lastwagen überfahren wird, schreiben sie das meiner Altersschwäche zu und nicht schlampiger Aufmerksamkeit. Kaufe ich ihm Eis oder Zuckerwatte, finden sie mich nicht verantwortungslos, sondern rührend. Und wenn ich ihm die Leviten lese, sehen sie keinen überforderten Psycho-Dad mal wieder die Beherrschung verlieren; nein, es ist die alte Garde, die ein Machtwort spricht. Ja, so ist es. Hätte ich keine grauen Haare, ich würde sie mir färben.

Ab 40 nehmen tödliche Leiden dramatisch zu. Was Panikattacken verursacht.

Etwas anderes bereitet mir viel mehr Kopfzerbrechen. Ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem viele Krankheiten immer realistischer werden. Echte Krankheiten. Nicht diese Erkältung, die ich mit mir herumschleppe, seit unser Sohn in den Kindergarten geht. Ich spreche von Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall. Rein statistisch gesehen nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass mich ein tödliches Leiden ereilt, ab dem 40. Lebensjahr dramatisch zu.

Mit anderen Worten: Ich kann jetzt eigentlich jederzeit sterben. Das verursacht Panikattacken und / oder körperliche Untersuchungen. So habe ich neulich, wiederum aus genetischen Gründen, eine Darmspiegelung gemacht. «Schönen Dank auch», zischte ich meinem Sohn zu, während ich die drei Liter Abführmittel herunterwürgte, um dann die Nacht auf der Toilette zu verbringen.

Ein Druck, den man Verantwortung nennt

Aber was meinte ich eigentlich damit? Mein Sohn kann doch nichts dafür, dass ich eine Darmspiegelung machen muss. Als ich noch alleine gelebt habe, war mein Leben Privatsache. Ich erinnere mich, wie ich während meiner Studienzeit an einem weinseligen Abend die steile Treppe eines Restaurants heruntergestürzt bin.

Es war dunkel und die Stiege eine dieser Wendeltreppen, wie man sie von Ritterburgen kennt. Ich hätte mir das Genick brechen können, tat es jedoch zufälligerweise nicht. Dass man sterben könnte, war mir nie in den Sinn gekommen. Und wenn, dann hätte es mich auch nicht weiter bekümmert. «Wenn ich sterbe, so sterbe ich eben», tönte ich selbstgefällig und öffnete die nächste Flasche.

Mein Leben gehört jetzt auch meiner Frau und meinem Sohn. Es liegt in ihrem Interesse, dass ich am Leben bleibe.

Mit der Geburt unseres Sohnes wurde ich gefühlsmässig enteignet. Mein Leben gehört jetzt auch meiner Frau und meinem Sohn. Es liegt in ihrem Interesse, dass ich am Leben bleibe, zumindest bis die Wohnung abbezahlt ist und mein Sohn sich im Besitz sämtlicher Matchbox-Autos befindet.

Wahrscheinlich ist dieser Druck genau das, was man Verantwortung nennt. Es ist das so schöne wie beklemmende Gefühl, dass unser Leben einen Sinn hat. Also mache ich all die Darmspiegelungen und Blutuntersuchungen, die EKGs und MRIs. Ich ernähre mich gesund. Ich treibe sogar Sport – oder habe es zumindest vor. Nur meine Haare färbe ich nicht. Manchmal frage ich mich: Warum nur bin ich nicht schon viel früher Vater geworden? Dann denke ich an mein altes Ich und es kommt mir wieder in den Sinn: Ach ja, darum.

Lukas Linder, Kolumnist

Lukas Linder
studierte Germanistik und Philosophie. Der Dramatiker und Buchautor («Der Letzte meiner Art», «Der Unvollendete») hat einen Sohn und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.

