«Frau Weber, welche Eigenschaften werden im Spiel bei Kindern gefördert?» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Frau Weber, welche Eigenschaften werden im Spiel bei Kindern gefördert?»

Lesedauer: 4 Minuten

Mit der ersten Klasse beginne der Ernst des Lebens, hiess es früher. Heute weiss man, wie wichtig das freie Spielen auch nach dem Kindergarten bleibt. Doch hat es dafür auch wirklich genug Raum? Karolin Weber, Mitautorin des Lehrplans 21, nimmt Stellung. 

Frau Weber, warum ist Spielen so wichtig für die Entwicklung?

Bei kleinen Kindern ist das Spielen der Königsweg des Lernens. Indem sie im Spiel Dinge entdecken, selbst ausprobieren, Situationen nachspielen, lernen sie ganz nebenbei. Ihre Aktivitäten werden dabei in erster Linie von ihren Interessen und der Motivation geleitet, die eigenen Fähigkeiten zu erproben und zu erweitern. Im Spiel können sich viele Kinder über lange Zeit in eine selbst gestellte Aufgabe oder eine Rolle vertiefen, eine hohe Konzentration aufrechterhalten und spezifisches Wissen und Können erwerben. 

Gilt dies auch für Kinder im Primarschulalter?

Das Spiel verändert sich mit der Reifung des Kindes. Es wird zielgerichteter, Regeln werden aufgestellt und beim Spielen eingehalten, es wird komplexer. Nehmen wir Legosteine als Beispiel: Zu Beginn steckt das Kleinkind die Steine irgendwie und zufällig zusammen. Nach ein bis zwei Jahren baut es Türme, die so gross sind wie es selbst, und irgendwann baut es komplexe Gebilde nach Bauanleitungen. Trotzdem bleibt die Grundfunktion die gleiche: Wenn es sich um echtes Spielen handelt, geht es nicht ums Lernen, sondern um das Spielen an sich. Das Lernen passiert nebenbei.
Karolin Weber  ist Kindergartenlehrperson, Redaktionsmitglied 4bis8, Fachzeitschrift für den 1. Schulzyklus, und Mitautorin des Lehrplans 21. (Bild: NMS Bern)
Karolin Weber
ist Kindergartenlehrperson, Redaktionsmitglied 4bis8, Fachzeitschrift für den 1. Schulzyklus, und Mitautorin des Lehrplans 21. (Bild: NMS Bern)

Welche Eigenschaften werden im Spiel bei Kindern im frühen Primarschulalter gefördert?

Ende der 1990er-Jahre gab es in Deutschland Untersuchungen in ersten Primarschulklassen. Dabei kam heraus, dass diejenigen Kinder, die während des Unterrichts auch regelmässig frei spielen durften, dass heisst sich aussuchen durften, was beziehungsweise womit sie spielten, stärker waren in den sogenannten Lernbegleitprozessen wie Durchhaltevermögen, Konzentration oder Kreativität als Kinder der Klassen, die dies nicht durften – und dies, ohne Defizite im Fachlichen zu haben.

Nun hat man den Eindruck, dass das freie Spielen mit den Jahren zugunsten des fachlichen Lernens stark in den Hintergrund rückt. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Wenn man sich die Entwicklung der letzten zehn Jahre anschaut, glücklicherweise nicht. In den Klassenzimmern liegt mehr Spielmaterial bereit als früher. Aber es ist schon so: Die Möglichkeiten des Kindes, gezielt und bewusst zu lernen, nehmen in diesem Alter zu – und werden im Lehrplan berücksichtigt. Das Spiel behält seine Bedeutung, wird aber mehr und mehr durch zielgerichtetes Lernen ergänzt.

Es ist auch für Lehrer aufwendiger, den Unterricht so zu gestalten, dass Kinder sich die Lerninhalte spielerisch aneignen.

