Singen aus tiefster Seele
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Singen aus tiefster Seele

Lesedauer: 3 Minuten

Die Kinder in ihrem Chor zeigen Sibylle Dubs immer wieder auf, worum es beim Singen und Musizieren eigentlich geht. Ein Bub hat die Musikpädagogin dabei besonders berührt.

Text: Sibylle Dubs
Zeichnung: zVg

Passionata – Musikunterricht macht den Unterschied

In einer Chorprobe beobachtete ich wieder einmal Tim*, wie er textsicher und in schönsten Klängen sang. Wenn mich jemand fragen würde, wozu wir an der Schule einen Chor anbieten, würde ich sagen: «Setz dich hin und schau eine Stunde lang einem Kind zu, zum Beispiel Tim.»

Tim ist nicht der Junge, der sofort auffällt. Er meldet sich nicht, um ein Solo zu singen, ist nicht darauf aus, Aufmerksamkeit zu erhalten. Er steht zwar in der ersten Reihe, aber ganz aussen. Die Kinder dürfen ihren Platz zum grössten Teil selbst wählen.

Tim sticht zwar nicht heraus. Aber wenn man ihn einmal im Blick hat, kann man fast nicht mehr wegschauen.

Tim ist musikalisch und organisatorisch ein sicherer Wert. Er singt mit Präsenz, verpasst keine Probe und merkt sich Anweisungen. Wenn wir Leiterinnen uns nicht mehr erinnern, ob wir im letzten Semester bei einer Choreografie die Bewegung mit rechts oder links gestartet haben, ist Tim eines der Kinder, auf dessen Antwort man sich verlassen kann. Tim sticht zwar nicht heraus. Aber wenn man ihn einmal im Blick hat, kann man fast nicht mehr wegschauen. Er strahlt eine Verbundenheit mit der Musik und auch mit der Gruppe aus.

Guter Musikunterricht ist Glückssache

Ich unterrichte an der Primarschule das Fach musikalische Grundausbildung, kurz MGA, im Auftrag der Musikschule der Stadt Zürich. Die MGA dauert zwei Jahre. Ab der dritten Klasse dürfen wir Musikpädagoginnen keine Klassen mehr unterrichten, nur noch Primarlehrpersonen. Doch diese wissen zum Teil nicht, wie man mit Gruppen musiziert. Denn Musikdidaktik darf an vielen pädagogischen Hochschulen abgewählt werden. So ist es am Ende Glückssache, ob ein Kind in der Volksschule Musikunterricht erhält, wie es der Lehrplan verlangt. 

Unser Schulhaus Holderbach versucht dieses Manko mit musikalischen Angeboten auszugleichen. Mit dem Chor haben meine Kollegin Valérie Spreng und ich eine Oase errichtet, welche rege besucht wird. Valérie ist ebenfalls MGA-Lehrerin. Dank dem Chor ist auch der Abschied von unseren Kindern nach der zweiten Klasse nicht mehr so tränenreich, denn nach den Sommerferien dürfen die frischgebackenen Drittklässler freiwillig weiter zu uns kommen und bis zum Ende der Primarschule bleiben. 

Musik findet ihren Weg

Der Holderbach-Chor singt auf einem stolzen Niveau. Die Kinder haben ihr Gehör und ihre Stimmen schon in der MGA trainiert und können sich Melodien blitzschnell einprägen. Sie bringen eigene Ideen für Bewegungen oder den Aufbau der Lieder.

Sie lassen sich auf Experimente ein, kreischen für ein Dschungel-Klangbild wie Äffchen und Papageien oder imitieren ein Gewitter. Unsere jungen Sängerinnen und Sänger haben ein Gespür für Qualität und sie geniessen die Musik. Wenn es am Montagnachmittag aus dem Singsaal klingt, bleiben Kinder und Erwachsene vor dem Fenster stehen.  

Welchen Wert haben Schulbildung und die spätere Laufbahn, wenn die Kinder nicht erfahren, wie man lebt?

Musizieren bedeutet, sich als Mensch wahrzunehmen. Das geschieht einerseits körperlich durch Atmung, Haltung und die Bewegungen. Die Musik findet ihren Weg zudem bis tief in die Seele. Ich unterrichte das Fach, nicht weil ich erwarte, dass die Kinder ein Leben lang musizieren. Wir bieten den Chor auch nicht an, damit die Kinder einen Moment Spass oder Unbeschwertheit geniessen. Das sind alles Nebeneffekte.

Es geht beim Musizieren um das Erkennen von Schönheit, um das Erleben von Passion, um das Spüren von Sanftheit und um eine Annäherung an das Unergründliche. Welchen Wert haben Schulbildung und die spätere Laufbahn, wenn die Kinder nicht erfahren, wie man lebt?

Ein Rucksack voller Probleme

Tim ist ausserhalb des Chores kein selbstbewusstes Kind, findet nicht einfach Anschluss und schleppt einen Rucksack mit Problemen mit sich. Als ich ihm nach der Probe sagte, dass ich seiner Stimme gelauscht habe und ganz begeistert sei, wie grossartig er sänge, sagte er: «Soll ich ihnen ein Geheimnis verraten? Das bin gar nicht ich, der so gut singt. Ich kopiere nur. Ich höre ganz viele Lieder und mache die Musiker nach.»

Ich korrigierte ihn: «Nein Tim, das bist du. Das ist deine Stimme. Andere Musiker zu hören, das nennt man Inspiration, diese nachzumachen, bedeutet Üben. Weil du dabei Schönheit erlebst. Das, was ich höre, wenn du singst, ist zu hundert Prozent Tim. Dein Körper, deine Seele und dein kluges Köpfchen.» Wir hatten beide nach dem Gespräch Tränen in den Augen.

Passionata –Musikunterricht macht den Unterschied

Diese Kolumne berichtet von Erlebnissen im Musikunterricht des Stadtzürcher Schulhauses Holderbach. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse besuchen wöchentlich zwei Lektionen Musikalische Grundausbildung (MGA) bei einer Fachlehrperson.

Ab der dritten Klasse haben sie die Möglichkeit, dem Schulhauschor beizutreten. Regelmässig singen und tanzen Kinder und Lehrpersonen zusammen auf dem Pausenplatz.

Musizieren ist das pure Leben und ein pädagogisch fundierter Musikunterricht wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.

*Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.

Sibylle Dubs
wuchs als Tochter einer Theaterpädagogin mit Musik, Tanz und Theater auf. Nach einem Jurastudium und langjähriger Tätigkeit als Fernsehjournalistin absolvierte sie ein Studium der Elementaren Musikpädagogik. Heute arbeitet sie mit Kindern der Primarschule im Auftrag von Musikschule und Konservatorium Zürich (MKZ) und mit Studierenden der Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH) und der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Sie lebt mit ihrem Partner und zwei Teenagern in Zürich.

Alle Artikel von Sibylle Dubs

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