«Ich freue mich so auf sie, doch meine Tochter ist nur traurig»
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«Ich freue mich so auf sie, doch meine Tochter ist nur traurig»

Lesedauer: 5 Minuten

Eine Mutter weiss nicht mehr weiter. Ihre sechsjährige Tochter hat bei den ­Übergaben vom Vater zu ihr auch ein Jahr nach der Trennung noch grosse Mühe.

Aufgezeichnet von Joëlle Amstutz
Bild: Adobe Stock

Mutter: Guten Tag. Etwas belastet mich sehr. Darf ich gleich erzählen?

Beraterin: Ja, sehr gern.

Mutter: Mich beschäftigt seit Längerem der Moment, wenn meine sechsjährige Tochter von ihrem Vater zu mir kommt. Sie verbringt jeweils eine Woche bei ihm und eine Woche bei mir. Die Übergabe ist immer sonntagabends um fünf Uhr. Wir sind seit mehr als einem Jahr getrennt, doch die Wechsel fallen ihr weiterhin total schwer. Sie ist dann richtig traurig, manchmal auch wütend. Diese Phase dauert oft einen Tag oder noch länger.  

Beraterin: Das tönt nach einer gros­sen Herausforderung für Sie beide.

Mutter: Ich verstehe meine Tochter ja auch, die Situation ist schwierig für sie. Gleichzeitig muss ich aufpassen, dass ich nicht allzu enttäuscht bin oder mich über sie nerve. Ich freue mich so auf sie, verstehe aber nicht, dass sie immer noch bei jeder Übergabe so aufgewühlt ist.

Starke Gefühle auf beiden Seiten

Beraterin: Sie wünschen sich also, dass die Übergänge sich normalisieren und ruhiger verlaufen, ohne diese starken Emotionen. Verstehe ich das richtig?

Mutter: Ja, genau. Ich fühle mich richtig schuldig, ihr das zuzumuten. Oft habe ich auch das Gefühl, alles falsch zu machen. Ich habe schon so viel versucht! Wir haben miteinander gesprochen, wir haben tolle Sachen unternommen, auch ruhige Momente verbracht, aber irgendwie scheint nichts zu helfen.

Ihre Tochter hat eine ganz andere Woche hinter sich als Sie. Da braucht es Zeit, bis Sie beide wieder zueinanderfinden.

Beraterin

Beraterin: Ich höre, dass es Ihnen wichtig ist, für Ihre Tochter da zu sein und sie bestmöglich zu unterstützen. Nun ist es aber auch so, dass es vielfach länger als erwartet dauert, bis Kinder Übergänge ohne Schwierigkeiten schaffen. Diese Zeiten sind belastet durch starke Gefühle sowohl aufseiten der Kinder wie auch aufseiten der Eltern.

Mutter: Genau! Ich merke, dass ich mich auch oft über ihren Vater aufrege. Wenn ich mit ihm darüber sprechen will, sagt er nur, dass sie dieses Problem bei ihm nicht habe. Er denkt, dass ich übertreibe und sie zu sehr verweichliche. Ich hingegen finde, dass er oft Dinge macht, die sie total erschöpfen, oder dass er sie zu lange vor dem Bildschirm sitzen lässt. Ich glaube, sie kommt immer wieder völlig übermüdet zu mir. Ich habe auch keine Ahnung, wie er die Übergänge vorbereitet.

Eine andere Umlaufbahn

Beraterin: Wichtig scheint mir, nicht zu unterschätzen, dass Ihre Tochter eine völlig andere Woche hinter sich hat als Sie. Vielleicht kann man das mit den Umlaufbahnen von Planeten vergleichen. Im normalen Alltag verlaufen diese ziemlich parallel, man kann ungefähr nachvollziehen, wo das Kind steht. Von einer Umlaufbahn kann zur anderen geschaut werden. Dies geht nach einer Woche beim anderen Elternteil nicht, das Kind hatte ganz andere Erlebnisse. Dies ist für Kinder nicht schlimm, doch es braucht Zeit, bis unterschiedlich verlaufene Umlaufbahnen wieder einigermassen parallel sind respektive – wie in Ihrem Fall – Sie und Ihr Kind sich einander wieder angenähert haben.

Mutter: Stimmt, das Bild passt gut. 

Es läuft besser, wenn ich offen und grosszügig gegenüber den Emotionen meiner Tochter und gleichzeitig bei mir selbst bin.