Und es ist schwieriger, die Lernschritte und Erfolge zu beobachten. Aber es lohnt sich! Ein sehr abrupter Wechsel vom vorwiegend selbst gewählten Spiel wie im Kindergarten zum zielgerichteten, diktierten Lernen ist eine sehr grosse Umstellung. Die Kinder haben in den ersten Monaten in der Schule ein grösseres Aktivitätsbedürfnis, da sie mehr sitzen und aufmerksamer sein müssen als im Kindergarten. Sie wollen draussen sein, frei spielen. Andererseits ist ein «schulbereites» Kind in der Regel in der Lage, sich auf die Anforderungen des schulischen Alltags einzulassen. Lernen ist ein Bedürfnis. Je besser die Schule auf die verschiedenen Lernwege und Voraussetzungen der Kinder eingeht, desto leichter fällt den Kindern die Umstellung. Ihre Motivation zu lernen bleibt oder steigert sich sogar noch.

Wie wichtig ist es, dass auch die Eltern ihre Kinder nachmittags weiterhin frei spielen lassen?

Sehr wichtig. Eltern wie Lehrpersonen müssen das Bewusstsein entwickeln, dass Kinder nicht nichts tun, wenn sie spielen. Spielen ist mehr als nur Ausruhen und braucht Zeit. In dieser Zeit suchen sich Kinder selbst gesteuert und aus eigener Motivation heraus eine für sie sinnvolle Beschäftigung. Das ist eine nicht zu unterschätzende Leistung.

Welches sind geeignete Spiele für Kinder zwischen sechs und sieben Jahren?

Das können ganz unterschiedliche Brettspiele, Rollenspiele und vor allem Bewegungsspiele sein, Ballspielen, Toben, Skateboarden. Wichtig ist, dass Kinder nicht vorgegeben bekommen, was sie spielen sollen, sondern frei wählen können.

Was halten Sie von Lernspielen?

Nicht viel. In der Regel geht es nicht mehr um das Spielen an sich, es verkommt zum Mittel zum Zweck. Das wird von Kindern schnell enttarnt. 

Und was ist mit Computerspielen? 

Solche Spiele erfüllen oft genau die Voraussetzungen, um sich über längere Zeit zu vertiefen und zu beschäftigen. Anspannung und Entspannung sind meist in einem optimalen Verhältnis und das Erfolgserlebnis erfolgt sehr schnell und in grosser Zahl. Das stimuliert und macht zufrieden. Andererseits macht es aber auch einseitig abhängig. Darum gilt: Computerspiele gehören dazu, aber in einem kleinen und kontrollierten Rahmen.

Inwiefern wird das freie Spiel im Lehrplan 21 berücksichtigt?

Im ersten Schulzyklus ist es nach wie vor möglich, gewisse Inhalte spielerisch zu lernen und zu üben. Viel wichtiger als der Lehrplan sind in dieser Frage jedoch das Methodenrepertoire und die Grundeinstellung der jeweiligen Lehrperson.

Buchtipps zu Entwicklung, Psychologie und Gesundheit:

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btb Verlag 2018, 224 Seiten,
ca. 15 Fr.

Im Spiel entfalten Menschen ihre Potenziale, beim Spiel erfahren sie Lebendigkeit.
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Remo H. Largo: Kinderjahre.Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Piper 2019, 384 Seiten, ca. 30 Fr. Der Klassiker in neuer Auflage.
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Dieser Artikel stammt aus unserem Kindergarten-Spezialheft «Tschüss Chindsgi» 04/19 mit Themen für Lehrpersonen und Eltern von Kindern im zweiten Kindergartenjahr. Eine Einzelausgabe kann hier bestellt werden. 
Dieser Artikel stammt aus unserem Kindergarten-Spezialheft «Tschüss Chindsgi» 04/19 mit Themen für Lehrpersonen und Eltern von Kindern im zweiten Kindergartenjahr. Eine Einzelausgabe kann hier bestellt werden.