«Es geht nicht nur ums Dabeisein» -
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«Es geht nicht nur ums Dabeisein»

Lesedauer: 2 Minuten

Helen Kobelt, 36, unterrichtet auf Sekundarstufe in Sils GR. Sie nimmt Diversität als eine Bereicherung wahr, erachtet Inklusion aber als gescheitert, wenn sie zur Hauptsache darauf abzielt, Kinder nicht auszuschliessen, statt sie bestmöglich zu fördern.

Aufgezeichnet von Virginia Nolan
Bilder: Ornella Cacace / 13Photo

«Lehrerin zu sein ist meine Berufung, die ich mir als gelernte Schreinerin auf Umwegen erarbeitet habe. Aktuell bin ich in der Ausbildung zur Sekundarlehrerin und unterrichte eine dritte Klasse mit Sek- und Realschülern, vorher arbeitete ich an derselben Schule auf Primarstufe. Einst gab mir eine Kollegin mit 40 Jahren Berufserfahrung einen Rat: Hab Mut zur Lücke. Den habe ich.

Es müssen nicht alle das Gleiche können. Wichtiger ist, dass jedes Kind Fortschritte machen kann und sich deren bewusst wird. Entsprechend viel Zeit investiere ich dafür, Lernprozesse individuell zu begleiten. Meine Schülerinnen und Schüler bearbeiten oft ihr persönliches Dossier – mit Inhalten, die sie selbst mitbestimmen, individuellen Lernzielen und Prüfungen.

Für mich liegt die Grenze da, wo ich ein Kind nicht mehr fördern kann, weil ich fachlich nicht weiterweiss.

Dass ich so unterrichten kann, liegt auch an den Gegebenheiten: Meine Klasse zählt 13 Jugendliche. Im Kanton Zürich, wo ich meine erste Stelle hatte – 19 Kinder, davon 17 fremdsprachig –, wäre das so nicht möglich gewesen. Die kleinen Klassen bieten gute Voraussetzungen, Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen zu begleiten.

Aktuell unterrichte ich keine Schülerinnen und Schüler mit Sonderschulstatus, aber zwei haben eine Diagnose, die gezielte heilpädagogische Förderung erfordert. Der Heilpädagoge arbeitet während vier Lektionen pro Woche in meiner Klasse.

«Mir war immer wichtig, dass integrierte Kinder am Klassenunterricht teilhaben, dass sie ähnliche Inhalte wie die anderen bearbeiten können, einfach auf angepasstem Niveau.» Lesen Sie mehr dazu im Artikel «Schule für alle?».

Wir sind eine kleine Schule und organisieren unsere Ressourcen flexibel: Wäre eine der neun Lehrpersonen froh um mehr heilpädagogische Unterstützung, während es bei einer anderen gerade ruhig läuft, tritt man dem anderen etwas ab. «Mein» Heilpädagoge ist ein Profi, dafür bin ich dankbar. Als Primarlehrerin musste ich öfter mit ungeschulten Aushilfen vorliebnehmen.

Wenn aber beispielsweise ein Kind Störungen im Autismus-Spektrum oder starke kognitive Beeinträchtigungen hat, triffst du als Lehrperson auf Herausforderungen, auf die du nicht vorbereitet bist, für die es dir an Know-how mangelt. Wenn dann die Expertise fehlt, ist das frustrierend.

Mir war immer wichtig, dass integrierte Kinder am Klassenunterricht teilhaben, dass sie ähnliche Inhalte wie die anderen bearbeiten können, einfach auf angepasstem Niveau. Aber es ist schon so: Je stärker die Beeinträchtigung, desto schwieriger wird es auf lange Sicht.

Für mich persönlich liegt die Grenze da, wo ich ein Kind nicht mehr fördern kann, weil ich fachlich nicht weiterweiss. Geht es nur noch ums Dabeisein, ist das Recht des Kindes auf Bildung gefährdet – da muss ich als Lehrerin transparent sein.»

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Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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