Schuldgefühle: Ballast auf der Seele - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Schuldgefühle: Ballast auf der Seele

Lesedauer: 12 Minuten

Tun wir als Eltern genug? Oder gar zu viel? Hat mein Kind, was es braucht? Wann sind Schuldgefühle berechtigt und wann einfach sozial gelernt – und wie unterscheidet man das eine vom anderen?

Nadja, Mutter einer sieben- und einer neunjährigen Tochter, verreist alleine, geniesst die Zeit nur für sich – und fühlt sich ihren Kindern gegenüber egoistisch. Müsste sie als Mutter nicht selbstloser sein? Benno, Vater von zwei mittlerweile erwachsenen Mädchen, hat sich von seiner Frau getrennt und damit auch seine Töchter verletzt. Die Gefühle, sich falsch verhalten zu haben, lassen ihn nicht mehr los. Hätte er für die Familie kämpfen müssen?

Delia hat einen vierjährigen Sohn, eine zweijährige Tochter – und ein 80-Prozent-Arbeitspensum. Sie hört immer wieder die Frage, ob sie denn nicht mehr mit den Kindern sein möchte. Möchte sie das? «Herzogin Kate, Duchess of Cambridge, haben Sie ihren drei Kindern gegenüber Schuldgefühle?»

Elternschaft und Schuldgefühle scheinen untrennbar miteinander verknüpft zu sein.

«Absolut», lautet ohne ein kleinstes Zögern die Antwort auf diese erste Frage in einem Radiointerview. «Und jeder, der sagt, er habe das nicht, der lügt», schiebt sie hinterher. Sie mache sich ständig Vorwürfe, sagt sie und ist mit dieser Antwort in guter, vor allem in grosser Gesellschaft.

Elternschaft und Schuldgefühle scheinen untrennbar miteinander verknüpft zu sein. Und nicht nur bei Herzogin Kate, Benno, ­Nadja oder Delia. Das Thema ist in Blogs, Artikeln und Posts, aber auch in alltäglichen Gesprächen allgegenwärtig.

Verhält sich ein Kind ganz artig, werden die Eltern gelobt: «Was für ein tolles Kind. Das habt ihr gut gemacht!» Was als nettes Kompliment an die Eltern gemeint ist, impliziert die Vorstellung, dass Erziehung benotet wird und dass man sich hinterher, bei getaner Arbeit, auf die Schulter klopfen kann. Aber Achtung, benimmt sich ein Kind daneben, gerät es auf die «schiefe Bahn», dann sind selbstverständlich ebenfalls die Eltern schuld. «Was ist denn bei dem in der Erziehung schiefgelaufen?», ist dann ein häufiger Kommentar.

Wer in einer Buchhandlung die Abteilung «Erziehung» oder «Pädagogik» betritt, könnte den Eindruck bekommen, dass sich alles, was Eltern tun, negativ auf die Psyche ihrer Kinder und damit deren Zukunft auswirken kann. Titel wie «Deine Kinder sind deine Schuld! Der Tritt in den Hintern für alle, die bessere Eltern sein wollen» oder «Verhaltensauffällig: Schuld der Eltern?» reihen sich nahtlos aneinander. Es geht um verwöhnte Kinder, drogenabhängige Kinder, kleine Narzissten und Zuspätkommer. Ob die Nachkommen übergewichtig sind, hänge zu 35 bis 40 Prozent von ihren Eltern ab, heisst es. Die Eltern sind unverantwortlich, streiten sich zu viel, kümmern sich zu wenig, kümmern sich zu viel, ­lassen nicht los, sind zu schwach, um Grenzen zu setzen, oder zu wenig liebevoll. Sie fördern das Kind nicht oder überfordern es.

