Wie stärkt man das kindliche Immunsystem?
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Wie stärkt man das kindliche Immunsystem?

Lesedauer: 6 Minuten

Wir alle haben es von Kindesbeinen an gepredigt bekommen: Vitamine essen und viel an die frische Luft stärkt das Immunsystem! Aber was genau ist das eigentlich, ­dieses ­ominöse Immunsystem? Wie funktioniert es? Und profitiert es tatsächlich von der täglichen Portion Brokkoli und einem Spaziergang?

Text: Claudia Füssler
Bild: Deepol plainpicture

Wir leben in einer Welt, in der wir ständig Viren, Bakterien, Pilzen und Para­siten ausgesetzt sind. Viele davon können uns nichts anhaben, andere wiederum richten beträchtlichen Schaden an, wenn sie in unseren Körper gelangen und sich dort vermehren. Unser Immunsystem hat die Aufgabe, uns vor den potenziell krank machenden Keimen zu schützen. Gleichzeitig aber, und darin liegt eine besondere Herausforderung, muss es sich selbst regulieren und in Balance halten.

Und zwar so, dass die Abwehrfunktion, die gegen Eindringlinge von aussen gedacht ist, sich nicht auch gegen die eigenen Zellen richtet. Eine dritte Funktion des Immunsystems ist es, körper­eigene Zellen, die alt oder bösartig verändert sind, zu eliminieren – so wird unter anderem die Bildung von Tumoren verhindert.

«Es sind sehr viele Teile in unserem Körper ständig damit beschäftigt, uns zu schützen, und zwar so, dass wir es nicht einmal mitbekommen», sagt Jana Pachlopnik Schmid, Assistenzprofessorin Pädiatrische Immunologie am Universitäts-­Kinderspital Zürich. Dass unser Immunsystem arbeitet, bemerken wir meist dann, wenn es Probleme gibt: Eine Entzündung zum Beispiel ist ein klares Signal, dass unser Körper an der Stelle, wo diese auftritt, versucht, etwas zu bekämpfen.

Ein komplexes System

Weil unser Immunsystem aus mehreren Organen und Zellsystemen besteht, ist es hochkomplex. «Jeder Teil in der gesamten Konstruktion hat seine eigene, sehr spezielle Aufgabe», sagt Pachlopnik. Schleim­häute zum Beispiel binden Fremdkörper und transportieren sie ab. Im Blut kümmern sich vor allem Antikörper und weisse Blutkörperchen – darunter sogenannte Granulo­­­­­­­zy­­­ten und Lymphozyten – um die Feindabwehr.

Während Granulozyten auf Bakterien und Pilze spezialisiert sind, spielt eine Untergruppe von Lymphozyten eine wichtige Rolle bei der Abwehr von Viren. «Es ist wichtig, dass jede Komponente für sich gut funktioniert, sie aber gleichzeitig auch ihre Aufgabe im grossen System wahrnimmt», sagt Pachlopnik. Eine Störung auf einer Ebene kann schnell das ganze System ins Wanken bringen.

Funktioniert eine Komponente von Geburt an nicht, sprechen Mediziner von einem angeborenen Immundefekt. Mehr als 400 verschiedene solcher Defekte gibt es. «Sie sind jedoch sehr selten», sagt Pachlopnik, «etwa eines von zehntausend Neugeborenen leidet daran.»

Intakt, aber unreif

Seit 2019 werden in der Schweiz Neugeborene bereits einige Tage nach der Geburt beim sogenannten Neugeborenen-Screening auf schwere Immundefekte untersucht. Werden diese früh erkannt, können oft schwere Organschäden verhindert werden.  

Bei den allermeisten Kindern also ist das Immunsystem intakt, wenn sie auf die Welt kommen. Allerdings etwas unreif. Das liegt daran, dass es über zwei verschiedene Mechanismen verfügt: die sogenannte angeborene und die sogenannte adaptive Immunabwehr. Der angeborene Teil des Immunsystems ist darauf ausgelegt, fremde Stoffe und Lebewesen schnell zu erkennen und anzugreifen.

Es ist sehr effizient und reagiert schon nach wenigen Minuten. Spätestens nach einigen Stunden ist der Eindringling dann beseitigt. Die angeborene Immunabwehr funktioniert ein Leben lang und fängt den Hauptteil der Infektionen ganz automatisch ab. Sie ist quasi eine Lebensversicherung, ohne die wir ziemlich schnell Probleme bekommen würden.

