«Allen gerecht zu werden, verlangt mir viel ab»
Aléxia Jaggi, 42, ist Primarlehrerin in Opfikon ZH. Sie hatte schon einige Kinder mit Sonderschulstatus in ihrer Klasse. Es sind aber meist nicht diese, die von ihr am meisten Aufmerksamkeit einfordern.
«Gemeinsam mit meiner Stellenpartnerin unterrichte ich 20 Zweitklässlerinnen und Zweitklässler. Ich bin ausserdem für Deutsch als Zweitsprache zuständig – zu Hause spricht kaum eines unserer Kinder Deutsch. Im Bestreben, Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen bestmöglich zu fördern, absolvierte ich einen Masterstudiengang mit Schwerpunkt auf inklusive Pädagogik und Heterogenität. Ich sehe es so: Das Bildungssystem muss sich den Kindern anpassen, nicht umgekehrt.
Doch die Sache hat einen Haken: Sonderpädagogische Unterstützung kriegt ein Kind nur, wenn es einen Sonderschulstatus hat, der es dazu berechtigt. Bei körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen sind die Kriterien dafür relativ gut abgrenzbar, bei Verhaltensauffälligkeiten dagegen diffus.
Ich hatte schon einige Schülerinnen und Schüler mit Sonderschulstatus aufgrund einer Lernbehinderung. Für sie passen wir Ziele und Inhalte an, das funktioniert gut. Stärker fordern uns Kinder mit schwach ausgeprägten Selbst- oder Sozialkompetenzen, die nicht in der Lage sind, sich zurückzustellen, Impulse zu unterdrücken, Frust zu zügeln oder fünf Minuten bei der Sache zu bleiben. Ich versuche, sie mitzutragen, investiere viel in Beziehungsarbeit.
Mein 100-Prozent-Pensum als Anwältin, das ich früher innehatte, forderte mich nie so wie die 65 Prozent als Lehrerin.
Gleichzeitig muss ich dafür sorgen, dass die anderen in diesem Umfeld etwas lernen. So schaue ich beispielsweise, dass die vier Wochenlektionen, die die Klasse für integrative Förderung mit der Heilpädagogin zugute hat, Kinder bekommen, die schulische Inhalte vertiefen müssen, nicht solche mit Verhaltensthemen. Der Spagat, allen gerecht zu werden, verlangt mir viel ab. Mein 100-Prozent-Pensum als Anwältin, das ich früher innehatte, forderte mich nie so wie die 65 Prozent als Lehrerin. Doch ich empfinde meine Arbeit als sinnstiftend.
Die Gründe für auffälliges Verhalten sind vielfältig, Kinder tragen keine Schuld dafür. Ich habe nie erlebt, dass Verhaltensprobleme zu einem Sonderschulstatus führen. Entweder scheitert es an der Abklärung oder die Eltern lassen diese nicht zu. Es ist schon so: In der Unterstufe empfinden Kinder es meist nicht als negativ, abgeklärt zu werden.
Die Tests und die damit verbundene Aufmerksamkeit machen ihnen oft Freude. Später wissen sie, worum es geht: Es besteht die Möglichkeit einer Etikettierung, die sie negativ assoziieren. Ich bin nicht für vorschnelle Abklärungen und mir leuchtet ein, dass man den Sonderschulstatus mit Zurückhaltung vergibt. Am Schluss ist es eine Finanzierungsfrage.
Was bedeutet ein besonderer Bildungsbedarf genau und was versteht man unter integrativer Förderung? Wir haben für Sie ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen der sonderpädagogischen Massnahmen der Volksschule zusammengestellt. Mehr dazu erfahren Sie hier.
Ob es sinnvoll ist, Ressourcen an einen Status und einzelne Kinder zu koppeln? Ich weiss es nicht. Vielleicht müsste man eher das grosse Ganze im Blick haben und in frühe Prävention investieren. Ich sehe hier viele Kinder, die noch nicht über die Kompetenzen verfügen, die es bräuchte, damit das funktioniert, was sich die Volksschule unter Normalbetrieb vorstellt.»