Dass man es auf keinen Fall richtig machen kann, wird schnell klar. Schuldgefühle sind die logische Konsequenz – sei es aus dem Gefühl heraus, dass man im Alltag vieles besser machen könnte, oder wegen Dingen, die tatsächlich schiefgelaufen sind in der Familie. Doch was sind Schuldgefühle überhaupt? Wie entstehen Schuldgefühle und welche Funktion haben sie? Wann weiss ich als Mutter oder Vater, dass ich diese Gefühle getrost beiseiteschieben kann, und wann sollte ich handeln?

Ein Alarmsystem der Seele

Schuldgefühle sind soziale Emotionen und entstehen als Reaktion auf schuldhafte Taten oder Fantasien. Sie verweisen auf einen sozialen Schaden und machen uns darauf aufmerksam, dass unser Handeln nicht unseren moralischen Prinzi­pien entspricht. Das heisst: Sie hemmen uns und bringen uns dazu, etwas zu vermeiden oder sogar wiedergutzumachen. Sie sind eine Art sozialer Kitt. So etwas wie ein Alarmsystem der Seele.

Schuldgefühle helfen uns, ethisch durch diese Welt zu navigieren.

Psychologin Tina Malti

Man könnte gar sagen, dass es ohne Schuldgefühle keine Zivilisation, sondern nur das Recht des Stärkeren gäbe. Oder,  um es in den Worten der deutsch-palästinensischen Entwicklungspsychologin Tina Malti zu sagen: «Schuldgefühle helfen uns Menschen, ethisch durch diese Welt zu navigieren.»

Schuldgefühle können also auftauchen, wenn man etwas moralisch Verwerfliches oder auch gesetzlich Strafbares getan hat – gestohlen, gelogen, betrogen, jemanden geschlagen. Doch damit hat es sich bei Weitem nicht. Der Schweizer Psychotherapeut, klinische Psychologe und Psychoonkologe Jürg Kollbrunner unterscheidet in seiner Arbeit die authentischen – also berechtigten – Schuldgefühle und die sozial gelernten beziehungs­weise unberechtigten Schuldgefühle. Hier kommen verinnerlichte Ideale mit ins Spiel, gesellschaftliche Rollenbilder, der ganz private Perfektionismus und das Nicht-Entsprechen, das Nicht-Genügen.

Schuldgefühle können auch auftauchen, wenn es einem besser geht als jemand anderem. Oder dann, wenn man nicht genug getan hat, um jemand anderem zu helfen. Dass dementsprechend Schuldgefühle in den Beziehungen zwischen Eltern und Kind übermässig präsent sind, ergibt Sinn. Denn in keiner anderen menschlichen Beziehung sorgen wir auch nur annähernd so viel für den anderen. In keiner anderen Beziehung wird bedingungslose Liebe und Fürsorge bis zur totalen Erschöpfung verlangt.

Der österreichische Psychiater und Gründer des Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie, Raphael Bonelli, hat sich unter anderem im Rahmen einer Weiterbildung für Arbeitskolleginnen in das Thema «Schuld» vertieft. Dabei merkt er an: Für Priester sei das Thema einfach. «Da gibt es mit den zehn Geboten einen objektiven Kriterienkatalog. Danach wird geurteilt, gesühnt, es folgt die Absolution und gut ist», so Bonelli. In der nichtreligiösen alltäglichen Realität jedoch fehlt ein einfacher Kriterienkatalog.

