Wie ich im Chindsgi meinen Freund fand
Unser Kolumnist Mikael Krogerus über die erstaunliche Freundschaftsfähigkeit von Kindergartenkindern.
Mein ältester Freund heisst Patrick. Wir lernten uns im Sandkasten des Kindergartens kennen, und die Chemie stimmte sofort. In meiner Erinnerung stand er plötzlich einfach vor mir, kurz beschnupperten wir uns wie junge Hunde und kamen dann spontan und gleichzeitig zu dem Entschluss, dass wir Freunde sind. Viel ist in der Weltliteratur über Liebe auf den ersten Blick geschrieben worden, aber noch kein Wort über die wirklich erstaunliche Freundschaftsfähigkeit von Kindergartenkindern.
Aber wieso mögen sich Kinder? Nach welchen Kriterien geht man im Alter von vier Jahren eine Freundschaft ein? Eine Untersuchung, die in der Entwicklungspsychologie als Klassiker gilt, ist der Frage nachgegangen: 36 Kinder im Alter von drei bis neun Jahren – sie kannten sich vorher nicht – wurden in Zweiergruppen aufgeteilt, diese trafen sich je dreimal zum Spielen. Funktioniert hat es immer dann, stellten die Forscher fest, wenn die Kinder gemeinsam Spass erleben konnten.
Wir hatten noch weitere Gemeinsamkeiten: eine Abneigung gegenüber Milchreis und Aufräumen und eine Vorliebe für fantastische Geschichten.
Das ist natürlich komplexer, als es klingt. Um Spass zu haben, müssen sich beide Kinder so verhalten, dass es dem anderen passt, muss der Balanceakt zwischen Freundlichkeit und Gefallsucht beherrscht werden, muss irgendwie die Vorstellung von Freude (oder auch Abneigung) gleich gepolt sein. Es geht, schlussfolgerten die Forscher, um Ähnlichkeiten, darum, die Welt mit gleichen Augen zu sehen und aber auch darum, wie wir uns in der Gegenwart des anderen fühlen.
Was die Freunde verbindet
Patrick und ich hatten neben der Körpergrösse noch weitere Gemeinsamkeiten: eine Abneigung gegenüber Milchreis und Aufräumen und eine Vorliebe für fantastische Geschichten. «Siehst du den Mann da unten am See», raunte mir Patrick einmal zu, als wir vorsichtig über den Zaun des Kindergartens blickten, «der hat vorhin einen Plastiksack aus dem Wasser gezogen. Vermutlich eine Leiche.»
Patrick, und dafür habe ich ihn sofort geliebt, schien verinnerlicht zu haben, dass die Wahrheit zu langweilig ist, als dass man sie nicht um ein paar gute Geschichten erweitern müsste. Wir erzählten uns Räuberstorys, die keine Lügengeschichten waren, sondern Ausdruck einer Sehnsucht, dass da mehr sein muss, als die Wirklichkeit zu bieten hat. Eine Sehnsucht, die mich bis heute nie ganz verlassen hat und die mich oft an Patrick denken lässt, dessen Wirklichkeit immer eine Mischung war aus Fantasie und Seide. In seiner Gegenwart, so schien mir, sah ich die Welt ein wenig anders. Das Normale wurde absurd, das Graue bunt, das Tragische komisch. Oft war es auch umgekehrt.
Wir besuchten eine Weile dieselbe Schule, dann zog er mit seiner Familie fort. Jahre später sahen wir uns in Berlin wieder. Ich war anders, er war anders. Dann zog ich weiter. Kam wieder. Ging wieder.
Wir sahen uns sporadisch, aber immer fanden wir uns, in unseren Gedanken und im echten Leben. Weil ein Teil von mir noch immer der Junge im Sandkasten ist, der sich wünscht, dass jemand auftaucht, der auch zwischen Bäumen Gespenster sieht.