Die adaptive Immunabwehr hingegen entwickelt sich erst im Laufe unseres Lebens, indem unser Immunsystem lernt. Es stuft sämt­liche Keime, die irgendwie den Weg an und in unseren Körper finden, ein: Sind die ungefährlich? Oder muss hier dringend reagiert werden? Das Lernen funktioniert auf zwei Wegen: durch Impfungen und durch überstandene Infektionen.

Ein Kind mit einem gesunden Immunsystem darf und soll auch im Dreck spielen.

Jana Pachlopnik Schmid, Assistenzprofessorin Pädiatrische Immunologie am ­Kinderspital Zürich

Eltern erleben das vor allem in der Phase, wenn der Nachwuchs in die Kita kommt und sich die Zahl der Keime, mit denen Sohn oder Tochter in Kontakt kommen, sprunghaft erhöht: Plötzlich gehört der Schnupfen zum Alltag.

Zum Glück, denn so trainiert sich das Immunsystem. «Wir beobachten, dass Kinder, die früher in die Kita gehen, später in der Schule deutlich weniger Infektionen haben als diejenigen, die länger zu Hause behalten worden sind», sagt Pachlopnik. Besondere Hygienemassnahmen wie das Desinfizieren von Spielzeug sind unnötig. «Ein Kind mit einem gesunden Immunsystem darf und soll auch im Dreck spielen», sagt Pachlopnik.

Prävention durch Impfung

Ein junger Körper muss sich mit jedem fremden Erreger, der eintrifft, neu auseinandersetzen. Das fällt umso leichter, je bekannter dieser Erreger ist. Nach dem Motto: Ah, den habe ich schon mal gesehen und erfolgreich bekämpft, ich weiss, wie man gegen diese Typen vorgehen muss.

Vor allem dann, wenn es sich um Bakterien und Viren handelt, die schwere Erkrankungen auslösen können, wäre ein bisschen Erfahrung hilfreich. «Impfungen gehören daher zu den wichtigsten Präven­tionsmassnahmen», sagt Volker Schuster, Leiter der Leipziger Uni-Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin. «Sie trainieren das Immunsystem des Kindes für den Fall, dass es später mit diesen Keimen in Kontakt kommt.» Die Erkrankung verläuft dann milder oder sogar ganz symptomfrei.

So funktioniert unser Immunsystem

Aus diesen Bestandteilen setzt sich unser Krankheitsschutz zusammen:

Mechanische und biochemische Barrieren bilden quasi die erste Verteidigungslinie gegen Eindringlinge. Dazu gehören die Haut, auf der sich dank Schweiss und eines bestimmten Bakterienfilms krank machende Keime schlecht vermehren können, und die Schleimhäute, die Keime binden und abtransportieren.

Die Zellen des Immunsystems können aus den Blutgefässen und Lymphbahnen dorthin wandern, wo eine Infektion den Körper bedroht. Manche sind in der Lage, die Erreger zu fressen und zu verdauen, andere schütten bestimmte Stoffe aus, die andere Abwehrzellen herbeirufen, damit diese sich um die Infektion kümmern können.

Sogenannte Plasmaproteine schwimmen im Blut, der Gewebeflüssigkeit und der Lymphe. Sie können sich im Gegensatz zu den Abwehrzellen nicht aktiv bewegen. Die bekanntesten Plasmaproteine sind Antikörper, die Eindringlinge erkennen können. Sie inaktivieren diese oder markieren sie, so dass Fresszellen darauf aufmerksam werden können.

Immunologische Psychofaktoren werden erst seit wenigen Jahrzehnten als Teil des Immunsystems gesehen. Wissenschaftler haben erkannt, dass das Immunsystem mit dem zentralen Nervensystem in Verbindung steht, heisst: Die Psyche wirkt auf das Immunsystem. So lässt sich erklären, warum psychologische Prozesse wie Angst, Stress oder Depression sich auf körperliche Funktionen auswirken können.

Bei Ihrem Kind jagt gefühlt ein Infekt den nächsten und Sie fragen sich: Wie viel Kranksein ist noch normal? Ab wann muss ich mir Sorgen machen? Mediziner orientieren sich an bestimmten «Normwerten», um einschätzen zu können, wie es um das Immunsystem eines Kindes bestellt ist. So gelten bis zur Vorschulzeit zehn bis zwölf Infekte der Atemwege pro Jahr als «normal».