Alle Artikel von Lukas Linder

Mehr zum Thema Väter

Haustier zu Weihnachten: Mädchen sitzt mit Hund vor Christbaum
Advertorial
Ein Haustier als tierisches Weihnachtsgeschenk?
Ein Haustier als Xmas-Geschenk? Für Eltern ist es verlockend, diesem Wunsch nachzugeben. Doch ist das eine gute Idee?
Illustration von Lukas Linder, er ist Vater eines Sohnes und schreibt eine Kolumne für Fritz+Fränzi.
Elternblog
Unsere Worte als Eltern hinterlassen Spuren
Die meisten Ratschläge seiner Mutter hat Lukas Linder sofort vergessen. Bis auf einen. Dieser prägt unseren Kolumnisten bis heute.
Illustration von Lukas Linder, er ist Vater eines Sohnes und schreibt eine Kolumne für Fritz+Fränzi.
Elternblog
Warum tanzt er denn nicht?
Ausgerechnet am Tag seines grossen Theaterauftritts hat der Sohn unseres Kolumnisten Lukas Linder einen Ausschlag.
Väter: 6 Eigenschaften, die Männer zu einem guten Vater machen
Entwicklung
6 Eigenschaften, die Männer zu einem guten Vater machen
Viele Eltern teilen sich heutzutage die Familienarbeit – zum Wohl des Kindes, denn Väter erziehen anders als Mütter.
Illustration von Lukas Linder, er ist Vater eines Sohnes und schreibt eine Kolumne für Fritz+Fränzi.
Elternblog
Nichts, wofür man sich schämen muss
Unser neuer Kolumnist Lukas Linder fragt sich, ob es sich steuern lässt, wie der Sohn den Vater in Erinnerung behält. Und wenn nein, was dann?
Geld
«Unverheiratete Mütter gehen grosse ­Risiken ein»
In einer Studie hat die Swiss Life den Gender Pension Gap untersucht. Andreas Christen erklärt, wie Mütter sich besser absichern können.
Familienleben
Väter würden gerne weniger arbeiten
Die Swiss Life untersucht in einer Studie die Gender Pension Gap in der Schweiz. Unverheiratete Mütter sind in Sachen Vorsorge oft im Nachteil. Und: Väter arbeiten mehr, als sie eigentlich gerne würden.
Sexualität
Erziehung
«Viele haben die Scham ihrer Eltern übernommen»
Sexualpädagogin Nadia Kohler plädiert für einen unverkrampften, ganzheitlichen Umgang mit dem Thema Sexualität. Dabei nimmt sie vor allem die Väter in die Pflicht.
Fabian Grolimund Kolumnist
Blog
Liebe Väter, ich bin sauer!
Nur wenige Männer machen vom Vaterschaftsurlaub ­Gebrauch. Haben Väter noch immer nicht kapiert, wie wichtig sie für ihre ­Kinder sind?
Vaeter
Elternbildung
«Wir Väter sind immer noch nicht mutig genug»
Der Vätercoach und Buchautor Carsten Vonnoh über belastete Männer, was diese tun müssen, um besser in ihrer Vaterrolle anzukommen – und was sie von den Müttern ihrer Kinder einfordern sollten.
Daniel Paquette: Die unterschätzte Rolle der Väter
Familienleben
Die unterschätzte Rolle der Väter
Wie sich die kindlichen Bindungen an beide Elternteile unterscheiden und ergänzen.
Väter in Teilzeit
Familienleben
Väter in Teilzeit
Immer mehr Männer reduzieren ihr Arbeitspensum zugunsten der Familienzeit. So funktioniert das Modell im Alltag von Vätern.
Väterbarometer: «Bereuen Sie es
Familienleben
«Bereuen Sie es, Vater zu sein?» und 10 weitere Fragen
Väter sind für die Entwicklung eines Kindes genauso wichtig wie Mütter. Wie aber nehmen Väter ihre Rolle selber wahr? Antworten im grossen Väterbarometer.
Familienleben
8 Papas erzählen
Lesen Sie hier die wichtigsten Ansichten und prägnantesten Aussagen von acht Papas, die zur Fokusgruppe Väterbarometer gehören.
Mein Vater – der Held
Blog
Mein Vater – der Held
Vatertag: Ich schwelge ich in Erinnerungen an meinen Vater, der nicht mehr lebt. Wie gerne würde ich jetzt zu ihm fahren und ihm Blumen überreichen.
Fabian Grolimund Kolumnist
Blog
Wenn Väter präsent sind, gewinnen alle
Mütter gelten als die wichtigsten Bezugspersonen ihrer Kinder. Dabei sind Väter genauso fähig. Sie sollten aber selber aktiv werden.
Heute wohne ich bei Papa
Familienleben
Heute wohne ich bei Papa
Heute haben immer mehr Männer das Ziel, auch nach einer Trennung im Leben ihrer Kinder präsent zu bleiben.
Mikael Krogerus Kolumnist
Familienleben
Excel-Parenting – wie Männer Familienarbeit lernen können
Mikael Krogerus erklärt was es mit dem «Excel-Parenting» auf sich hat und wie es sich von einer normalen Ämtli-Liste unterscheidet.
Familienleben
«Ich habe Vaterschaft nie als Last empfunden»
Seine ersten Kinder Isaac, 33, und Danielle, 32, erzog Dean Treml, 54, aus Sulz LU allein. Nachzügler Diego, 5, nun mit seiner Frau Romina, 37.
Familienleben
«Das Wochenende mit meiner Familie ist mir heilig»
Daniel Bissegger, 44, aus Dürnten im Zürcher Oberland ist in seiner Führungsposition bei einer Bank stark eingespannt. Als Vater will der Ehemann von Nathalie, 40, und Papa von David, 10, und Joline, 7, vor allem eines: nicht nur anwesend, sondern präsent sein.
Väter das Tor zur Aussenwelt
Familienleben
«Früher waren Väter das Tor zur Aussenwelt»
Europas bekanntester Väterforscher Wassilios Fthenakis sagt, dass Väter anders erziehen als Mütter. Wo liegen die Unterschiede?
Familienleben
Papa-Tipps vom Profi
Väterforscher und Vater Wassilios Fthenakis sagt, was Männern im Alltag helfen kann, ihre Beziehung zum Nachwuchs zu stärken.
Papa im Fokus
Familienleben
Fokus Väter: Papa im Mittelpunkt der Familie
Im Mittelpunkt der Familie: Wie Männer mit alten Mustern brechen, um neue Wünsche und Erwartungen zu erfüllen.
«Wie bringt man alles  unter einen Hut?»
Familienleben
«Wie bringt man alles unter einen Hut?»
Thomas Jakob, 36 ist Interaction-Designer, seine Frau ­Sekundarlehrerin. Der Vater von Malea, 7, und Luano, 3, will Familie und Job unter einen Hut bringen.
Elternbildung
Manche Väter finden ihren Platz nicht
3 Fragen an Remo Ryser, erster ­männlicher Berater bei der Mütter- und Väterberatung Kanton Bern, zur Rolle heutiger Väter.