5 Tipps
Für den Umgang mit Schuldgefühlen:
  • «Legen Sie eine Grübelzeit fest», empfiehlt der Schweizer Psychotherapeut Jürg Kollbrunner. Dafür könne man einmal in der Woche eine halbe oder ganze Stunde Zeit einplanen, in der man sich mit der Schuld hinter dem Gefühl (berechtigt oder unberechtigt) beschäftigt und sich Vorwürfe macht. Doppelt gut: Damit gewinnt man Zeit und erfüllt sich den inneren Wunsch nach Bestrafung. Beurteilen Sie sich dabei rücksichtsvoll. Wie Sie es bei jemand anderem auch tun würden. Und vergeben Sie sich.
  • Fragen Sie sich: «Wer spricht in diesem Schuldgefühl? Wer hat es mich gelehrt?» Und gestehen Sie sich zu, sich darüber zu ärgern. Haben Sie Verständnis dafür, wagen Sie aber auch die Auseinandersetzung mit den Lehrern und Lehrerinnen – den eigenen Eltern beispielsweise.
  • Notieren Sie sich eigene Übertreibungen und Unsachlichkeiten.
  • Erkennen Sie Ihr Recht an, eigene Interessen wahrzunehmen.
  • Noch bevor Schuldgefühle überhaupt entstehen können: Achten Sie darauf, wie Sie Ideale bilden. Der österreichische ­Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli betont dabei, dass wir zwar nicht selbst ­entscheiden können, ob wir beeinflusst werden, aber von wem. «Was wir lesen, mit wem wir sprechen, welche Musik wir hören, welche Filme wir uns anschauen.»

Authentische und anerzogene Schuldgefühle

Vielleicht wuchsen deshalb ganze Generationen mit der Goldenen Regel der praktischen Ethik auf: «Behandle andere so, wie du behandelt werden willst.» Oder negativ formuliert: «Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.» Dieses Credo greift bei den authentischen Schuldgefühlen, dann, wenn wir Gefahr laufen, uns wirklich etwas zuschulden kommen zu lassen.

Bei den anerzogenen wird das Ganze etwas schwieriger. Denn der Zeitgeist verändert sich und wir verinnerlichen Ideale, die nicht unbedingt mit unserer inneren Wahrheit übereinstimmen. Damit wird es diffus.

Wenn sich unter dem Weihnachtsbaum haufenweise Geschenke türmen, ist der zweifache Vater Remo beispielsweise hin- und hergerissen zwischen der Freude für seine Kinder und dem Gefühl, dass das alles zu viel ist, seine Söhne überfordert, zu sehr verwöhnt und undankbar werden. Das jedenfalls hat der 40-Jährige gelesen. Und als er seinen Ältesten beim Beginn der Schulzeit nach dessen ersten Erlebnissen fragt, taucht bald das Gefühl auf, ein ungenügender Vater zu sein. Denn in der Klasse ist das Mädchen, das bereits fliessend schreibt, der Junge, der dreisprachig aufwächst. «Und der ganz ­vorne links, der spielt richtig gut Klavier.» Hat Remo sein Kind wirklich zu wenig gefördert?

Der Familientherapeut Daniel Niederberger von der Beratungsstelle Contact in Luzern würde diese Frage wohl verneinen. «Schuldgefühle – zumindest die unberechtigten – sind eine Frage des Zeitgeists und kommen in früheren Generationen in dieser Ausprägung zum Teil gar nicht vor», gibt er zu bedenken. Und tatsächlich befremdet es Remos Vater, dass sein Sohn dreimal pro Woche früh Feierabend macht, um seine Buben vom Hort abzuholen. «Ich hätte dafür überhaupt keine Zeit gehabt», sagt der 70-jährige Rolf.

Ein schlechtes Gewissen habe er deswegen nicht gehabt. «Warum auch? Ich musste eine Familie ernähren und an den Arbeitszeiten gab es nichts zu rütteln.» Dass Remo sein Arbeitspensum gerne reduzieren würde, um zu Hause noch präsenter sein zu können, kann Rolf nicht nachvollziehen.

Von Wissen und Gewissen

Natürlich waren Schuldgefühle auch vor 100 Jahren kein Fremdwort. Doch unterschiedliche historische Entwicklungen haben dazu geführt, dass das Erziehen von Kindern seither komplexer oder facettenreicher geworden ist. So weisen Historikerinnen und Psychologen vor allem auf die Entwicklungen in der Präventionsarbeit hin.

Diese Veränderungen fanden besonders in den 1980er-Jahren statt, als in der Gesellschaft das Bewusstsein dafür entstand, wie man Kinder und Jugendliche beispielsweise durch Vernachlässigung schaden oder durch mehr Austausch und Sensibilisierung schützen und aufklären kann.

