Das bedeutet: «Es wird geschaut, was das Kind braucht, damit es sein Bildungsziel erreichen kann. Nicht mehr so sehr, welche Störung es hat.» Und da kommen wieder die leistungsschwachen Kinder ohne klar diagnostizierte Behinderung ins Spiel. Auch einige von ihnen brauchen Hilfe, um ihr Potenzial entfalten zu können.
Ein Beispiel aus der Praxis: In der 4i der Sekundarschule Leonhard in Basel haben die Heilpädagogen im Schulalltag auch ein Auge auf die schwachen oder verhaltensauffälligen Schüler, die kein medizinisches oder psychologisches Zeugnis mitbringen. Zum Beispiel auf ein Mädchen aus Japan, das erst vor wenigen Wochen in die Schweiz gezogen ist. Es scheint normal begabt zu sein, spricht aber nur Englisch. Oder auf ein Mädchen mit Migrationshintergrund, das sehr unsicher ist und sich nicht traut, Fehler zu machen. Auch ihnen wenden sich die Heilpädagogen zu und verfassen zusammen mit ihnen persönliche Lernziele und Förderpläne.
Das Mädchen aus Japan erhält zudem Förderstunden in «Deutsch als Zweitsprache». Dass die Heilpädagogen nicht nur für die Schüler mit Integrationsstatus wie Sophie da sind, sondern auch für diese Fälle Zeit haben, liegt laut Peter Lienhard daran, dass die Lehrpersonen und Heilpädagogen der Sek Leonhard die Klassen und Fächer intelligent zusammenführen und damit auch ihre eigenen Ressourcen bündeln. «Das ist sehr clever – genau so muss man es eigentlich machen, damit Integration funktioniert», so Lienhard. Denn eines ist klar: Integration fordert nicht nur von den Heilpädagogen, sondern auch von den Lehrpersonen und Eltern viel.
«Bei vielen herrscht Unsicherheit – die Inklusion ist ein Angstthema», sagt Bettina Ledergerber, Kommunikationsverantwortliche von Pro Infirmis. Die Fachorganisation berät vor allem Eltern von Kindern mit Behinderung, aber auch Lehrpersonen und Behörden. Sie übernimmt eine Übersetzerrolle für das Fachchinesisch und hilft beim Einfordern von Ansprüchen. Ledergerber bezeichnet das Schweizer Schulsystem als «im Umbruch».
Die Vision der Inklusion, die Vielfalt der Menschen als Stärke zu sehen, sei ein hoher Anspruch. Und die Umsetzung sei zudem der ständigen Beobachtung der Medien ausgeliefert. Fehlende Ausbildung, knappe Mittel Und die Medien finden immer wieder Lehrpersonen, die darüber klagen, dass ein normaler Unterricht mit so unterschiedlichen Schülern kaum möglich sei. Vielen Lehrern fehlt die entsprechende Ausbildung im Umgang mit Integrationsschülern.
Erst seit einigen Jahren gehören Module für Integration und Sonderpädagogik zur Lehrerausbildung an den Pädagogischen Hochschulen. Gerade ältere Lehrkräfte aber müssen nachschulen – wenn denn Geld und Zeit dafür da sind. Als der «Tages-Anzeiger» vergangenen Herbst überforderte Lehrer in einem Artikel zu Wort kommen liess, verneinten dann auch 73,6 Prozent der Online-Leser die Frage: «Gehören Sonderschüler in die Regelklasse?».
Es sind besonders die Eltern der normalbegabten Regelschüler, die befürchten, dass Kinder in der Entwicklung gebremst werden, wenn schwache Schüler und Sonderschüler in derselben Klasse unterrichtet werden. Urs Strasser zeigt in der «Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik» die Wirkung von integrativen Settings auf Regelschüler auf: Sie entwickelten
bessere soziale Kompetenzen, würden nicht gebremst und machten sogar, entgegen den Befürchtungen,
besonders grosse Fortschritte.
In Deutschland hat die Bertelsmann-Stiftung im Jahr 2015 Eltern befragt und zeigte auf: Sie geben inklusiven Schulen durch die Bank weg gute Noten (siehe Box). Auch Heilpädagoge Martin Gürtlervon der Sek Leonhard ist überzeugt, dass gerade die stärkeren Kinder vom integrativen System profitieren,weil sie zum einen die Vielfalt der Gesellschaft wirklich erfahren würden, zum anderen aber auch eineintensivere Betreuung genössen.
Lern-
und leistungsschwache
Kinder machen in Regelklassen
grössere Fortschritte.
Wenn Integration beziehungsweise das Fernziel Inklusion also Vorteile für alle bringt – warum stossen sie dann so oft auf Widerstand? «Die Schulen haben zum Teil zu wenig Ressourcen, die Politiker haben oft Panik vor dieser komplexen Thematik, und für die Eltern ist der Schulerfolg ihres Kindes so zentral, dass sie sich nicht auf Experimente einlassen wollen», fasst Lienhard zusammen.
