Hallo Chaos – oder was ­Elternsein mit Physik zu tun hat
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Hallo Chaos – oder was ­Elternsein mit Physik zu tun hat

Lesedauer: 2 Minuten

Ist der familiäre Siedepunkt erreicht, scheitert das Runterkühlen oft grandios. Umso grösser die Freude, wenn es doch gelingt. Unsere Kolumnistin über einen Heureka-Moment.

Text: Mirjam Oertli
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Manchmal wüsste ich gern mehr über Physik. Neulich zum Beispiel, als ich abends heimkam und auf ein drohendes Chaos stiess. Da war die grössere Tochter, die so aufgekratzt herumfegte, als könnte sie ihren Test vom nächsten Tag mit Schwung in die Zukunft befördern. Da war der Jüngste, der mir sein neustes Bastelwerk vorführen wollte – ein Schiff –, und dies sowohl lautstark als auch sofort.

Und da war ein bedrückt herumschleichendes Mittelkind, das nicht nur den Lärm, sondern auch Kopfweh beklagte. Mein Mann, mittendrin, hielt währenddessen das Abend­essen vom Überkochen ab. Dasselbe mit der familiären Stimmung zu tun, konnte ihm schon rein zeitlich nicht gelingen.

Ich kam heim, die Nerven nach einem ‹Auswärtstag› noch frisch. Familienfrisch jedenfalls, was eine wundersame Dreiteilung meiner Selbst erleichterte.

Nun wäre Physik hier ja mehrfach praktisch, auch über Siedepunkte hinaus. Man könnte dem Sohn die Schieflage des Schiffes fachkundig erklären. Also anders, als ich es später tat. Auch müsste man Kinder nicht hilflos der «Induktion oder so» überlassen, dem Stoff von Tochters Test. Nur beim Befördern von dessen Termin in die Zukunft wäre wohl nichts zu machen. Doch dass ich naturwissenschaftlichen Background vermisse, hat andere Gründe. Ich komme darauf zurück.

Erst aber kam ich heim, die Nerven nach einem «Auswärtstag» noch frisch. Familienfrisch jedenfalls, was eine nun folgende wundersame Dreiteilung meiner Selbst wenigstens erleichterte. Sanft umarmte ich also das «Kopfwehkind» und kramte das Pfefferminzöl hervor. Beruhigte zeitgleich die Lerngeplagte mit der Aussicht auf Online-Nachhilfe und der Einsicht, ein «Abschiffer» sei nicht das Ende der Welt, trotz allem. Und daneben, mit ungeteilter Aufmerksamkeit, verfolgte ich eine wacklige Jungfernfahrt in der Badewanne.

Der Physik-Moment

Dabei passierte Bemerkenswertes: Es breitete sich Ruhe aus im eben noch brodelnden Bottich familiären Feierabends. Und schon war er da: so ein Physik-Moment. Denn sofort fiel mir auf, was gelungen war – weil es ja öfters eben nicht gelingt. Oder ins Gegenteil kippt, selbst mit halbfrischen Nerven. Ein unbedachtes «Jetzt mal alle ruhig!» beim Heimkommen und ich hätte auch an diesem Abend locker zum Schmetterling werden können, der in der Wohnungstür die Flügel bewegt und in den Kinderzimmern Tornados auslöst. 

So weiss ich ganz ohne Theorie, wie mühelos man ins Chaos schlittern kann. Aber umgekehrt? Eben. Mit fundierter Kenntnis von undurchsichtigen Mechanismen dynamisch-komplexer (Familien-)Systeme und ihren Anfangsbedingungen allerdings  … wer weiss? Dazu ein Verständnis der Formeln dahinter und schon gelänge so eine Systemstabilisierung doch mit links. Oder sicherlich häufiger. Das bilde ich mir in solchen Momenten ein.

Doch während ich noch dem Schiff beim Kentern zuschaute und unwissend an Formeln dachte, wurde mir etwas anderes klar: Um zu bedauern, wie oft das «System» entgleist – und dass ich das nicht zu verhindern weiss –, ist dieser gelungene Abend der falsche Zeitpunkt. So jubelte ich nun still in mich hinein und feierte den Zufall. Auch könnte ich künftig mehr an Schmetterlinge denken, beschloss ich noch. Und fast hätte ich Heureka gerufen, als ich vom Badewannenrand aufstand.

Mirjam Oertli
ist freie Journalistin und Buchautorin («Wer auf dem Handy kein gratis Internet hat, ist tot!», «Jetzt stellen Sie doch das Kind mal ruhig!»). Sie ist Mutter von zwei Teenagern und einem Primarschulkind und lebt mit ihrer Familie in Luzern.

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