Unzufrieden: Ich habe alles, warum bin ich nicht glücklich?
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Ich habe alles, warum bin ich nicht glücklich?

Lesedauer: 5 Minuten

Das Gefühl der Unzufriedenheit plagt viele Menschen. Bei der Suche nach dem inneren Frieden hilft es, wenn wir unser Leben in einem grösseren  Zusammenhang betrachten. Und uns eine Frage stellen.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Viele von uns haben eine klare Vorstellung davon, wo es im Leben hingehen soll: die passende Partnerin, den passenden Partner, Kinder zum «richtigen» Zeitpunkt, ein Haus mit Garten, Ferien am Meer und natürlich ein gut bezahlter Beruf, in dem man sich verwirklichen kann. Nicht wenige stehen irgendwann inmitten all dieser Errungenschaften und stellen fest: Jetzt habe ich doch alles, was ich immer wollte, und bin trotzdem nicht zufrieden!

Die psychologische Forschung liefert dafür eine erstaunlich banale Erklärung: Wir Menschen sind ziemlich schlecht darin, herauszufinden, welche Ziele uns wirklich langfristig guttun und zufriedenstellen.

Gute Noten, Karriere, Pflichterfüllung – kein Garant für Zufriedenheit

Hand aufs Herz, wir alle kennen Menschen, die …

  • … die Karriereleiter hochgeklettert sind und erst nach einem Burnout gemerkt haben, dass sie wenig daraus ziehen und einen hohen Preis dafür bezahlen.
  • … erst, wenn die Kinder erwachsen sind, realisieren, dass sie viel Schönes und Wichtiges verpasst haben und sich darüber ärgern, dass sie die Prioritäten nicht anders gesetzt hatten, obwohl es möglich gewesen wäre.
  • … so viel Wert auf ein tadelloses Bild nach aussen legen, dass sich ihr Alltag nur noch nach Pflichterfüllung anfühlt und keinen Raum für echte Begegnungen und Genuss lässt.
  • … bereits als Kind oder Jugendliche guten Noten oder sportlichen Erfolgen alles untergeordnet haben und als Erwachsene schmerzlich feststellen, dass ihnen diese Fixierung ihre Kindheit oder Jugend gestohlen hat.

Natürlich gibt es Menschen, die jeden Schritt auf der Karriereleiter feiern können oder jeden Tag vierzehn Stunden mit der Arbeit verbringen, dabei Flow erleben und das für nichts in der Welt eintauschen würden.

Es ist die Frage aller Fragen: Was würde ich am Ende meines Lebens am meisten bereuen, wenn ich so weiterlebte wie jetzt?

Es stellt sich nur die Frage: Ist dieses Leben, das wir hier gestalten, wirklich in Übereinstimmung mit unseren Bedürfnissen? Oder verschieben wir unsere Ziele, Wünsche und Träume, die uns etwas bedeuten, auf später, weil wir uns ständig unbewusst nach den Vorstellungen und Erwartungen anderer oder ungeprüfter Annahmen ausrichten? Mehr Klarheit gewinnen wir, wenn wir uns vom Alltagstrott lösen und unser Leben in einem grösseren Zusammenhang betrachten.

Merken, was uns fehlt

Als besonders hilfreich kann sich dabei die folgende Frage erweisen: Was würdest du am Ende deines Lebens am meisten bereuen, wenn du so weiterlebst wie jetzt? Vielleicht geht es Ihnen wie den meisten Menschen und Sie würden sich mit dieser Frage am liebsten gar nicht auseinandersetzen.

Wenn man sie ein wenig auf sich wirken lässt, kristallisiert sich oft ein erstaunlich klares Bild heraus: Wir merken, was uns im Moment fehlt. Es wird uns bewusst, wo wir uns auf einen faulen Kompromiss eingelassen haben, uns selbst etwas vormachen oder uns sabotieren.

Wenn die Angst dem persönlichen Glück im Weg steht

Unmittelbar tauchen aber auch all die vermeintlichen Gründe auf, weshalb eine Veränderung unmöglich ist. Ein 27-jähriger Jurastudent erzählte mir in einem Seminar zum Thema Aufschieben, er habe das Gefühl, in einer Sackgasse festzustecken. Seit sechs Jahren strebte er einen Bachelor an, schob aber jede Seminararbeit monatelang auf, begann zu spät mit der Prüfungsvorbereitung und blieb morgens häufig im Bett liegen, anstatt zur Uni zu gehen.

Der Wendepunkt kam, als er sich ehrlich eingestehen konnte, dass er niemals Jurist werden wird.

