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«Viele sind am Limit»

Lesedauer: 2 Minuten

Marianne Schwegler, 50, ist schulische Heilpädagogin in Basel-Stadt. Die integrative Schule stosse dort an ihre Grenze und gefährde die Gesundheit von Lehrpersonen, sagt sie. Abhilfe schaffen soll eine Volksinitiative, die sie mitlanciert hat.

Aufgezeichnet von Virginia Nolan
Bilder: Ornella Cacace / 13Photo

«Ich bin Vizepräsidentin der Freiwilligen Schulsynode Basel, des Berufsverbands von Lehr- und Fachpersonen mit über 4000 Mitgliedern. Im vergangenen Spätsommer hat deren Mehrheit eine Volksinitiative lanciert, die für Aufsehen sorgte: Basler Lehrpersonen wollten die Integration abschaffen, hiess es in den Medien. Das Gegenteil ist der Fall: Wir wollen die integrative Schule stärken – durch dringend notwendige Entlastung der Regelklassen.

Vier Kinder pro Klasse gelten als verhaltensauffällig. Wir haben zu wenig Ressourcen, um das abzufedern. Leidtragende sind die Kinder.

Wir fordern, dass in Stadtbasler Regelschulen heilpädagogisch geführte Förderklassen eingeführt werden. Für Kinder, die in Kleingruppen besser lernen, und solche, deren Verhalten den Rahmen einer Regelklasse sprengt. Die Förderklasse hätte zum Ziel, dass Kinder sich dort stabilisieren und längerfristig in ihre Regelklasse zurückkehren könnten.

Viele Lehrpersonen sind am Limit. In Basel-Stadt reichen die Ressourcen, die Schulen für integrative Förderung haben, oft nicht annähernd aus, um damit verbundene Herausforderungen aufzufangen. Einer der grössten Belastungsfaktoren, das zeigt eine Umfrage unseres Verbandes, ist der Umgang mit Verhaltensproblemen.

Wir haben es immer öfter mit Kindern zu tun, die im sozial-emotionalen Bereich entwicklungsverzögert sind, im Kindergarten etwa auf dem Stand eines Kleinkinds sind. Sie werfen sich auf den Boden und schreien, wenn sie überreizt sind, schlagen oder treten, wenn sie auf Widerstand stossen. Ich beobachte solche Verhaltensweisen bis in die Primarstufe.

Auch da fehlen immer mehr Kindern Strategien im Umgang mit Frust, Wut oder Ablenkung. Meist kommen sie aus sozial belasteten Familien. Auf meiner Stufe haben viele keine oder noch keine Diagnose, die zusätzliche Mittel ermöglichte.

Früher besuchten Kinder mit einer Behinderung, Lern- oder Verhaltensproblemen Sonderschulen, heute wenn möglich die Regelschule. Was Befürworter als gesellschaftliche Errungenschaft loben, sehen Kritiker als Zerreissprobe fürs Schulsystem. Was kann Inklusion wirklich leisten, was nicht? Lesen Sie mehr dazu im Artikel «Eine Schule für alle?».

Als Heilpädagogin begleite ich meine Klasse von der ersten bis zur dritten Primarstufe. In der ersten Klasse kann ich die Lehrperson mit fünf Wochenlektionen integrativer Förderung unterstützen, in der dritten sind es noch drei. Laut Studien gelten 20 Prozent der Kinder als verhaltensauffällig, bis zu vier Kinder pro Klasse. Wir haben zu wenig Ressourcen, um das abzufedern. Die Leidtragenden sind die Kinder. Die, deren Bedürfnisse den Rahmen sprengen – und die Unauffälligen, die zu kurz kommen.

Meist sind das einsatzbereite, schulisch schwächere Kinder, die etwas mehr Unterstützung bräuchten, oder kognitiv fitte Fremdsprachige, die auf Deutsch nicht alles verstehen. Doch Kinder melden Unterstützungsbedarf oft nicht von sich aus, sie sind darauf angewiesen, dass ihn die Lehrperson oder Heilpädagogin erkennt. Das ist schwer möglich, wenn man ständig damit absorbiert ist, anderswo Brände zu löschen.»

Die 11 wichtigsten Begriffe zu Inklusion:

Was bedeutet ein besonderer Bildungsbedarf genau und was versteht man unter integrativer Förderung? Wir haben für Sie ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen der sonderpädagogischen Massnahmen der Volksschule zusammengestellt. Mehr dazu erfahren Sie hier.

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

Alle Artikel von Virginia Nolan

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