Zudem prägte auch die grosse Präsenz der offenen Drogenszene in den 90er-Jahren Generationen von zukünftigen Eltern. Aufgrund der Angst, seine Kinder an die Drogen zu verlieren, wurden reihenweise Präventionsstellen und Angebote geschaffen.

Erziehung ist individueller geworden

Auch unsere Kenntnisse über die Psychologie haben sich in den letzten Jahrzehnten stark erweitert. Wir wissen heute, dass problematischem Verhalten im Erwachsenenalter oft eine problematische Kindheit vorausging. Wir wissen von Traumen und von Diagnosen. Dazu kommt, dass Eltern früher viel weniger individuelle Möglichkeiten in der Erziehung sahen. Vieles war nur in einer bestimmten Art und Weise gesellschaftlich konform. Man machte es so, wie es schon immer gemacht worden war.

Früher erzog man so, wie es schon immer gemacht wurde. Heute geht es für Eltern oft um die richtige Wahl.

Es gab weniger Möglichkeiten, weniger zu essen, weniger Zimmer, weniger Geschenke. Es waren viel öfter die existenziellen Probleme, die Schuldgefühle auslösten. Genau dies erschwert heute den Vergleich. Während die Eltern damals anscheinend nichts dafür konnten, was den Kindern verwehrt blieb, geht es ­heute oft um das Mass, die richtige Wahl und darum, wann es zu viel ist.

Bereits vor der Geburt des Kindes wird man mit einer riesigen Masse an Erziehungsratgebern konfrontiert. Dann geht es bald los mit der Förderung, neben Kindergarten und Schule dürfen Musik, Sport, Tanz und das Kennenlernen anderer Kulturen nicht fehlen. Dies alles bedingt einen Anspruch, der heute an Mütter und Väter gestellt wird.

Es entsteht eine dauernde Konfrontation damit, dass man mehr tun könnte, um seinem Kind ­die besten Voraussetzungen mitzugeben. Un­sere Gesellschaft hat gelernt, dass Optimieren funktioniert. Die Erziehung wird da nicht ausgenommen. Durch die vielen Angebote und Erziehungsmethoden entsteht auch eine Eigendynamik unter Eltern. Im guten Willen gibt man sich gegenseitig Tipps und baut damit zusätzlich Druck auf.

Was bewirken die Schuldgefühle ­erwerbstätiger Mütter bei Kindern?

In einer Studie der Universität Bonn wurden Grundschulkinder in ihrer Sicht auf die Erwerbstätigkeit der eigenen Mütter befragt. Die Haltung der Kinder fiel dabei sehr positiv aus und ist damit konform mit Befunden weiterer Umfragen der letzten Jahre, in denen sich Kinder mehrheitlich stolz über die Berufstätigkeit ihrer Mütter äusserten.

Die Sicht der eigenen Kinder auf die Erwerbstätigkeit und dementsprechende Abwesenheit ihrer Mütter erweist sich gemäss der Studie als sehr bedeutend für die Ausprägung von Schuld­gefühlen. Bei einer negativen Sicht auf die mütterliche Erwerbstätigkeit wirkten sich Schuldgefühle der Mutter nachteilig auf das kindliche Wohl­ergehen aus. Wird dem Kind hingegen ein ­positiver, natürlicher Umgang mit der Erwerbstätigkeit der Mutter vermittelt, sind die innerpsychischen Schuldgefühle der Mutter für das Kind nicht sonderlich bedeutsam. Diese Erkenntnisse lassen sich auf den Alltag übertragen: 

  • Betonen Sie berufsbezogene Schuldgefühle nicht gegenüber dem Kind. 
  • Personen in der Umgebung des Kindes sollten sich nicht negativ über die Berufs­tätigkeit der Mutter äussern.

