Aus zwei Kindern mach drei. Oder vier.
Immer mehr junge Menschen wünschen sich drei oder mehr Kinder. Noch klaffen Wunsch und Wirklichkeit auseinander – doch es ist ein Trend weg vom Zweikindfamilien-Ideal auszumachen. Aus dem Leben zweier Grossfamilien.
Ich au! Das sind die beiden Worte, welche Lilani wohl am häufigsten ausspricht. Die Zweijährige will alles machen, was ihre drei älteren Brüder tun. Dass diese sieben bis zehn Jahre älter sind als sie, ist der Kleinen dabei herzlich egal. Eifrig klettert sie zu Lorin, 12, Nael, 11, und Andris, 9, in die Hängematte und quetscht sich zwischen sie. Die Buben kichern und geben mit den Füssen an, um hin- und herzuschaukeln.
Klein Lilani tobt heute durch den Garten des Einfamilienhauses der Familie in Thalwil ZH – der Excel-Liste ihrer Eltern Mara und Andy Jacob zum Trotz. Auf dieser Liste – die mittlerweile zuvorderst in Lilanis Fotoalbum prangt – hielten ihre Eltern alles fest, was für und was gegen ein viertes Kind spricht. Und die Kontra-Spalte war bedeutend länger als die Pro-Spalte.
Ein Viertel aller Kinderlosen in der Schweiz träumt von einer Familie mit mehr als zwei Kindern.
«Aber wenn Kinderbekommen ein rein rationaler Entscheid wäre, hätte niemand welche. Schlussendlich kam das Ja aus dem Herzen und dem Bauch», sagt Mara Jacob. Das war auch bei Familie Wolf aus St. Antönien GR so.
Ohne Simon, mittlerweile 6 Jahre alt, habe sich die Familie nicht komplett angefühlt, sagt Christina Wolf. So bekamen Ramona, 12, und Mario, 10, als Primarschülerin beziehungsweise Kindergärtler nochmals einen Bruder. «Ich habe mich uuuuh gefreut!», sprudelt es aus Ramona heute noch heraus. «Sie wollte das Baby ständig herumtragen und wickeln. Man musste sie fast bremsen », erzählt Vater Hansandrea Wolf lachend.
Für Wolfs ist jedenfalls klar: «Drei sind besser als zwei!» Mit drei oder gar vier Kindern sind die Wolfs und die Jacobs hierzulande zwar nach wie vor eher eine Ausnahme. Aber langsam lässt sich eine Trendwende beobachten.
Zum einen geben immer mehr kinderlose junge Frauen und Männer an, von mehr als zwei Kindern zu träumen: 2015 waren es laut einer Umfrage des Bundesamtes für Statistik über ein Viertel von 17 000 befragten Personen. Zum anderen steigt die Geburtenrate der Drittkinder tatsächlich an – so waren es 2010 in der Schweiz 7,5 Prozent mehr als 2007.
Helfende Hände beim Wickeln und Schöppelen
Christina Wolf ist mit einer Schwester aufgewachsen, ihr Mann Hansandrea mit einem Bruder. Beide sagen, sie hätten als Kinder gern mehr als nur ein Geschwister gehabt. So war ziemlich bald nach Marios Geburt klar: Das war noch nicht alles. Die Pause zwischen Nummer zwei und drei habe sie aber genossen, sagt Christina Wolf. Zumal Ramona in den ersten paar Wochen ein Schreibaby war und wegen eines Blutschwamms an ihrem Ohr einige Operationen und Spitalaufenthalte nötig waren.
Die Zeit danach mit Kleinkind und dem zweiten Baby sei sehr anstrengend gewesen. Mit Simon nochmals von vorn anzufangen, nachdem die anderen beiden bereits aus dem Gröbsten raus waren, sei dagegen total problemlos gewesen, sagt Christina Wolf. «Er war ein sehr pflegeleichtes Baby, schlief mit zehn Wochen durch und wachte auch davor nur ein- oder zweimal auf pro Nacht.
Zudem halfen die Grossen beim Wickeln und Schöppelen kräftig mit.» Das Geschwistertrio hat von Anfang an gut harmoniert. Auch heute ist selten mal eines das fünfte Rad am Wagen. «Sie können alles sehr gut zu dritt. Auch streiten», erzählt ihre Mutter schmunzelnd. Keines der beiden älteren Kinder sei je eifersüchtig gewesen. Im Gegenteil. Mario freute sich, nicht mehr das Nesthäkchen zu sein, und Ramona liebte ihren kleinsten Bruder von Anfang an heiss.
