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Kinder brauchen Vertrauen, keine digitale Hundeleine

Lesedauer: 4 Minuten

Erziehung ist viel zu wichtig, um sie technischen Geräten zu überlassen. Sein Kind digital zu kontrollieren, ist daher keine gute Idee.

Text: Thomas Feibel
Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Leben wir nicht in wunderbaren Zeiten? Tag für Tag nehmen uns digitale Geräte viele Arbeiten ab. Das Abendessen zum Beispiel bereitet sich im Thermomix fast von alleine zu, im Garten dreht der Rasenmäher-Roboter dezent seine Runden, und schon bald brettern Autos autonom über die ­Strassen. All diese Möglichkeiten, von denen unsere Vorfahren nur träumen durften, sind äusserst praktisch und vor allem sehr bequem. Heutzutage können wir sogar die Medienerziehung unserer Kinder an digitale Geräte outsourcen. «Parental Control» lautet der anglizistische Fachausdruck zu entsprechenden Angeboten.

Dabei steckte die Geschichte der technischen Medienkontrolle schon immer voller Tücken. Bereits beim klassischen Fernsehen verfehlte die Aktivierung der Kindersicherung seinerzeit die gewünschte Wirkung. Während Kinder sie clever um­gingen, bekamen die Eltern ihre TV- Ge­räte nicht mehr an.

Wenn die Möglichkeit besteht, sämtliche Textnachrichten der Kinder auf dem eigenen Gerät mitzulesen, ist die Überwachung der Kindheit perfekt.

Weil ein paar Jahre später der freie Internetzugang die Erziehenden vor grosse Herausforderungen stellte, sollte eine Filtersoftware den kindersicheren Aufenthalt im Netz garantieren. Dazu dienten Positivlisten, die ständig aktualisiert wurden.

Weil das jedoch nicht ausreichte, mussten bei manchen Filterprogrammen die Eltern all jene «bösen» Wörter persönlich eingeben, auf die ihre Kinder im Web keinesfalls stossen sollten. Es gab aber noch mehr Probleme. War etwa der Begriff «Sex» aus verständlichen Motiven gesperrt, konnten besorgte Teenager auch nicht mehr auf familiären Beratungsseiten landen.

Im Zeitalter von Smartphone und Tablet im Kinderzimmer gestattet uns der Router, Einschränkungen in der Mediennutzung ferngesteuert vorzunehmen. Technikaffine Eltern richten für ihre Kinder ein eigenes WLAN-Netz mit festgelegten Zeitkontingenten ein.

Das Sicherheitsgefühl hält jedoch nicht sehr lange an. Fast mühelos gelingt es dem Nachwuchs meist, das Kennwort des unlimitierten Eltern-WLAN herauszufinden. Zudem ist überhaupt kein Internetzugang notwendig, um unkontrolliert die halbe Nacht mit dem Natel zu spielen.

Auch wenn viele technische Restriktionen im Erziehungsalltag nur selten zielführend sind, prosperiert dennoch ein Markt, der die grosse Sehnsucht der Eltern nach dem perfekten technischen Sicherheitskonzept stillen möchte. Bestes Beispiel sind die vielen kunterbunten GPS-Uhren für Kinder. Sie werden von ihren Herstellern als die grosse Natel-Alternative angepriesen: Eltern mit Kindern im Primarschulalter bleiben mit ihnen den ganzen Tag in Kontakt, ohne eigens ein Smartphone für sie anschaffen zu müssen.

Diese Uhren verfügen über ein Ortungssystem, damit der jeweilige Aufenthaltsort des Kindes zu jeder Zeit festgestellt werden kann. Telefonieren und das Versenden von Sprachnachrichten sind ebenso möglich. Das Ding zeigt sogar die Zeit an. Verstörend finde ich allerdings die sogenannte «Voice Monitoring»-Funktion: Damit starten Eltern – unbemerkt von ihren Kindern – einen Lauschangriff, um zu hören, wo sie sich gegenwärtig aufhalten oder mit wem sie im Moment worüber sprechen.

