In diesem Fall war es Mobbing.Wir haben uns häufig auf dem Pausenplatz geprügelt, dabei ab und zu auch eine blutige Nase geholt – ohne dass ich deshalb von Mobbing sprechen würde. Warum bezeichne ich diesen scheinbar harmlosen Streich als Mobbing? Ich tue es deshalb, weil ich die Hintergründe kenne, weil – so sehr ich mich dafür schäme – ich in diesem Beispiel alle Namen verändert habe ausser meinen eigenen.
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Mobbing: Und alle schauen weg

Was gehört zu einer schönen Kindheit? Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung sicher nicht. Warum mobben Kinder andere Kinder? Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind gemobbt wird? Und was können sie dagegen tun?
Text: Fabian Grolimund
Bild: John Larkin / Alamy Stock Photo
Das Wichtigste zum Thema
«Mobbing entsteht aus einer Gruppendynamik, bei der Kinder mit der Zeit bestimmte Rollen einnehmen. Es lässt sich daher nur lösen, wenn diese Dynamik durchbrochen wird», sagt Fabian Grolimund, Psychologe und Bestseller-Autor. Wer denke, es ginge bei Mobbing nur um eine Auseinandersetzung zwischen «Täter» und «Opfer», übersehe das wirkliche Problem und würde am falschen Punkt ansetzen.
- Eine Mobbingsituation entwickelt sich oft langsam und schleichend
- Meist merken alle Beteiligten lange Zeit nicht, was eigentlich geschieht.
- Mobber und Gemobbte finden langsam in ihre Rolle hinein und gewöhnen sich paradoxerweise daran, so dass die Gemeinheiten an Häufigkeit und Intensität zunehmen.
- Die Reaktionen des gemobbten Kindes werden als Rechtfertigung für weitere Gemeinheiten herangezogen
- Das Ausmass des Leids des gemobbten Kindes wird nicht wahrgenommen und der eigene Anteil daran verdrängt.
Die Fragen, die sich dabei aufdrängen sind:
Warum mobben Kinder andere Kinder? Um was geht es wirklich? Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind gemobbt wird? Und was können sie dagegen tun? Antworten auf diese Fragen und konkrete Anleitungen, wie eine Mobbingsituation entschärft werden kann, lesen Sie im gesamten Artikel.

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«Hallo Tobias, hast du ein paar Anrufe bekommen?» Alle lachen. «Ihr wart das. Etwa hundert Leute haben bei uns angerufen!» Tobias schluckt. Ihm wird klar, dass Silvan, Fabian und Thomas ihm wieder einen Streich gespielt haben. Auf der Messe, die die drei am Samstag besucht hatten, gab es die Möglichkeit, kostenlos ein Zeitungsinserat aufzugeben. Fabian meinte zu seinen Freunden: «Kommt, wir schauen die Telefonnummer von Tobias im Telefonbuch nach und schreiben rein, dass er eine kostenlose Nintendo-Konsole abzugeben hat.» Ein lustiger Streich? Oder bereits Mobbing?

Bild: Solina Images/Blend Images LLC /Gallery Stock
Irgendwann kam die Mutter nicht mehr. Sie hatte aufgegeben. Tobias war nun ganz allein.
«Das haben wir doch früher auch so gemacht!»
Vielleicht denken Sie: «Das haben wir früher doch auch gemacht.» Ja, das haben wir. Ich auch. Und es war gemein und falsch! Es sorgt dafür, dass einzelne Kinder leiden, ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl einbüssen und in schlimmeren Fällen diese Erlebnisse ihr ganzes Leben lang mit sich herumtragen, eine psychische Störung entwickeln und sich manchmal sogar das Leben nehmen.
Mobbing können wir nur verhindern, wenn wir alle, Lehrpersonen, Eltern und Kinder, anfangen, Verantwortung zu übernehmen. In diesem Dossier möchten wir Ihnen vermitteln, welche Mechanismen bei Mobbing am Werk sind, was uns daran hindert, Verantwortung zu übernehmen – und wie wir uns aus der Hilflosigkeit befreien können.
Es gibt kaum ein Kind, das während seiner Schulzeit nicht mit Mobbing in Berührung kommt. Davon bekommen Sie als Mutter, Vater oder Lehrperson meist wenig mit. Sogar wenn Kinder von anderen massiv schikaniert, ausgegrenzt, verprügelt und fertiggemacht werden, verkennen viele Eltern und Lehrpersonen das Problem.

