Spielend Musik lernen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Spielend Musik lernen

Lesedauer: 6 Minuten

An 400 Musikschulen finden Kinder Schritt für Schritt zum passenden Instrument. Wie Eltern sie dabei unterstützen können, wie das Musizieren positiv aufs Gehirn wirkt und warum Spielfreude wichtiger ist als Talent.

Text: Julia Nolte
Bild: Portra / Getty Images

Das Wichtigste zum Thema:

  • Jedes Kind ist musikalisch. Spielfreude und Neugierde sind wichtiger als Talent.
  • Sein Instrument sucht sich ein Kind am besten selber aus. Beim Tag der offenen Tür an einer Musikschule kann es viele Instrumente ausprobieren.
  • Üben am besten möglichst häufig, aber kurz. Täglich zehn Minuten sind ein guter Anfang.
  • Fleissiges Musizieren trainiert das Gehirn. Wer ein Instrument spielt, ist aufmerksamer, kann sich besser konzentrieren und vorausplanen. Ausserdem lernen diese Kinder leichter Fremdsprachen.
  • Idealerweise fördern Eltern ihre Kinder so früh wie möglich musikalisch, aber es ist nie zu spät, um ein Instrument zu lernen.

Als ich eingeschult ­wurde, fand unsere Nachbarin, ich müsse jetzt ein Instrument lernen. Sie schenkte mir eine Block­flöte aus grünem Plastik. Wenn ich zurückkam vom Unterricht bei ­dieser netten Nachbarin, hatte ich runde Druckstellen auf den Fingerkuppen vom krampfhaften Versuch, die Grifflöcher abzudichten. Die Blockflöte war nicht mein Instrument.

«Bei der Wahl des Instruments empfehle ich, vom Bedürfnis des Kindes auszugehen», sagt Thomas Saxer. Nach zwanzig Jahren als Querflötist und Instrumentallehrer leitet er seit 2004 die Musikschule Worblental/Kiesental in der Nähe von Bern. Rund 700 Kinder und Jugendliche lernen hier Instru­mente wie E-Bass, Trompete, Schlagzeug oder Ukulele, machen Jazztanz oder spielen im Klarinettenensemble.

Musizieren macht Ihr Kind nicht superintelligent. Aber es entwickelt dadurch ­kognitive Fähigkeiten.

Neuropsychologe Lutz Jäncke (zum kompletten Interview)

Einmal im Jahr gibt es wie an jeder der gut 400 Musikschulen in der Schweiz einen Tag der offenen Tür, an dem man sämtliche Instrumente ausprobieren kann. Die allermeisten entscheiden sich für Klavier oder Gitarre, «dabei gibt es so viele wunderbare Blasinstrumente, die viele Kinder und Eltern gar nicht kennen», sagt Saxer. Waldhorn zum Beispiel, Oboe oder Cornett. Es gehe ums Ausprobieren, auch ums Haptische, ein Instrument in die Hände zu nehmen und herauszufinden, ob es einem gefalle. 

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«Ich erlebe die schönsten Überraschungen», sagt Saxer: «Dass ein Kind Harfe lernen will, und niemand in der Familie hat jemals ­Harfe gespielt.» Also Harfe! Im zweiten Schritt gibt es Schnupperunterricht. Die meisten Kinder bleiben bei ihrer ersten Wahl, beobachtet Thomas Saxer.

Üben – täglich, aber kurz 

Und dann geht es ans Üben, oder wie der Musikschulleiter lieber sagt: ans Spielen oder Musizieren. Ge­rade am Anfang ist es wichtig, dass die Kinder schnell nach dem Unterricht wieder zum Instrument greifen: möglichst häufig, aber kurz. Das heisst täglich, aber nicht stundenlang. Sonst kann es Verspannungen geben – wie bei einem Jogger, der sein Training gleich mit zehn Kilometern beginnt. Beim Querflötespielen zum Beispiel sieht man die eigenen Finger nicht. Welche Klappen muss ich drücken, damit ein C erklingt? In welcher Reihenfolge bewege ich die Finger für eine Tonleiter? Wie halte ich das Instrument ganz locker, ohne dass sich meine Handgelenke und mein Hals verkrampfen? «Musizieren ist Muskeltraining für die Hände und Arme, und bei Blasinstrumenten stärkt es auch die Lippenmuskulatur», erklärt Thomas Saxer. Belohnt werden die jungen Musikerinnen und Musiker – und ihre Eltern – mit immer schöneren Klängen.