«Ich habe ihn stundenlang in einer Kiste durchs Haus gezogen», sagt sie lachend. Auch bei Familie Jacob war Eifersucht nie ein Thema. Für ihn habe sich mit Lilanis Ankunft nicht viel verändert, meint Lorin, der Älteste, schulterzuckend. Andris gefiel es, nicht mehr der Jüngste zu sein. Nur Nael, der Zweitälteste, findet, manche Dinge seien schon ein bisschen doof gewesen – «zum Beispiel mussten wir immer ruhig sein, wenn Lilani Mittagsschlaf hielt.»
Nicht nur ein Wunsch nach mehr Kindern, sondern ein echtes Bedürfnis
Sie habe die Befürchtung gehabt, die Jüngste wachse wegen des grossen Altersabstandes wie ein Einzelkind auf, sagt Mara Jacob. Das sei aber überhaupt nicht der Fall: «Sie ist überall dabei. Natürlich muss man sich ab und zu mal ihr anpassen, aber meistens ist es umgekehrt.» So findet man die Zweijährige am Wochenende auch eher am Rande eines Handballfeldes oder bei einer Ruderregatta, wo sie ihre Brüder anfeuert, als auf dem Spielplatz.
Die Vorteile einer Grossfamilie: Eltern werden mit jedem Kind gelassener. Und die Familienphase dauert länger.
Für sie habe lange jemand gefehlt in der Familie, sagt Mara Jacob. «Ich habe mir selbst oft die Frage gestellt, wer das genau ist. Wäre die Antwort gewesen: ein Mädchen, hätte ich auf ein weiteres Kind verzichtet. Aber sie war wirklich: ein viertes Kind. Natürlich ist es toll, noch ein Mädchen zu haben. Aber wir hätten uns genauso über einen Bub gefreut.» Für Andy Jacob wäre die Familie auch mit drei Kindern komplett gewesen.
«Aber für Mara war das viel mehr als ein blosser Kinderwunsch, sondern ein echtes Bedürfnis. Es wäre falsch gewesen, meine Wünsche stärker zu gewichten als ihre.» Wäre Lilani nicht zur Welt gekommen, hätte das die Familie viel stärker belastet, als ihre Geburt es tat, ist Mara überzeugt: «Nochmal von vorne anzufangen, war körperlich und emotional streng. Aber wir wussten ja auch aus Erfahrung, dass diese Zeit vorübergeht. Mit einem ständigen Loch zu leben, wäre gefühlsmässig viel anstrengender gewesen – nicht nur für mich.»
Wunsch trifft oft nicht auf Realität
So entschied sich Familie Jacob schliesslich für Lilani. Trotz der Negativbilanz auf der Excel-Liste. Einer der Minuspunkte auf dieser Liste: Mara war bei Lilanis Geburt 41 Jahre alt. Das Alter ist einer der Gründe, warum Wunsch und Wirklichkeit trotz Trend auseinanderdriften. Dem Wunsch nach drei Kindern oder mehr aus der erwähnten Umfrage steht eine Geburtenrate von 1,54 Kindern pro Frau entgegen (vor 15 Jahren: 1,38). Und gemäss einer Erhebung von Eurostat aus dem Jahr 2015 beträgt das Durchschnittsalter der Erstgebärenden 30,7 Jahre.
Die Schweizerinnen gehören damit zu den ältesten Müttern Europas. «Die Suche nach dem richtigen Partner, die Ausbildung und die ersten Berufsjahre ziehen sich hin. Oft ist das Zeitfenster für viele Kinder einfach zu klein», sagt Daniela Nagel, Autorin, Philosophin und fünffache Mutter (siehe Interview).
Das Bundesamt für Statistik sieht im Vergleich verschiedener Generationen Anhaltspunkte dafür, wie weit Kinderwunsch und die tatsächliche Anzahl an Kindern auseinanderdriften. So wünschen sich nur 9 Prozent der 20- bis 29-Jährigen keine oder ein Kind. Von den 50- bis 59-jährigen Frauen haben 16 Prozent ein Kind, 20 Prozent sind kinderlos. 65 Prozent der 20- bis 39-jährigen Frauen befürchten mit jedem weiteren Kind schlechtere Berufsaussichten, und drei Viertel aller Männer und Frauen fürchten, dass ein weiteres Kind ihre finanziellen Möglichkeiten einschränke.