Gerade der Widerstand der Eltern aber löse sich häufig auf, wenn sie den Schritt erst einmal wagten. Auch das zeigte die Studie der Bertelsmann-Stiftung: Wer Erfahrung mit Inklusions- und Integrationsklassen gemacht hat, beurteilt sie viel positiver.
Trotzdem sei eine Integration beziehungsweise Inklusion «nicht nur nicht mehrheitsfähig, sondern auch
nicht immer sinnvoll», betont Lienhard. Wichtig ist, den
Einzelfall zu prüfen. Das stark autistische Kind zum Beispiel, welches in grossen Gruppen in Panik gerät, ist in einer Sonderschule mit kleinen Gruppen, 1-zu-1-Betreuung und Psychiatern wohl besser aufgehoben als in einer Regelschule.
Und es gibt Schülerinnen und Schüler, deren Verhaltensstörung den Unterricht für alle anderen unmöglich macht. Auch kann es vorkommen, dass Schüler mit einer starken Hör- oder Sehbehinderung in der Regelschule Strategien entwickeln, damit niemand merkt, dass sie nichts verstehen. Aber: «Es hängt nicht nur vom Kind ab, ob Integration gelingt», betont Lienhard. Er werde oft gefragt, bei welchen Behinderungen Integration sinnvoll sei, und antworte dann mit einem Mindmap.
Dieses zeigt: Der Schüler ist nur ein Puzzleteil. Damit Integration und Inklusion an Schulen gelingen, müssen Eltern, Lehrpersonen, Schulleitung und -behörde zusammenspielen, Räume und Hilfsmittel müssen gegeben sein und Beratung und Ausbildung von aussen hinzukommen. «Wenn zum Beispiel die Eltern aller anderen Schüler dagegen sind, dass ein Kind mit Behinderung in die Klasse kommt, wird es dieses Kind sehr schwer haben», sagt Lienhard.
Sprachunterricht, individuelle
Förderpläne, grössere Schrift –
die Hilfsmittel sind vielfältig.
Inklusion bedeutet nicht zwangsläufig, dass alles gemeinsam gemacht und mit denselben Massstäben gemessen wird. So bekommen die Sonderschüler in integrativen Settings nur dann Noten, wenn ihre Leistung wirklich mit der der Regelschüler vergleichbar ist. Im Zeugnisbericht stehen dann ihre individuellen Lernziele – zum Beispiel «Addieren im Zehnerraum» – und eine Beschreibung, wie gut diese erreicht wurden.
Es ist auch nirgends festgelegt, dass die Schüler stets in einem Raum unterrichtet werden müssen. Wenn zum Beispiel Sophie und die anderen Kinder mit Integrationsstatus der 4i an der Sek Leonhard ein Referat vorbereiten sollen, gehen die Heilpädagogen mit ihnen in den Heilpädagogikraum. Hier dürfen sie auch mal laut werden, hier kann die Aufgabe wieder und wieder erklärt werden, ohne dass man die anderen Schüler stört. Das Ergebnis wird dann wieder vor der ganzen Klasse vorgetragen.
Ausserdem lässt der Stundenplan der 4i genug Raum für den persönlichen Wochenplan der Schülerinnen und Schüler – und da kann es passieren, dass eine Schülerin am Rechenschieber 5 und 7 zusammenzählt, während ihre Mitschülerin am Nebentisch die Entfernung von zwei Städten anhand einer Landkarte berechnet.
Für Christian Liesen, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, geht es bei Inklusion darum, «sich vorzustellen, wie Bildungs- und Erziehungsziele erreicht werden können, ohne seine Vorstellungskraft einzuschränken». Entscheidend sei die Erkenntnis, so Liesen, «dass stets mehrere vernünftige Wege ins Ziel führen».
Redaktionelle Mitarbeit:
Martina Proprenter
Mitte 2015 ergab eine repräsentative Umfrage von Infratest dimap für die Bertelsmann-Stiftung in Deutschland, dass Eltern mit inklusiven Schulmodellen sehr zufrieden sind, zufriedener als jene, deren Kinder eine Schule ohne gemeinsamen Unterricht mit Kindern mit Behinderung besuchen, unabhängig davon, ob das eigene Kind einen speziellen Förderbedarf hat oder nicht. 73 Prozent gaben an, ihre Erfahrungen mit Inklusion seien positiv oder sehr positiv. Sie schätzten den sozialen Zusammenhalt und dass ihre Kinder im eigenen Tempo lernen könnten. Auch die Lehrer empfanden die Eltern an inklusiven Schulen als engagierter. Die Umfrage zeigte aber auch: Erst die Erfahrung mit Inklusion verringert die Skepsis. 58 Prozent der Eltern ohne Inklusionserfahrung meinen, sie gehe auf Kosten des fachlichen Wissens, nur noch 44 Prozent meinen das bei den Eltern mit Inklusionserfahrung.