Wenn Kinder in alten Wunden wühlen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn Kinder in alten Wunden wühlen

Lesedauer: 5 Minuten

Eltern wollen freundlich sein, den Kindern stets zugewandt, sie liebevoll führen. Nicht drohen. Nie laut werden. Nur: Warum gelingt uns das im Alltag oft nicht? Einer der Gründe geht weit in unsere eigene Kindheit zurück.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Neulich in einem unserer Seminare: «Manchmal kann ich nicht anders. Da drücken die Kinder meine Knöpfe, und zack! Wirft es mich mal wieder aus der Bahn», erzählte mir eine Mutter. «Dann überreagiere ich, werde grob, schreie herum, bin patzig, drohe, strafe, schmolle, bin plötzlich so verletzt, so verzweifelt und hilflos, könnte heulen. Später tut es mir dann leid und ich schäme mich, ich wollte es doch anders machen. Wieso kriege ich das nicht hin?», fragt sie in die Runde. Viele andere Teilnehmer nicken.

Kennen Sie das? Ja? Dann lassen Sie uns gemeinsam erkunden, warum es manchmal so schwer sein kann, besonnen zu reagieren. So viel vorweg: Natürlich sind wir alle nur Menschen. Der Tag war lang, die To-do-Liste auch, man ist müde, hat sich schon den ganzen Tag zusammengerissen und dann kommt der Moment – die zankenden Geschwister am Esstisch, die Weigerung ins Bett zu gehen –, der das Fass zum Überlaufen bringt. «Ego depletion» nennen Sozialpsychologen dieses Phänomen, die Erschöpfung unserer Willenskraft nach vielen, anstrengenden Aufgaben.

Wann werden Sie emotional?

Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen nicht nur die Alltagserschöpfung den Ausschlag gibt, sondern Wunden aus der eigenen Kindheit der Grund dafür sind, dass wir die Nerven verlieren. «Die emotionalen Zustände unserer Kindheit und Jugend sind wie schlafende Quälgeister, die bestimmte Reize oder Situationen wachrütteln und deren Treiben wir dann hilflos ausgeliefert sind», schreibt die Psychotherapeutin Gitta Jacob in ihrem Buch «Raus aus Schema F». Überlegen Sie für sich, in welchen Momenten Sie übermässig emotional reagieren, ihre Knöpfe gedrückt werden: Was haben diese gemeinsam? Und welche Gedanken gehen Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?

Buchtipp

Ich liebe dich, so wie du bist
Wie wir die Gefühle unserer Kinder annehmen, verstehen und liebevoll begleiten.

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund. Herder 2023, ca. 30 Franken.

Wir alle möchten, dass sich unsere Kinder in der Beziehung zu uns sicher, geborgen und geliebt fühlen:

Aber oft scheitern wir als Eltern an der Realität. Unsere Kinder können uns mit ihren emotionalen Ausbrüchen überfordern und uns mit ihrem Verhalten zur Weißglut treiben.

Sie drücken unsere Knöpfe, wühlen in alten Wunden und schon fahren unsere Gefühle Achterbahn: Plötzlich reagiert man unverhältnismäßig stark, wird laut und patzig, droht und schmollt, ist auf einmal so tief verletzt, verzweifelt oder hilflos. Hinterher tut es einem leid, man schämt sich und versteht nicht, wie man wieder einmal so aus der Haut fahren konnte.

Niemandem gelingt es immer, gelassen und einfühlsam zu reagieren. Aber wir können uns mit unseren Kindern auf den Weg machen: Gemeinsam können wir lernen, unsere Gefühle besser zu verstehen, sie anzunehmen und konstruktiv auszudrücken. An manchen Tagen gelingt uns das ­besser, an anderen schlechter. Wichtig ist, dass unsere Kinder merken, dass wir uns immer wieder darum bemühen.

Aufbauend auf den besten Kolumnen aus dem Schweizer Elternmagazin Fritz+Fränzi von Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler begleitet Sie dieses Buch auf diesem Weg: Mit vielen konkreten Alltagsbeispielen, Übungen und Impulsen für herausfordernde Situationen.

Eine Mutter stellte dabei fest, dass sie immer dann die Nerven verliert, wenn sie den Eindruck hat, von ihren Kindern ignoriert zu werden. Beim letzten Mal sass sie mit der 14-jährigen Tochter im Wohnzimmer und wollte sich mit ihr unterhalten. Diese tippte aber ständig auf ihrem Handy herum und blickte kaum vom Bildschirm auf. «Mein Mann kann gut darüber hinwegsehen, sagt, sie ist halt in der Pubertät und es ist normal, dass sie nicht mehr so viel erzählt, aber ich kann das nicht so sehen: Ich sitze dann da und komme mir so blöd vor, bin plötzlich tief verletzt, traurig und einsam, obwohl unsere anderen Kinder im selben Raum sind. Und dann rede ich den ganzen Tag kein Wort mehr mit meiner Tochter, vielleicht auch, um sie spüren zu lassen, wie das ist. Total unreif, ich weiss», erzählt sie. Bei der Frage nach ihren Gedanken hält sie inne: «Da ist der Gedanke: Ich werde nicht gehört! Was du willst, zählt nicht! Du bist nicht wichtig! Du fällst zur Last!»