Wenn das Auto zu klein wird
Familie Wolf kennt das Thema der finanziellen Einschränkung aus eigener Erfahrung. Christina Wolf ist gelernte Bäckerin/Konditorin, seit Ramonas Geburt kümmert sie sich hauptsächlich um die Familie. Hansandrea Wolf ist im Sommer Maurer, im Winter Skilehrer. Mit Simons Geburt musste ein grösseres Auto her. «Das war aber die einzige Neuanschaffung. Sonst hatten wir alles noch», sagt Christina Wolf. Aber je älter die Kinder werden, desto mehr fallen sie auch finanziell ins Gewicht: Skiausrüstung, Hobbys wie Schwingen oder Klettern, Musikunterricht – alles mal drei.
«Aber die Finanzen waren nie ein Grund, kein drittes Kind zu bekommen», sagt Vater Hansandrea. Dass bei uns vieles auf die Zweikindfamilie ausgerichtet ist, merken die Wolfs je länger, je mehr. «Zum Beispiel Familienkarten bei Freizeitangeboten oder in den Ferien – die gelten immer für zwei Erwachsene und zwei Kinder», so Christina Wolf. Und dann ist da noch die Sache mit ihrem Haus, das sie geerbt haben. Es hat – natürlich – nur zwei Kinderzimmer.
Mit einem Durchschnittsalter von 30,7 bei der ersten Geburt zählen die Schweizerinnen zu den ältesten Müttern Europas.
Simons Bett steht derzeit noch im Elternschlafzimmer. Bald werden aber die Eltern in ein kleineres Zimmer ziehen und Simon und Mario teilen sich das grösste Schlafzimmer. Problem gelöst. Im Hause Jacob teilen sich gar alle drei Buben ein Zimmer. Bald steht aber der Umzug ins eigene Haus an, dann bekommt jedes Kind ein eigenes Zimmer.
Finanziell ist das vierte Kind für IT-Spezialist Andy Jacob und seine Frau, die als Doula Geburten begleitet und auch Doulas ausbildet, kein riesiger Schritt. Bis jetzt. «Uns ist schon bewusst, dass sich das mit den Jahren, je nach Ausbildung der Kinder, ändern wird», sagt Andy.
Auf gewisse Dinge verzichte man jedoch eher aus praktischen denn aus finanziellen Gründen: «Auswärts essen ist mit vier Kindern stressig. Und auch Ferien sind zu sechst in einer Ferienwohnung entspannter als im Hotel.» Eine spezielle Organisation verlangen jeweils Skiferien. «Eine riesige Materialschlacht!», sagt Andy Jacob lachend.
Er fährt jeweils mit Lilani und dem Gepäck im Auto, Mara reist mit den Söhnen im Zug. «Aber das wird auch wieder besser, sobald wir keinen Kinderwagen und keine Windeln für die Nacht mehr mitschleppen müssen.» Wenn Jacobs zu sechst unterwegs sind, werden sie oft angesprochen. «Die Reaktionen sind immer positiv », sagt Mara Jacob. «Oft sagen die Leute, sie bereuten es, selbst nicht mehr Kinder zu haben. Uns hat es auch Mut gekostet, aber wir sind heute sehr froh, haben wir diesen Schritt gewagt.»
Dreifach-Mami mit nur zwei Händen
Familie Jacob und Familie Wolf haben mit drei respektive vier Kindern ihr Glück gefunden. Richtig viel durcheinandergebracht haben weder Simon noch Lilani in ihren Familien. Am meisten verändert habe das erste Kind, da sind sich alle Eltern einig. Vom Paar zur Familie zu werden, ist eine grössere Herausforderung, als die Familie zu vergrössern. «Auch wenn mir als Dreifach-Mami anfangs öfter eine dritte Hand fehlte», meint Christina Wolf.
Dieses Gefühl kennt auch Mara Jacob: «Das dritte Kind hat mehr verändert als das vierte, zumal die Buben altersmässig sehr nah beisammen sind. Mit Andris wurde das strenge Leben zum sehr strengen Leben. Mit Lilani war das im Vergleich recht entspannt.»
Und wie siehts aus mit weiteren Kindern? Bei Familie Jacob ist man sich einig: «Mit Lilani sind wir angekommen.» Auch bei den Wolfs findet zumindest ein Grossteil der Familie, es sei gut so, wie es ist. Nur einer meint, ein viertes Baby wäre gar nicht so verkehrt. «Ich will auch mal nicht der Kleinste sein!», meint Simon schmollend.