«Wir strengen uns gerne an, wenn uns der Stoff interessiert» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wir strengen uns gerne an, wenn uns der Stoff interessiert»

Lesedauer: 4 Minuten

Bildungsforscher Ulrich Trautwein über die Lust am Lernen, was Eltern und Lehrpersonen tun können, wenn es an Motivation mangelt, und warum Kinder nicht zum Büffeln verdonnert werden sollten.

Interview: Claudia Füssler
Bild: Rawpixel / Berthold Steinhilber

Herr Trautwein, wann fällt uns das Lernen leicht? 

Wenn wir das Lernen als einen von uns selbst gesteuerten Prozess erleben. Die Wissenschaft nennt diesen Zustand «intrinsische Motivation». Dann vergeht die Zeit, die wir mit Lernen verbringen, wie im Flug. Allerdings ist zu beobachten, dass bei vielen Kindern das Lernen oft eben nicht durch intrinsische Motivation gesteuert ist, sondern vielmehr durch extrinsische, also von aussen kommende Anreize und Belohnungen. Unterricht sollte immer auch das Ziel haben, den Anteil von intrinsisch motivierter Lernzeit zu erhöhen. 

Ulrich Trautwein ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsthemen gehören die ­Effektivität des Bildungssystems, die Unterrichtsqualität, Effekte von Hausaufgabenvergabe und -erledigung sowie die Entwicklung von Interesse und Selbstkonzept.

Wie kann das gelingen? 

Es gibt zwei Fragen, die ein Kind für sich mit Ja beantworten können sollte, damit das Lernen quasi automatisch abläuft. Erstens: «Kann ich es?» Es ist wichtig, dass Unterricht so gestaltet ist, dass Kinder spüren, dass sie die Aufgaben erfolgreich bearbeiten können, wenn sie sich denn ein bisschen Mühe geben. Zweitens: «Bringt es mir was?» Ob ein Kind zum Schluss kommt, dass ihm das Lernen etwas bringt, hängt primär von drei Aspekten ab. 

Wenn wir verstanden haben, warum ein Lernstoff für uns nützlich ist, sind wir gern bereit, uns anzustrengen. 

Welche sind das?

Da wäre erstens das unmittelbare Erlebnis von Freude am Lernen. Gerade ganz junge Schülerinnen und Schüler haben meist grossen Spass am Lernen, fast alles ist für sie interessant und spannend. Im Laufe der Jahre entstehen Lieblingsfächer, für die man besonders gern lernt. Zweitens sind wir gern bereit, zu lernen, wenn es um etwas geht, was uns persönlich wichtig ist. Wenn ich mich beispielsweise für Umweltschutz interessiere, lerne ich gerne darüber, selbst wenn es schwieriger Stoff ist.

Beim dritten Aspekt geht es um die Nützlichkeit dessen, was ich lernen soll: Der Stoff macht mir vielleicht keinen Spass, das Thema ist mir auch nicht wichtig, aber ich weiss, dass es mir beispielweise beruflich etwas bringen wird: Wer Psychologie studieren möchte, braucht Mathematik. Wer in der Welt umherreisen will, sollte Englisch sprechen können. Wenn wir verstanden haben, warum ein Lernstoff für uns nützlich ist, sind wir gern bereit, uns anzustrengen. 

Angemessen schwierige Aufgaben stellen, die dem Kind sinnvollerscheinen – das genügt? 

Dann besteht die grösste Wahrscheinlichkeit, dass das Lernen wie von selbst funktioniert. Es gehört zur Aufgabe von Lehrpersonen, dazu beizutragen, dass Kinder solche motivierende Faktoren erleben. Allerdings: Es wäre völlig unrealistisch, anzunehmen, dass alle Schülerinnen und Schüler die ganze Zeit intrinsisch motiviert lernen. 

Ein ganz wichtiger Punkt ist die Vorbildfunktion: Eltern und Lehrpersonen sollten zeigen, wie sie selbst Motivationsprobleme überwinden.

Und dann sollten wir die Buben und Mädchen – mal provokant gesagt –einfach zum Hinsetzen und Büffeln verdonnern?

Das könnten wir, aber so würden sie nicht besonders viel lernen. Wir müssen einen Zustand herstellen, in dem das Kind eine sogenannte ko­gnitive Aktivierung erfährt. Es muss aktiv mit dem Wissen umgehen, denn jedes Lernen geht mit einer Konstruktionsleistung im Gehirn einher. Dort bleibt Neues kaum hängen, wenn es nicht mit irgendetwas Bestehendem verknüpft wird. Wir können also vielleicht ein Zuhören erzwingen, aber keine aktive Konstruktionsleistung, und damit kein vertieftes Lernen. Dabei muss es nicht immer gleich brennendes Interesse für ein Thema sein, aber das Kind sollte sich mindestens einlassen können auf die Sache. 