Mutter

Beraterin: Wenn ich Ihnen so zuhöre, erkenne ich verschiedene Themen, die wir genauer anschauen könnten. Einerseits die Frage, was Ihrer Tochter helfen könnte, die Wechsel ein bisschen leichter zu nehmen. Andererseits die Frage, wie Sie selbst mit Ihren eigenen Emotionen umgehen können. Und dann gibt es noch die unterschied­lichen Wahrnehmungen von Erziehung zwischen Ihnen und dem Vater. Welches Thema möchten Sie in unserem Gespräch vertiefen?

Mutter: Eigentlich möchte ich nicht über den Vater reden, das ist so energieraubend und ich weiss, dass ich da wenig Einfluss habe. Ich würde lieber darüber reden, wie ich selbst mit der Situation umgehen kann und wie ich meine Tochter besser unterstützen könnte.

Mehr Zeit für Übergänge

Beraterin: Gut, dann fokussieren wir uns auf Sie und Ihre Tochter, da sind Sie handlungsfähig. Wenn Sie zurückdenken: Gab es Übergänge, die besser verliefen? Und was machten Sie in diesen Situationen anders?

Mutter: Ich merke gerade, dass es oft mit meinen Erwartungen zu tun hat. Dass es besser geht, wenn ich meiner Tochter die Übergangszeit zugestehe und ich mir bewusst bin, dass nicht sofort alles perfekt laufen muss. Dann kochen meine Emotionen weniger hoch und ich bin entspannter.

Beraterin: Das ist sicher ein wichtiger Punkt. Wenn Sie Ihre Erwartungen an den Tag anpassen, könnte das einen grossen Unterschied machen. Was würde Ihnen noch dabei helfen, die Situation gelassener anzugehen?

Mutter: Hm, da fällt mir grad nichts mehr ein. 

Beraterin: Manchmal hilft es, wenn man sich vor der Übergabe Zeit nimmt, um sich innerlich vorzubereiten und auf die Situation einzustellen. 

Mutter: Stimmt, das könnte Druck aus der Situation nehmen. Dann würde ich mich nicht so ausgeliefert fühlen. 

Beraterin: Genau. Wie könnte das denn konkret aussehen?

Mutter: Ich trinke eine Tasse Tee und denke daran, dass Übergänge Zeit brauchen und die Gefühle meiner Tochter normal sind. 

Emotionen stabilisieren

Beraterin: Das klingt vielversprechend. Und mit welchen Gefühlen würden Sie Ihre Tochter am liebsten empfangen? 

Mutter: Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass es besser läuft, wenn ich offen und grosszügig gegenüber ihren Emotionen, gleichzeitig aber auch bei mir selbst bin. 

Beraterin: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie sich durch die Vorbereitung selbst emotional stabilisieren und so offener und grosszügiger mit den Gefühlen Ihrer Tochter umgehen können?

Mutter: Ja, ich glaube, wenn ich einen Schritt aus der Emotion mache, kann ich meine Tochter eher in ihren Gefühlen begleiten. 

Beraterin: Das glaube ich auch. Vielleicht können Sie das in den nächsten Wochen ausprobieren und schauen, ob sich etwas verändert. 

Mutter: Das mache ich gerne. Ich danke Ihnen für das Gespräch, es hat mir gutgetan. Das Bild der Umlaufbahnen trifft es für mich recht gut. Es zeigt, dass ich mit diesen Phasen leben muss. Wenn ich mich auf die Wiedersehen vorbereite und meine Erwartungshaltung ein bisschen runterschrauben kann, bin ich zuversichtlich, dass die Begegnungen wieder entspannter werden. 

Beraterin: Das ist ein toller Plan. Ich wünsche Ihnen alles Gute bei der Umsetzung!

Dieses Protokoll ist die stark verkürzte und auf das Wesentliche reduzierte Aufzeichnung eines längeren Beratungsgesprächs. Wir möchten damit einerseits Einblick geben in unsere Arbeit und andererseits den Leserinnen und Lesern Denkanstösse für ähnliche Fragestellungen vermitteln.

Yvonne Müller, Co-Leiterin Elternnotruf

Elternnotruf

Bei Themen rund um den Familien- und Erziehungsalltag ist der Verein Elternnotruf seit 40 Jahren für Eltern, Angehörige und Fachpersonen eine wichtige Anlaufstelle – sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Beratungen finden telefonisch, per Mail oder vor Ort statt. www.elternnotruf.ch 

An dieser Stelle berichten die Berater aus ihrem Arbeitsalltag.

Joëlle Amstutz
arbeitet seit 30 Jahren als Lehrerin in unterschiedlichen Schulstufen. Parallel dazu absolvierte sie einen Bachelor in Psychologie und einen CAS in systemisch-lösungsorientierter Beratung. Die Mutter eines 16-jährigen Sohnes arbeitet seit vier Jahren beim Elternnotruf.

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