«Der Sex mit anderen hat unsere Ehe gerettet»
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«Der Sex mit anderen hat unsere Ehe gerettet»

Lesedauer: 9 Minuten

Was für die meisten Paare unvorstellbar ist, leben Stefanie und Jacek, Eltern eines achtjährigen Jungen: eine offene Beziehung. Wie eine einvernehmliche Liebesbeziehung zu mehreren Menschen funktionieren kann – und zu welchen Regeln Paartherapeuten raten –, davon handelt dieser Text.

Text: Alma Pfeifer
Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo

Ein Mehrfamilienhaus in einem Luzerner Quartier, Mittwochabend. Stefanie steht im Badezimmer und schminkt sich. Tim sitzt am Küchentisch und schreibt an seiner Piratengeschichte. Die Mutter beugt sich über ihren Sohn, küsst ihn auf die Stirn. «Tschüss, mein Lieber, wir sehen uns morgen Mittag nach der Schule.» Dann verabschiedet sich Stefanie von ihrem Mann Jacek und macht sich auf den Weg zu ihrem Geliebten. Seit vier Jahren treffen sich die beiden einmal pro Woche.

Stefanie teilt ihr Leben mit mehreren Männern. Sie und ihr Mann Jacek kennen sich seit 14 Jahren. Vor sechs Jahren haben sie beschlossen, ihre Erotik mit jeweils anderen Partnern auszuleben, terminlich vereinbart und transparent kommuniziert. Beide treffen sich mit festen oder wechselnden Partnern für Sex und Erotik. Die meisten Wochenenden verbringen sie zu zweit und mit ihrem gemeinsamen achtjährigen Sohn.

«Wir sind glücklich», erzählen Stefanie und Jacek. «Dass wir unsere Sexualität mit Dritten ausleben, hat unsere Ehe gerettet.» Feste Partnerschaften mit mehreren Sexualpartnern, Intimität nach Terminkalender oder eine Beziehung ganz ohne Sex: Individuell ausgehandelte Arrangements bestimmen zunehmend das Leben von vielen Paaren. «Liebespraktiken, die lange als Sittenverfall stigmatisiert wurden, rücken von den Rändern der Gesellschaft in den Mainstream», sagt Andreas Steinle, Geschäftsführer des deutschen Zukunftsinstitutes in Frankfurt. «Verpflichtende Moralvorstellungen, wie sie seitens der Kirche formuliert werden, lassen mit der Individualisierung der Gesellschaft nach.»

Dem Partner und sich selbst Seitensprünge offiziell zu gestatten, können sich nur die wenigsten vorstellen: Zu riskant, zu kompliziert, zu aufwendig, zu verletzend sei diese Form des Zusammenlebens. Stefanie und Jacek haben einen Weg gefunden und ihr Kind sowie Familie und Freunde in ihr Beziehungsmodell eingeweiht. Der Grund für ihr getrenntes Liebesleben liegt im erfolglosen Versuch, ein zweites Kind zu bekommen. Den Druck, den beide sich gemacht hätten, um für Tim ein Geschwisterchen zu bekommen, sei irgendwann so gross geworden, dass im Bett gar nichts mehr ging, erinnert sich Jacek.

Die Freundschaft zwischen uns war von Anfang an stärker als die Erotik.

Stefanie

«Am Anfang unserer Beziehung stimmte die Erotik für uns beide», sagt Stefanie. «Doch damals schon war die Freundschaft zwischen uns stärker als die Erotik. Beim Versuch, ein zweites Mal schwanger zu werden, kam alles zusammen. Mein Frust, nicht die Art von Sexualität ausleben zu können, die ich mir wünschte, und der Druck bei uns im Ehebett. Ich war ganz und gar ratlos», sagt die 38-Jährige. «Ich dachte, ich sei nicht mehr weiblich, nicht mehr anziehend genug für meinen Mann, ich sehnte mich danach, begehrt zu werden, fühlte mich nicht mehr wohl in meinem Körper. Dabei stand ich doch in der Blüte meines Lebens. Ich beneidete andere Frauen um die Leichtigkeit in deren Beziehung, wünschte mir auch, mich ausleben zu können.»