Dass manche IT-Experten von der Anschaffung solcher Produkte abraten, ist nicht verwunderlich, jedoch aus anderen Gründen. Einige Geräte stammen aus Fernost, wo zuweilen die Daten der Kinder, wie etwa Namen oder Fotos, ungeschützt auf Servern gelegen haben sollen. Nach Ansicht dieser Fach­leute könnten sich sogar Dritte dazu relativ leicht Zugang verschaffen und im schlimmsten Fall Kontakt zum Kind aufnehmen. Sicher, das dürfte vermutlich sehr, sehr selten geschehen.

Aber allein die Möglichkeit wirkt nicht gerade wie ein überzeugendes Sicherheitskonzept. Sobald Kinder dann ein eigenes Smartphone besitzen, erlauben eine Reihe von Sicherheits-Apps vielseitige Kontrollmöglichkeiten.

Damit sie erfolgreich ihrer Tätigkeit nachkommen können, müssen diese Programme auf das Smartphone der Eltern und des Kindes geladen werden. So legen Erwachsene damit unter anderem Nutzungszeiten fest, regulieren App-Käufe oder verhindern das Auffinden unliebsamer Webseiten.

Auch eine Ortungsfunktion ist häufig vorhanden, damit wir uns keine Sorgen zu machen brauchen, wenn die Kinder wieder mal auf dem Heimweg nach der Schule trödeln. Bei manchen Apps können Eltern zudem prüfen, welche Webseiten ihr Nachwuchs aufgesucht hat.

Wenn dann aber zuweilen die Möglichkeit besteht, sämtliche Textnachrichten der Kinder auf dem eigenen Gerät mitzulesen, ist die totale Überwachung der Kindheit perfekt.

Es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen Kontrolle und Überwachung. Schon aus ethischen Gründen verbietet es sich, heimlich die Nachrichten der Kinder mitzuhören oder mitzulesen. Abgesehen davon hemmt übertriebene Kontrolle die gesunde Entwicklung von Kindern. Statt eigenverantwortlich und selbstregulativ handeln zu können, ordnen sie sich dem Erwachsenen unter.

Eine Langzeitstudie der University of Virginia hat herausgefunden, dass diese Kinder später unter anderem schlechtere Bildungsabschlüsse aufwiesen und als Erwachsene in Liebesbeziehungen und Freundschaften über keine gute Bindungsfähigkeit verfügen.

Eltern, die einen extrem starken Wunsch nach Kontrolle verspüren, haben Angst und eine Störung des Urvertrauens. Beides kann sich auf Kinder übertragen.  Dennoch kann ich den Wunsch nach Schutz sehr gut nachvollziehen.

Wir alle wünschen uns Sicherheit für unsere Kinder, selbst wenn es sie weder im Netz noch draussen auf der Strasse wirklich gibt. Weil wir unsere Kinder lieben, weil wir sie vor jeglichem Schaden bewahren wollen.

Allein schon deshalb müssen wir bestimmte Aspekte wie Nutzungszeiten und digitale Inhalte gut im Auge behalten. Besonders erfolgversprechend sind offene Gespräche, gemeinsam getroffene Vereinbarungen und viel Vertrauen. Da sich Kinder nicht gut regulieren können, sollten wir ihnen helfen, es zu lernen. Die Erziehung unserer Kinder ist viel zu wichtig, um sie digitalen Geräten zu überlassen.

5 Tipps
  • Kinder brauchen Vertrauen, eine gewisse Freiheit und Privatsphäre.
  • Nachrichten auf dem Natel der Kinder sind tabu. Ausser sie gestatten uns Einblick.
  • Viele Sicherheitseinstellungen wie App-Käufe und mehr können gemeinsam mit den Kindern direkt auf dem Gerät vorgenommen werden – ohne Fernsteuerung.
  • Gute Begründungen helfen Kindern, diese Entscheidungen nachzuvollziehen.
  • Auch wenn «Loslassen» nach Esoterik klingt, besteht doch die Entwicklung von Kindern auch darin, dass sie täglich selbständiger werden, damit sie später ihr Leben alleine meistern.

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Alle Artikel von Thomas Feibel

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