Die Flut von guten Tipps als Teil des Problems

Bekannte, Familie, Bücher und das Internet führen Eltern zum Teil aufdringlich vor, was in der Erziehung ­richtig und falsch sein soll. Jürg Koll­brunner sagt dazu: «Die Beschäftigung mit möglichen Erziehungsfehlern scheint unter Eltern fast eine kollektive Sucht geworden zu sein.» Diese Flut an gut gemeinten Ratschlägen, Tipps und eigenen Erfahrungen sei jedoch oft Teil des Problems. Kollbrunner erklärt: «Gute Ratschläge wirken oft wie indirekte Beschuldigungen, die unterschwellig sogar stärker negativ aufgefasst werden können als direkte.»

Dazu kommen endlose Paraden von fitten und schicken Instagram-Müttern, die uns aus perfekten Kinderzimmern mit ihren gestylten Kindern entgegenstrahlen, windelfrei, attachment parented und als Teenies Bestfriends mit ihren Eltern. «Sie machen uns glauben, dass sie ihre Kinder immer in den Mittelpunkt stellen, dass sie diese viel mehr als die Berufstätigkeit lieben und dass das Geld keine Rolle spielt, weil man es einfach hat», sagt Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg sowie Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Aarau.

Um die verinnerlichten Ideale von der inneren Wahrheit zu trennen, spricht Raphael Bonelli die Wichtigkeit an, unsere Schuldge­fühle nicht zur Seite zu schieben, sondern als eine Art Warnsignal zu prüfen: Hätte man zum Wohl der Kinder während der Trennung anders kommunizieren sollen, hätte man mehr zu ­Hause sein sollen? Hätte man da nicht so laut schimpfen sollen? Wird gerade eine berechtigte Schuld angezeigt oder eine, die über die Ideale aus Filmen, Literatur, aus Werbung eingeimpft wurde?

Hinter anerzogenen Schuldgefühlen steht jemand, vor dessen Liebesverlust wir uns fürchten.

Die sogenannten authentischen Schuldgefühle entstehen dann, wenn wir jemand anderen oder uns selbst ­tatsächlich schädigen. Die Wissenschaft spricht dabei von intuitivem Bewusstsein, einem inneren Schmerz, mit dem wir auf unser eigenes Fehlverhalten reagieren. Dies steht im Gegensatz zu anerzogenen Schuldgefühlen. Sie wurden uns eingeredet, um uns dazu zu bringen, uns auf eine bestimmte Art zu verhalten.

Zum Beispiel um immer erst an andere zu denken anstatt an uns selbst. Das wird problematisch, wenn man sich deshalb – unberechtigt – immer wieder schuldig fühlt. Und da ständige Schuldgefühle hemmen und emo­tional aufreiben, stören sie irgendwann nicht nur die Person, die diese Gefühle plagen, sondern auch ihr Umfeld. Denn chronisch können sie unter anderem zu Schlafstörungen, Aggressionen oder depressiven Zuständen führen.

Suchen Sie professionelle Unterstützung:
Wenn Schuldgefühle überhandnehmen und Sie …

  • sich sofort beschuldigt fühlen.
  • bei Kleinigkeiten Wutausbrüche ­bekommen.
  • kränkende Witze machen, die nur lustig gemeint seien.

Gegen das Wohl der Kinder handeln?

Hinter den unberechtigten Schuldgefühlen steht eine Gesellschaft oder eine Autoritätsperson, vor deren Liebesverlust wir uns fürchten. ­Diese zu identifizieren und zu reflektieren, kann dabei helfen, sie künftig gar nicht erst so intensiv wahrzunehmen.

Die berechtigten Schuldgefühle hingegen sollte man nicht einfach beiseiteschieben. Denn davon auszugehen, dass Eltern nie bewusst gegen das Wohl ihrer Kinder handeln würden, wäre falsch, sagt Jürg Kollbrunner. Auch Eltern machen Fehler. Sei es aus Bequemlichkeit oder wegen schlecht überprüften fixen Ideen wie «ein paar Schläge haben noch keinem Kind geschadet». Oder einfach aus einer Überforderung heraus.