Glaubenssätze sind tief in uns wurzelnde Überzeugungen über uns selbst, die Welt und unsere Beziehungen.

Bei näherer Betrachtung wird klar, dass sich diese Glaubenssätze schon früh eingebrannt haben. Glaubenssätze sind tief in uns wurzelnde Überzeugungen über uns selbst, die Welt und unsere Beziehungen, die wir im Laufe unserer Kindheit aufbauen.

Wenn unseren Grundbedürfnissen nach Bindung, Sicherheit, Anerkennung und Wertschätzung, nach Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit sowie nach unbeschwerten Momenten in der Kindheit ausreichend Beachtung geschenkt wird, bilden wir eher positive Glaubenssätze aus, beispielsweise «Ich darf so sein, wie ich bin», «Ich bin willkommen », «Ich bin gut genug». Werden Grundbedürfnisse hingegen verletzt, setzen sich eher negative Glaubenssätze in uns fest, wie «Ich bin eine Belastung», «Keiner nimmt mich ernst», «Niemand sieht mich», «Ich komme zu kurz».

Diese Überzeugungen haften uns unbewusst bis ins Erwachsenenleben an – sie steuern unser Denken, Empfinden und Handeln mit. Die Mutter im obigen Beispiel erkannte, dass sie in ihrer eigenen Kindheit zwar einen recht guten Draht zu ihren Eltern hatte, diese aber beruflich enorm eingespannt waren. Im Alltag mit ihren vier Geschwistern wurde sie wenig gesehen und häufig übergangen. Nachts habe sie im grossen Haus oft Angst gehabt und nach ihren Eltern gerufen, aber niemand sei gekommen. Und wenn sie heute als Erwachsene den Eindruck hat, nicht beachtet zu werden, sind all die alten Gefühle mit voller Wucht wieder da: die Einsamkeit, die Trauer, die Angst, die Scham. Das geht ihr nicht nur mit den Kindern so, sondern auch in beruflichen Sitzungen. 

Bei einem Vater ist es die Unzufriedenheit der Kinder, die ihn triggert: «Da nehme ich mir am Wochenende extra Zeit, plane einen Ausflug und will, dass alle Spass haben. Und morgens kommen die Kinder nicht in die Gänge, ziehen im Auto eine Schnute, die Kleine nölt herum.» Dann packt ihn der Zorn. Er wird laut, wirft den Kindern vor, undankbar zu sein, und erwartet, dass sie sich zusammenreissen. Wenn die Kleinen nicht sofort einlenken, fühlt er sich ohnmächtig und würde sie am liebsten an Ort und Stelle stehen lassen. 

Was uns die Spurensuche bringt

Der Rückblick in seine eigene Biografie offenbart, dass er als Kind immer den Eindruck hatte, zu kurz zu kommen. Die eigenen Eltern erlebte er als fordernd, streng und distanziert. Oft fühlte er sich gegenüber den Klassenkameraden minderwertig, weil sich die Familie nur wenig leisten konnte.

Noch immer hallen bei ihm die mahnenden Worte seiner Eltern nach: «Im Leben wird dir nichts geschenkt!» oder «Sei gefälligst dankbar für das, was du hast. Anderen geht es viel schlechter!». Nun bietet er seinen Kindern so vieles, was er selbst vermissen musste, und trotzdem scheint er sie nicht «zufriedenstellen zu können», damals wie heute «genügt er scheinbar nicht». 

Wir können uns bewusst machen, dass wir häufig auf unsere bisherige Lebensgeschichte reagieren.

Oft tut es Menschen weh, wenn sie erkennen, wie sie für die eigenen Eltern sein mussten, um akzeptiert zu werden, welche eigenen Bedürfnisse verletzt oder missachtet wurden und welche Glaubenssätze sich eingebrannt haben. Dies kann uns aber auch auf einen produktiven Pfad führen: Wir können uns bewusst machen, dass wir häufig auf unsere bisherige Lebensgeschichte reagieren – und nicht auf das momentane Aussen.

Und wir können mehr Mitgefühl mit uns und Fürsorge für uns selbst entwickeln für die Momente, die uns tiefer treffen als andere. Manchmal reicht dazu ein Buch, zum Beispiel Stefanie Stahls «Das Kind in dir muss Heimat finden» oder eben Gitta Jacobs «Raus aus Schema F». Manchmal braucht es dazu die Begleitung einer Fachperson. 

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Rietzler ist Mutter eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Alle Artikel von Stefanie Rietzler

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