Die Wirkung aufs Gehirn

Fleissiges Musizieren hat noch einen anderen Effekt: Es trainiert das Gehirn. «Flöte- oder Geigespielen führt nicht dazu, dass Ihr Kind superintelligent wird, aber es entwickelt dadurch kognitive Fähigkeiten, die ihm helfen, in der Welt zu 

bestehen», sagt Lutz Jäncke. Mithilfe von Gehirnscans erforscht der Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, wie sich die Gehirne von Musikern durch stetiges Üben verändern und wie sich deren Gehirne und die von Nicht-Musikern unterscheiden. Das Ergebnis: Bei Musizierenden sind die Hörareale beider Gehirnhälften stärker anatomisch und funktionell miteinander verbunden als bei Menschen, die keine Musik machen. 

Bild: Sam Edwards / Getty Images

Für Kinder und Jugendliche heisst das, wer von ihnen ein Instrument spielt, ist besser in der Lage, sich Tonfolgen und Melodien zu merken. Ausserdem müssen sie beim Üben ständig hören und Motorik koordinieren, ob beim Zupfen einer Gitarrensaite oder beim Anschlagen einer Taste auf dem Klavier. Dadurch nimmt die Plastizität des Gehirns zu, das heisst, es bildet mehr neuronale Verbindungen aus und wird dadurch leistungsfähiger. Das Gedächtnis wird besser. Je jünger wir sind, desto stärker kann sich das Gehirn verändern, deswegen ist das Musizieren bei Kindern besonders wirkungsvoll. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass ein zweijähriges Musiktraining bei Primarschulkindern zu Veränderungen im Gehirn führt.

Je jünger wir sind, desto stärker kann sich das ­Gehirn verändern. Daher ist das Musizieren bei ­Kindern so wirkungsvoll.

«Musizierende Kinder sind ausserdem besser im Lernen von Fremdsprachen und in der Aussprache, und sie verarbeiten auch ge-sprochene Worte in ihrer Muttersprache leichter, weil sie ein besseres auditorisches Arbeitsgedächtnis haben», erklärt Jäncke. Auf die Schule übertragen: Kinder, die ein Instrument spielen, können besser verfolgen, was die Lehrkräfte sagen. Ihre Aufmerksamkeit, Konzentra-tion und Planungsfähigkeit steigern sich – alles Fähigkeiten, die vom Frontalkortex gesteuert werden, dem Bereich im Gehirn, der beim Musizieren (und bei allem, was man intensiv übt) trainiert wird. 


Der Neuropsychologe Lutz Jäncke zeichnet in seinem neuen Buch ein düsteres Zukunftsbild und fordert von den heutigen Eltern viel Engagement. Eine gesunde Entwicklung des Gehirns werde aufgrund der rasenden Vernetzung immer schwieriger. Lesen Sie hier das grosse Monatsinterview «Eltern müssen ihre Kinder viel mehr führen» vom April 2021.

Dafür müssen sie keine musikalischen Wunderkinder sein. Was zählt, ist die Regelmässigkeit des Übens und nicht, dass es klingt wie von einer CD. «Ob mein Kind so gut Klavier spielt wie Lang Lang, ist wurscht», sagt der Hirnforscher salopp. «Die guten Effekte hat man auch so.» Ja, das Gehirn wird fitter. Aber noch toller ist doch: Das Kind hat gelernt, Musik zu machen! ­«Diese Grundfeste unserer Kultur weiterzupflegen, ist doch viel wichtiger, als es die zusätzlichen, manchmal recht kleinen positiven Effekte des Musizierens sind, welche die Neurowissenschaft entdeckt», sagt Jäncke. Warum nur Playlists zusammenstellen, wenn wir auch selber musizieren können?

«Die Marimba hat einfach gepasst»

Die Studentin Samira Diem hat für sich mit acht Jahren das Marimbafon entdeckt, eine Art grosses Xylofon: «Es ist nicht so, dass es mich wahnsinnig fasziniert hat, so wie vielleicht manche Kinder sagen: ‹Oh, mein Gott, ich muss unbedingt Violine spielen!› Ich habe gar nicht überlegt. Ich habe die Marimba einfach gespielt und es hat gepasst.» Diem startete ihre Laufbahn mit musikalischer Früherziehung mit Tanzen, Singen, Rhythmusübungen und verschiedenen Instrumenten. Dann folgte der Wechsel in die Schlagzeugklasse der Musikschule, Schulkonzerte, das Jugendsinfonieorchester, und schliesslich zum Bachelorstudium in Perkussion an die Hochschule der Künste Bern. Dort übte Diem an manchen Tagen bis zu acht Stunden am Tag auf Pauken, Trommeln, Xylofon, Marimba oder Vibrafon. «Wir hatten wenige theoretische Fächer, dafür Instrumentalunterricht und viel Zeit zum Üben.» 