Zum Vergleich: Bei Erwachsenen sind es vier. Hinweise auf eine zu starke Infektanfälligkeit, die einen Defekt im Immunsystem zur Ursache haben könnte, können sein: mehr als zwei Lungenentzündungen pro Jahr, mehr als acht Mittelohrentzündungen pro Jahr oder mehr als zwei schwere Nasennebenhöhlenentzündungen pro Jahr. Sollten Sie das Gefühl haben, Ihr Kind ist ständig krank, sprechen Sie darüber mit Ihrem Kinderarzt. Er wird Ihnen helfen, das einzuordnen und abzuklären.

Am Anfang steht der Nestschutz

Wie der Mensch auch, entwickelt sich das Immunsystem. In den ersten sechs Monaten nach der Geburt profitieren wir von Antikörpern, die unsere Mutter uns mitgegeben hat, sie erzeugen den sogenannten Nestschutz. Deren Zahl nimmt sukzessive ab, während das Immunsystem des Neugeborenen die eigene Produktion von Antikörpern hochfährt und mit dem Lernen beginnt.

«Im höheren Alter erschöpft sich dieser Mechanismus langsam», erklärt Schuster. «Das bedeutet, dass wir in Bereichen, in denen wir bisher geschützt waren, plötzlich wieder anfälliger werden und Infektionen gehäufter auftreten können.»

Ein gesundes Immunsystem muss in Balance sein, um zu funktionieren.

Diese Ermüdung ist auch ein Grund dafür, weshalb Krebs häufiger im Alter auftritt: Das Immun­system ist weniger fit, es fällt ihm immer schwerer, alle bösartigen Zellen ausfindig zu machen und zu zerstören. Deswegen denken Mediziner beispielsweise darüber nach, ältere Menschen nachzuimpfen und Impfungen, die sie im Kindes- oder jungen Erwachsenenalter erhalten haben, noch einmal aufzufrischen.

Ein gesundes Immunsystem muss in Balance sein, um zu funktionieren. Dieses ständige Austarieren aller Beteiligten ist diffizil und macht es empfänglich für Veränderungen von aussen. Was klug ist, denn nur so kann es schnell genug auf seine Umgebung reagieren. 

Ganz besonders wichtig, auch für Schulkinder, ist ein fester Schlafrhythmus.

«Wer sein Immunsystem stärken möchte, sollte das daher behutsam und mit gesundem Menschenverstand tun, immer in dem Bewusstsein, dass man da in ein Netzwerk eingreift, das nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden sollte», sagt Pachlopnik. So scheint zwar der eine in den kalten Monaten alle vier Wochen auf Halsweh und Husten setzen zu können, während die andere mit einer einzigen Erkältung durch den Winter kommt.

Die eine reagiert auf Klimaanlagen schnell mit Schnupfen, dem anderen macht der ständige Wechsel von warmer und kühler Luft nichts aus. Grund zur Sorge ist das alles nicht. «Es gibt ein gewisses Spektrum des Normalen», sagt Pachlopnik.

Eine ausgewogene Ernährung, ausreichend Schlaf

Innerhalb dieser Grenzen lässt sich dem Immunsystem durchaus Gutes tun. Das Wichtigste ist ein geregelter Lebensstil. «Das Immunsystem arbeitet zyklisch, und je regelmässiger dieser Zyklus ist, umso besser kann es funktionieren», erklärt Pachlopnik. Ganz besonders wichtig, auch für Schulkinder, ist daher ein fester Schlafrhythmus.

Eine ausgewogene Ernährung ist nötig, damit das Immunsystem auf sämtliche Nährstoffe zurückgreifen kann, die es für die unterschiedlichen Pro­zesse braucht. Impfungen schützen ­vor potenziell lebensbedrohlichen Erkrankungen und viel Bewegung an der frischen Luft sorgt dafür, dass der Körper das für das Immunsystem wichtige Vitamin D produzieren kann.

Durch Rauchen, Alkohol und Drogen wird das Immunsystem geschwächt.

Besonders für Jugendliche gilt: Rauchen, Alkohol und Drogen schwächen das Immunsystem. Es muss sich darum kümmern, die aufgenommenen Giftstoffe zu beseitigen und kann so seiner eigentlichen Aufgabe nicht nachkommen.

«Ausserdem können die Gifte Zellen der Schleimhaut zerstören und eine überschiessende Entzündung hervorrufen, während sie gleichzeitig die Abwehr von Viren durch weisse Blutkörperchen behindern», sagt Pachlopnik. Die gute Nachricht: Weil unser Immunsystem so flexibel ist, erholt es sich auch dann, wenn wir es eine Weile eher stiefmütterlich behandeln.

Claudia Füssler
arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Am liebsten schreibt sie über Medizin, Biologie und Psychologie.

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