Er musste zugeben: «Die Vorlesungen langweilen mich und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, später als Jurist oder Anwalt zu arbeiten. Aber aufhören kann ich jetzt auch nicht mehr: Ich habe schliesslich schon so viel da reingesteckt! Meine Eltern wären auch total enttäuscht, wenn ich hinschmeisse. Ihnen war es ja eh so wichtig, dass ich studiere und mein Vater betont immer wieder, dass man mit Jura auf der sicheren Seite ist …»

Der Wendepunkt kam, als er sich ehrlich eingestehen konnte, dass er niemals Jurist werden wird. Auch dann nicht, wenn er sich durch das übrige Studium quält. Nur, weil er bereits sechs Jahre seines Lebens etwas tut, das er nicht ausstehen kann, kann er nicht den Rest seines Lebens damit fortfahren. Natürlich blockierte ihn die Angst, die Anerkennung und den Rückhalt seiner Eltern zu verlieren. Und er hatte keinen Plan B.

Schliesslich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und besprach seine Situation mit seinen Eltern. Diese versuchten zunächst, ihn «zur Vernunft» zu bringen, mussten aber auch erkennen, dass ihr Sohn in den letzten Jahren unglücklich wirkte und im Studium kaum vorankam. Alle drei brauchten etwas Zeit, um sich mit dem Gedanken zu versöhnen, dass der berufliche Weg dieses jungen Mannes nicht pfeilgerade verlaufen wird, sondern Umwege über Praktika, Laufbahnberatung und ein Hineinschnuppern in verschiedene Metiers nötig sind, um einen passenden Beruf zu finden.

Perfektionismus macht unzufrieden

Manchmal schleicht sich die Unzufriedenheit auch nach und nach ins Leben. So erging es einer Mutter von drei Kindern, die sich ganz der Familie verschrieben hatte. Während viele ihrer Bekannten nach einiger Zeit wieder in den Beruf einstiegen, entschied sie sich gemeinsam mit ihrem Partner dafür, mit den Kindern zu Hause zu bleiben und sich um sie, den Haushalt und Garten zu kümmern. Sie genoss es, sich ganz auf ihre Kinder einlassen zu können, verspürte aber auch den Druck, sich in ihrem Bekanntenkreis dauernd für ihre Entscheidung rechtfertigen zu müssen.

Irgendwann setzte sich in ihr der folgende Gedanke fest: «Wenn ich schon ‹nur› Hausfrau und Mutter bin, dann muss ich das wenigstens richtig gut machen!» Das Haus musste blitzblank aussehen, die Kinder stets ordentlich gekleidet, mit gesunder und liebevoll gestalteter Pausenverpflegung in der Tasche in Kindergarten und Schule gebracht werden. Die Hausaufgaben wollten sorgfältig begleitet und kontrolliert, die Kinder zu verschiedenen Hobbys gefahren werden. Mehr und mehr musste sie alles «im Griff» und «unter Kontrolle» haben.

Was ist mir wirklich wichtig?

Was würde sie am Ende ihres Lebens am meisten bereuen, wenn alles so weiterliefe wie bisher? Ihre Antwort: Am schlimmsten wäre es für sie, gar nicht richtig gelebt zu haben. Wenn sie sich eingestehen müsste, dass sie so damit beschäftigt war, ihre perfektionistischen Standards zu erfüllen, dass sie sich nie fallen lassen, schöne Momente kaum geniessen und nicht auf die Warnsignale ihres Körpers hören konnte. Und dass dieser Drang, alles gut und richtig zu machen, inzwischen alles dominiert und die Freude an den Kindern überschattet.

Was trägt tatsächlich zum Wohlbefinden von mir und meiner Familie bei?

Ihre Aufgabe bestand nun darin, sich wieder mit ihren ursprünglichen Wünschen und Zielen zu verbinden und ihre Standards zu hinterfragen: Was ist mir wirklich wichtig? Was trägt tatsächlich zum Wohlbefinden von mir und meiner Familie bei? Und an welchen Stellen wäre es gesund, Erwartungen zu hinterfragen oder einzelne Aufgaben abzugeben?

Welche Erkenntnisse gewinnen Sie, wenn Sie sich diese Frage stellen? Wartet ein grosser Bereich Ihres Lebens darauf, von Ihnen mutig umgestaltet zu werden? Oder sind es eher kleinere Aspekte, denen Sie zukünftig im Alltag mehr Beachtung schenken möchten?

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Zürich.

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