Mobbing entsteht aus einer Gruppendynamik, bei der Kinder mit der Zeit bestimmte Rollen einnehmen. Es lässt sich daher nur lösen, wenn diese Dynamik durchbrochen wird. Wer denkt, es ginge nur um eine Auseinandersetzung zwischen «Täter» und «Opfer», übersieht das wirkliche Problem und setzt am falschen Punkt an. Ein Konflikt oder Streit zwischen Kindern entsteht meist aus einer bestimmten Situation heraus. Meist leiden beide Parteien darunter und sind froh, wenn die Auseinandersetzung beigelegt werden kann.
Eine Mobbingsituation entwickelt sich hingegen oft schleichend und nimmt langsam Fahrt auf. Meist merken alle Beteiligten lange Zeit nicht, was eigentlich geschieht. Sie finden langsam in ihre Rolle hinein und gewöhnen sich daran, dass die Gemeinheiten an Häufigkeit und Intensität zunehmen. Die Reaktionen des betroffenen Kindes werden dabei als Rechtfertigung für die weiteren Aktionen herangezogen. Das Ausmass des Leids des gemobbten Kindes wird dabei nicht wahrgenommen und der eigene Anteil daran verdrängt.

Das gesamte Ausmass wird erst deutlich, wenn man «nur» durch «und» ersetzt: Wir haben ihm die Schuhe versteckt und wir haben ihn bei der falschen Antwort ausgelacht und ihn beim Fussball ausgeschlossen und ihm gesagt, dass er stinkt, und den Stuhl «desinfiziert», auf dem er gesessen hat, und – ihm durch all das zu verstehen gegeben, dass wir ihn verachten.
Es ist, als würde aus der Gruppe heraus ein Ungeheuer beschworen, das niemand mehr alleine bändigen kann.
Im Gegensatz zu einem Konflikt zielt Mobbing darauf ab, einen anderen fertigzumachen, sein Leben zu vergiften. Es ist ein Gruppenphänomen, das durch ein extremes Machtungleichgewicht gekennzeichnet ist. Der Betroffene wird dabei wiederholt und systematisch von einer Gruppe gequält, erniedrigt, ausgeschlossen und attackiert, ohne die Möglichkeit zu haben, sich aus seiner Lage zu befreien.
Das gemobbte Kind beginnt sich in dieser Situation zu verändern. Manche ziehen sich zurück, wirken still, ängstlich und apathisch. Andere werden aggressiv, entwickeln eine «dünne Haut» und explodieren. Das Kind beginnt «komisch» zu wirken, es scheint das Mobbing durch sein Verhalten auf sich zu ziehen.
In dieser Situation braucht das Kind unbedingt Hilfe von aussen. Es braucht Erwachsene, die sehen und erkennen wollen, was vorgeht, klar Stellung gegen das Mobbing beziehen, wissen, was sie tun, und gemeinsam mit den Kindern eine Lösung entwickeln. Ungünstige Einstellungen, Ängste, Unsicherheiten und Unwissenheit hindern die Erwachsenen daran.
Es geht dabei nicht um Schuld, sondern um Verantwortung, die wir Erwachsenen übernehmen müssen, um nicht unbewusst am Mobing mitzuwirken. Es kann sein, dass das betroffene Kind durch sein Verhalten den Ärger anderer Kinder auf sich zieht. Vielleicht ist es besonders strebsam, kleidet sich anders an als andere, hat eine eigentümliche Art, sich auszudrücken, oder kann soziale Signale nicht richtig einordnen.
Es wäre unproblematisch, wenn Eltern und Lehrpersonen zum Schluss kommen würden, dass nach einer Intervention in der Klasse auch das betroffene Kind dabei unterstützt werden sollte, sich ein Stück weit anders zu verhalten. Dabei sollte klar sein, dass das Kind erst dann ein neues Verhalten ausprobieren kann, wenn es dafür einen sicheren Raum hat und die Klasse das neue Verhalten positiv aufnimmt. In vielen Fällen ist das scheinbar problematische Verhalten des gemobbten Kindes lediglich eine Reaktion auf die Quälereien.
«Du musst dich halt wehren!»
Die Botschaft dahinter ist: Das Opfer müsste nur «an sich arbeiten» und sich anders verhalten, dann würde das Mobbing aufhören. Meist unbewusst signalisiert man in diesem Fall als Lehrperson oder Elternteil die folgende Einstellung: «Das gemobbte Kind ist selbst schuld. Es hat deswegen das Mobbing als gerechte Strafe verdient und von mir keine Hilfe zu erwarten.»
Mit dieser Haltung wird das Kind in einer Situation alleine gelassen, die es nur mit entschlossener Hilfe von aussen bewältigen könnte.
Teilweise übernehmen gemobbte Kinder diese Einstellung und beginnen selbst zu glauben, dass sie es nicht anders verdient haben und Mobbing als ihr Schicksal akzeptieren müssen.
Eltern von Kindern, die gemobbt werden, reagieren nicht selten mit Vorschlägen, die sich wie Vorwürfe anhören:
- «Du musst dich halt wehren!»
- «Warum hast du das der Lehrerin nicht erzählt!?»
- «Hau dem doch einfach mal eine runter, dann hört der schon auf!»
Tatsächlich hat ein Kind, sofern sich eine Mobbingsituation eingespielt hat, kaum Möglichkeiten. Sucht es Hilfe, gilt es als Petze, läuft es weg, ist es ein Feigling, versucht es sich anzupassen und freundlich zu sein, ist es ein Schleimer, und wehrt es sich, gilt es als «voll aggro».
Es ist nicht hilfreich, wenn dieses Kind auch noch erleben muss, dass die eigenen Eltern es als Schwächling empfinden und seine Situation nicht nachvollziehen können. Werden dem Kind auch noch zu Hause seine Gefühle abgesprochen, vereinsamt es im Kreis der eigenen Familie. Manche Kinder schämen sich, dass sie die Vorschläge der Eltern nicht umsetzen können, und verheimlichen in der Folge das Mobbing.
«Das ist doch noch lange kein Grund, gleich zuzuschlagen!»
Manche Eltern und Lehrpersonen reagieren nicht, weil sie Angst haben, die Situation noch schlimmer zu machen. Eltern befürchten oft, als Nervensägen zu gelten. Lehrpersonen fühlen sich unsicher, wie sie das Thema aufgreifen sollen.
Der Philosoph Paul Watzlawick hat einmal gesagt: «Man kann nicht nicht kommunizieren.» Das gilt im Falle von Mobbing ganz besonders. Nichtreagieren ist ein klares Signal an die Akteure und die gesamte Klasse, dass das Mobbing geduldet wird und die Schule keinen Schutz bietet.
Eine Mutter hat mir tatsächlich berichtet, dass sich die Schulleitung bei ihrem Kind, das täglich schikaniert wurde, mit dem folgenden Satz aus der Verantwortung stahl: «Der Schulweg fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich.» Das ist, als würde man den Schülern sagen: «Schaut, da, bei diesem Strich, endet das Schulareal. Wenn ihr jemanden quälen wollt, dann bitte ausserhalb dieser Linie. Dann müssen wir uns nicht darum kümmern.»