Wenn der vierjährige Max ­trotzte, wenn er nicht mehr zu beruhigen war, wusste sich seine Mutter Nina manchmal nicht mehr zu helfen. Als ihre Worte nicht mehr zu ihm durchdrangen und die Verzweiflung in Wut umschlug, rutschte ihr die Hand aus. Danach war er ruhig. So wie sie auch. Das Drama war vorbei, doch der Kloss in ihrem Hals sass fest.

Die Wurzel der Schuldgefühle erkennen

Schuldgefühle zu hinterfragen, ist wichtig, um sich Dinge einzugestehen, die man tatsächlich falsch gemacht hat oder besser hätte machen können. Es geht darum, die Wurzel zu erkennen und das, woran man arbeiten kann.

Eine Entschuldigung kann helfen, Verzeihung zu erfahren – vom Gegenüber oder von sich selbst.

Nina hatte ein Plakat gesehen zum Thema Gewalt. Darauf stand eine Telefonnummer, unter der man Hilfe bekommen würde, wenn man glaube, sich nicht unter Kontrolle zu haben. Das Plakat war für Männer gedacht, doch Nina meldete sich trotzdem und wurde schnell weiterverwiesen. Man sollte sich Hilfe holen, sobald man das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren, sobald man weiss, dass man etwas tut, das anderen oder auch einem selbst Schmerzen zufügt. Und wenn man sich selbst nicht mehr ausstehen kann.

Diese Hilfe kann erst einmal nur in anonymen Gesprächen bestehen. Darin, auszusprechen, was man getan hat, und dafür keine Verurteilung zu erfahren, sondern Unterstützung in einer Veränderung der Situation. Eine Entschuldigung kann helfen, Verzeihung zu erfahren – vom Gegenüber oder von sich selbst.

«Wenn wir die hinter Schuldgefühlen stehende Schuld verstehen, können wir nicht nur unser Verschulden bedauern, uns entschuldigen, um Verzeihung bitten und uns um Wiedergutmachung bemühen, sondern wir können auch lernen, in der Zukunft das schuldhafte Verhalten zu vermeiden», betont Jürg Kollbrunner. Oder wir können eben erkennen, dass die Schuld nicht so schwer wiegt wie gedacht.

Was unterscheidet das schlechte Gewissen von Schuldgefühlen?

Ein Schuldgefühl ist das klare Gefühl, sich verschuldet zu haben, wogegen ein schlechtes Gewissen nur aus einer Ahnung besteht. Beim Schuldgefühl ist man davon überzeugt, sich schuldig gemacht zu haben, und übernimmt damit ­Verantwortung. Unabhängig davon, ob eine objektive Schuld vorliegt oder nicht.

Beim schlechten Gewissen hingegen ahnt man eine Schuld, versucht sich aber deren Wahrnehmung zu entziehen. Wer also sein Ahnungsbewusstsein ernst nimmt, zieht es in seine Entscheidungen bewusst mit ein und fühlt sich schuldig. Wer sein Ahnungsbewusstsein verdrängt («Ich habe ja gar nichts gemacht»), hofft, dass niemand darauf reagiert und es einem erspart bleibt, Verantwortung übernehmen zu müssen. Trotzdem kann einen das schlechte Gewissen dann plagen.

In der Kindererziehung spielt das Ahnungsbewusstsein eine besonders wichtige Rolle. Eltern erleben oft Situationen, in denen sie vom Kind etwas fordern – sei es auch bittend oder garniert mit Erklärungen –, nicht weil es für das Kind gut wäre, sondern weil es bequemer für die Eltern ist. Wenn solche kleinen Unehrlichkeiten wiederholt auftreten, erzeugen sie im Kind eine Unsicherheit und im Erwachsenen ein schlechtes Gewissen.

Literatur

Jana Avanzini
arbeitet als freie Journalistin, Texterin und Theatermacherin. Sie lebt mit ihrem Partner und dem gemeinsamen Sohn in Luzern.

Alle Artikel von Jana Avanzini

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