Was, wenn ich etwas lernen muss, das mir weder Spass noch einen anderen erkennbaren Nutzen bringt? 

In dieser Situation werden Lernstrategien nötig, die mir helfen, die motivationalen Hürden zu überspringen. Die Frage lautet: Wie schaffe ich es, für mich – respektive das Kind – uninteressante Dinge so umzumünzen, dass es Spass macht oder das Lernen zumindest als nützlich erlebt wird. Das funktioniert, wenn auch nicht immer. Sehr bekannt ist beispielsweise die Strategie der Gamification: Man macht aus dem Lernen quasi ein Spiel. Mich interessiert zwar ein Thema nicht, aber ich mache eine Art Wettkampf mit mir selbst und versuche, den Absatz oder die Lektion so schnell wie möglich zu lernen. 

Um wirklich zu wissen, was einem Kind helfen kann, das nicht gerne lernt, braucht es eine saubere Abklärung.

Wie können Lehrpersonen und Eltern helfen, wenn es an Motivationmangelt? 

Ein ganz wichtiger Punkt ist die Vorbildfunktion: Eltern und Lehrpersonen sollten zeigen, wie sie selbst Motivationsprobleme überwinden. Sie können ähnliche Situation modellieren, in denen sie ihr Handeln erklären und sozusagen laut denken: «Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust darauf, jetzt dies zu tun, aber ich weiss, dass es wichtig ist, also raffe ich mich auf.» Zudem kann eine implizite und explizite Strategieschulung stattfinden. Implizit vermittelt man Strategien, indem man sie einfach in den Lernverlauf integriert. Ein Beispiel: Jeden Tag wird ganz selbstverständlich um 16 Uhr das Aufgabenheft aufgeschlagen und die Hausaufgaben sind dran. Das läuft irgendwann automatisch, wird zur Routine, ohne dass sich das Kind jedes Mal fragt: Warum mache ich das jetzt?

Die explizite Strategieschulung wiede­rum eignet sich eher für ältere Kinder und Jugendliche, mit denen man offen reflektierend das Problem ansprechen und Lösungen suchen kann: Was kannst du tun, wenn du Schwierigkeiten hast, dich für ein Fach zum Lernen zu motivieren? Wenn die Lösung heisst, sich für eine halbe Stunde dranzusetzen und sich danach mit etwas Süssem zu belohnen, ist das okay. Und wenn alles andere nichts hilft, muss überlegt werden, wie man für eine Zeitlang extrinsische Anreize zum Lernen schafft – mit dem Ziel, auf diese extrinsischen Anreize möglichst bald wieder verzichten zu können. 

Haben Sie ein paar ganz konkrete Tipps, was besonders wirksam ist, um ein Kind zum Lernen zu motivieren? 

Es gibt zig Elternratgeber, die genau das tun, aber vor ganz konkreten Anweisungen möchte ich warnen. Es gibt nichts, was automatisch bei allen Kindern erfolgreich ist: Was dem einen Kind hilft, kann bei einem anderen Kind irrelevant oder sogar schädlich sein. Womit man nicht viel falsch machen kann, ist, Bildungsnähe zu demonstrieren. Ein Zuhause, in dem Bücher in den Regalen stehen, Lesen wichtig ist, am Küchentisch über die Ereignisse in der Welt miteinander gesprochen wird – das sind gute Voraussetzungen. Um wirklich zu wissen, was einem Kind helfen kann, das nicht gerne lernt, braucht es eine saubere Abklärung und ein Verständnis der Abläufe, die beim Lernen passieren. Wie das geht, haben die meisten Eltern allerdings nie gelernt. 

Was tue ich also, wenn ich merke, dass mein Kind ernsthafte Probleme hat beim Lernen? 

Bevor man anfängt, irgendetwas zu tun, sollte man erst mal analysieren und diagnostizieren. Fehlt «nur» die Motivation? Ist das Kind über- oder unterfordert? Ist die Lernumgebung das Problem? Und das am besten gemeinsam mit Fachpersonen wie Beratungslehrern, Schulpsychologen oder spezialisierten Beratungsstellen.

Claudia Füssler
arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Am liebsten schreibt sie über Medizin, Biologie und Psychologie.

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