Ein Kind beginnt mit 8 Jahren, ein anderes mit 10, und mit 13 sind sie auf dem gleichen Stand. Doch grundsätzlich gilt: je früher, desto besser.

Vielleicht sei das eine Überdosis gewesen, überlegt Diem laut und nippt an ihrer grossen Teetasse. Jetzt brauche sie erst mal eine Pause von der Marimba. Beim Zoom-Interview trägt sie einen grünen Strickpulli und eine lilafarbene Stola. Im Regal hinter ihr ranken Topfpflanzen zwischen Büchern. Samira Diem hat zu Musikwissenschaft gewechselt und ist gerade ganz zufrieden damit, dass sie sich dort «mit Musik befassen, über Musik reden, über Musik ­schreiben kann, aber selber keine machen muss». Als Mitglied im Fachschaftsvorstand organisiert sie für Mitstudierende den Besuch einer Jam-Session. Überhaupt: die Konzerte. «Das Schönste am Musizieren waren für mich immer die Konzerte. Das Ergebnis, worauf man hingeübt hat. Wenn man auf der Bühne steht und merkt, dafür habe ich gearbeitet, und die Leute mögen die Musik, die ich mache.» Wenn Samira Diem anderen Übenden einen Tipp geben soll, rät sie: «Viele Konzerte geben und wissen, dass es nicht perfekt sein muss beim Auftritt.»

Es ist nie zu spät, ein Instrument zu lernen

Noch eine beruhigende Nachricht: Es ist nie zu spät, um ein Instrument zu lernen. Professor Jäncke beispielsweise hat vor zehn Jahren angefangen Keyboard zu spielen und regelmässig sein eigenes Gehirn gescannt – mit dem Ergebnis, dass auch seine Hirnstrukturen sich durchs Üben veränderten.

An den Musikschulen gibt es zwar Kurse schon für Kindergartenkinder, doch Thomas Saxer sagt: «Dass die Kinder bereits früh ganzheitlich musikalisch gefördert werden, ist essenziell. Es ist aber nie zu spät, mit einem Instrument zu beginnen.» Ein Kind beginnt möglicherweise mit 8 Jahren und eines mit 10, und mit 13 sind sie auf dem gleichen Stand. Doch grundsätzlich gilt: je früher, desto besser. Mit Beginn der Pubertät wird es oft kompliziert, weiss Saxer. «Da kann sich ein Konfliktfeld ums Instrument aufbauen.» Wenn Eltern sehen, dass es Schwierigkeiten mit dem Üben gibt, könne man einen Vertrag mit seinem Kind abschlies-sen: Wie oft kannst du spielen, wie viel Zeit bist du bereit zu investieren? Und das könne man dann auch einfordern. Die Belohnung, die kommt dann mit dem Fortschritt. 

Bild: iStockphoto

Der Musikschulleiter rät ausserdem, die Freizeit ausgewogen zu gestalten. Ein Instrument sei super, aber Sport auch: «Beim Sport ist die Bewegung drin und das Kompeti­tive, das einige Kinder auch gern haben. In der Musik ist die Konzentration enthalten und auch die Langsamkeit als hohe Qualität, und auch das Zusammenspiel im Ensemble ist unglaublich wertvoll. Diese verschiedenen Erfahrungen ergänzen sich.»

Früher wurden an den Musikschulen Eignungstests durchgeführt. «Heute herrscht die Auffassung, jedes Kind ist geeignet, um ein Instrument zu lernen», sagt Saxer. «Das Lerntempo ist vielleicht verschieden, aber Talent ist keine Voraussetzung.» Nur Spielfreude müsse man mitbringen, die Lust, sich auf ein Instrument einzulassen. 

Das Wichtigste, was Eltern tun können, um bei Kindern die Begeisterung für Musik zu wecken, ist, diese von Beginn an in den Alltag zu integrieren. Eine Melodie fürs Baby summen. Bewusst Musik hören. Das Kind mitnehmen, wenn im Ort musiziert wird. Gemeinsam Weihnachtslieder singen. Leseempfehlung: 15 Tipps gegen den Frust beim Üben

Und für mich kann ich sagen: Mit dem Klavier bin ich dann noch glücklich geworden.

Julia Nolte
ist Journalistin für Bildung und Wissen. Sie hat eine Tochter und einen Sohn im Primarschulalter und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

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