Über Kinderfreundschaften
Ein guter Freund ist für unseren Kolumnisten nichts anderes als für seine Tochter: einer, mit dem man gut spielen kann.
Einmal fragte meine Tochter mich:
«Was ist ein guter Freund?»
Gute Frage. Was ist ein Freund? Und woran erkenne ich einen guten?
Sie war damals 10 und die Frage schien sie zu beschäftigen. Ich war 40 und sie beschäftigte mich noch immer. «Bei Seneca, das war ein wichtiger Vertreter der Stoiker …», begann ich zu mansplainen, bis mir ein Hinweis aus einem Elternratgeber einfiel, dass man Kinderfragen nicht als Wissensfragen missverstehen, sondern eher als Wunsch nach Austausch begreifen sollte.
Also fragte ich zurück: «Was findest du, macht eine gute Freundin aus?» Meine Tochter überlegte. Dann sagte sie: «Sie muss gut spielen können.» Sie machte eine Pause. «So wie ich.»
Es ist interessant, dachte ich bei mir, dass es im Deutschen kein Verb für das gibt, was Freunde tun. Wir können jemanden lieben, aber wir können ihn nicht freunden. Die alten Griechen hatten noch ein Verb – freundschaften. Es beschrieb nicht, was Menschen miteinander tun, ins Kino gehen oder Eis essen, sondern die Tätigkeit des Miteinander-Seins.
«Was heisst gut spielen?», fragte ich meine Tochter. «Man muss viele Einfälle haben, und keiner soll alles bestimmen.» Sie überlegte weiter. «Man hat Ideen, die man alleine nicht hat.»
Die Freundschaftsdefinition meiner Tochter erinnerte entfernt an den Freundschaftsbegriff der Philosophin Hannah Arendt. Für sie war Freundschaft ein Ort, an dem man Freiheit erfährt: «Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst.
Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander», schrieb sie, «nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und dass sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-Werden.»
Natürlich sprach Arendt hier nicht von Spielkameradinnen, sondern von Freundschaft als politischer Kategorie, aber doch schien mir ihre Abkehr von der männlich-philosophischen Selbstbezogenheit hin zum Gedanken, dass wir Freiheit ohne den anderen gar nicht erfahren können, dass wir also erst im Kontakt mit anderen die Welt und uns selbst verstehen, der Definition meiner Tochter nicht ganz unähnlich.
«Ist es auch wichtig, dass die Person dich trösten kann?», fragte ich. «Ja», sagte sie, «aber spielen ist wichtiger.» Dann sprang sie auf, es hatte geklingelt, das Mädchen von unten. Ich blieb zurück und dachte über das nach, was meine Tochter gesagt hatte.
Und dann fragte ich mich: Was ist ein guter Freund für mich? Einer, der tröstet? Oder ein Kinderfreund, also einer, mit dem ich spielen kann?
Ich entschied mich für die Version meiner Tochter. Denn trösten, dachte ich, können viele. Vielleicht weil es sich ein bisschen gut anfühlt, wenn es anderen schlechter geht als dir. Ein guter Freund aber ist einer, mit dem du gut spielen kannst.
Also einer, der dir die Sonne zeigt, wenn dein Leben schattig ist, aber auch zu dir hält, wenn du strahlst. Jemand, der zu dir halten und sich mit dir freuen kann, wenn es dir gut geht – obwohl es ihm schlecht geht. Das ist ein Freund.