Bild: André Schuster / plainpicture
Warum nehmen wir bei Kindern etwas hin, womit wir keinen Erwachsenen alleine lassen würden? Stellen Sie sich vor, Ihre Partnerin oder Ihr Partner wird bei der Arbeit regelmässig von zwei grossen, starken Kollegen verprügelt und kommt mit blauen Flecken nach Hause und Sie sagen: «Ich kann da leider nicht viel machen – ich habe schon mit deinem Chef gesprochen und wir brauchen das Geld.»
Fachpersonen, die sich auf das Thema Mobbing spezialisiert haben, raten einhellig davon ab, die Eltern der Akteure zu kontaktieren. Meist verschlimmert dies die Situation des gemobbten Kindes. Viele Eltern können sich nicht vorstellen, dass ihr kleiner Sonnenschein zu perfiden Taten fähig ist, und weisen bereits den Gedanken daran entrüstet von sich oder suchen wiederum automatisch die Schuld beim «Opfer».
Auch gut erzogene, sympathische Kinder aus behütetem Elternhaus können Teil dieser Gruppendynamik werden. Es macht Ihr Kind nicht zu einem schlechten Menschen, wenn Sie hinschauen, mit Ihrem Kind über Mobbing reden und mit ihm überlegen, wie es diese Rolle verlassen kann. Vielmehr macht es Sie zu einem verantwortungsvollen Elternteil. Manche Eltern hätten gerne, dass ihr Kind unerschütterlich und selbstbewusst zu seiner Individualität steht. Beinahe verzweifelt versuchen sie dem Kind Powersätze einzubläuen wie:
- «Ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere mich gerne hätten.»
- «Die sind doch nur neidisch.»
- «Ist mir doch egal, was die von mir denken.»
- «Sollen die doch reden.»
Wenn wir wirksam gegen Mobbing vorgehen möchten, müssen wir aufhören, die Schuldfrage zu stellen. Diese verstellt den Blick auf das Problem und führt dazu, dass wir uns rechtfertigen und die Verantwortung abschieben.
Wir müssen:
- Kinder ernst nehmen und Vorfälle nicht bagatellisieren;
- lernen, Mobbing zu erkennen und von Konflikten oder Streit zu unterscheiden;
- klar Stellung dafür beziehen, dass jedes Kind das Recht darauf hat, sich in der Schule sicher und wohl zu fühlen;
- ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Mobbing ein Gruppenphänomen ist und daher auch auf Gruppenebene gelöst werden muss;
- Lösungen gemeinsam mit den Kindern entwickeln, ohne jemanden zu verurteilen.
An wen kann ich mich wenden?
Die folgenden Personen können Sie unterstützen:
- Lehrperson
- Schulleitung
- Schulsozialarbeiter/in
- Schulpsychologe/in
- Schulpflege

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