Als Stefanie und Jacek in einem Zeitungsartikel von einem Paar lasen, das sich liebt, aber Sex mit anderen hat, begannen sie darüber zu sprechen, ob das auch für sie eine Möglichkeit wäre. Heute sind sie überzeugt, dass ihre offene Beziehung ihre Partnerschaft gerettet hat. «Attraktivität und wilder Sex weichen nach einigen Jahren Vertrauen, Geborgenheit und Zweisamkeit des Zusammenlebens», sagt der Thurgauer Psychologe Gerhard Dammann.

Im Lauf einer Beziehung weichen Attraktivität und wilder Sex. Vertrauen und Geborgenheit werden wichtiger.
Im Lauf einer Beziehung weichen Attraktivität und wilder Sex. Vertrauen und Geborgenheit werden wichtiger.

Das liege in der Natur der Sache: «Erotische Anziehungskraft braucht Fremdheit und eine gewisse Form der Unsicherheit. Der Preis, der in einer enger werdenden Partnerschaft entsteht, ist ein Gewinn an Nähe und ein Verlust an Fremdheit.» Das Paradoxe dabei ist: Der Wunsch, mit einer bestimmten Person sehr viel Zeit zu verbringen und so oft wie möglich Gelegenheiten zu nutzen, sich gegenseitig zu entkleiden, ist das Fundament der meisten Liebesbeziehungen in modernen Gesellschaften.

Trotzdem wird Sexualität im Laufe der Paarzeit von einer Selbstverständlichkeit zum Problem: Einer der Hauptgründe für das Scheitern von Paarbeziehungen ist sexuelle Frustration. Eine 2017 veröffentlichte Untersuchung des Online-Partnervermittlungsinstituts Parship ergab, dass die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs nach fünf Jahren rapide abnimmt. Der Anteil an Paaren, die nur noch alle paar Monate bis gar nie Sex hatten, liegt ab fünf Jahren Beziehungsdauer bei 19 Prozent, in über zehnjährigen Beziehungen bei 26 Prozent und ab 20 Jahren Beziehungsdauer sogar bei 35 Prozent.

Aus Frau und Mann werden Mama und Papa

Dass Sex in der Ehe weniger wird, hat auch evolutionsbiologische Ursachen. In der ersten Verliebtheit werden die Glückshormone Dopamin, Noradrenalin und Serotonin ausgeschüttet – mit dem Ziel, möglichst oft zusammenzukommen, damit die Nachkommenschaft gesichert wird. Ist dieses Ziel erreicht, kommen die harmonisierenden, beruhigenden Botenstoffe wie Oxytocin und Vasopressin zum Tragen: Die Anziehung weicht der Erziehung. Aus Frau und Mann werden Mama und Papa. Sex wird zur Nebensache, das Aufziehen der Kinder steht im Vordergrund.

«Die Ehe wird vor allem verbindlich, wenn Kinder da sind», sagt die Walliser Generationenforscherin Pasqualina Perrig-Chiello. «Aber das Versprechen, bis dass der Tod euch scheidet, einzuhalten, ist etwas, das bisher noch keine Generation in dieser zeitlichen Länge einhalten musste. Wir müssen die Ehe neu definieren.» Die Sexualität mit jemand Drittem auszuleben – in der Fachsprache Polyamorie oder Polysexualität genannt – ist eine Möglichkeit. Da­­hinter steckt die Idee, Sexualität von Liebe in Beziehungen zu trennen.

Die israelische Soziologin Eva Illouz ist die Vordenkerin dieses Konzepts. Illouz fordert uns auf, uns in Familien zu versuchen, Romanze von Partnerschaft zu trennen, also Kinder mit Freunden grosszuziehen und Leidenschaft mit anderen Partnern zu leben. Sie sagt: «Ich möchte die Liebe als Konzept auch nicht völlig aufgeben. Familien müssen sich weiter darauf stützen. Aber muss es denn diese sehr enge Form der romantischen Liebe sein? Unsere Gesellschaft ist zu sehr fixiert auf die heterosexuelle Liebe. Bei den alten Griechen war Liebe ein sehr viel durchlässigeres Konzept. Wir sollten das auch erwägen.»

Als Stefanie und Jacek sich auf dem Höhepunkt ihrer Lustlosigkeit befanden, gab es zwei Möglichkeiten: durchbeissen oder sich trennen. Letzteres war nie ein Thema. «Warum auch? Es läuft doch sonst alles gut zwischen uns.» Die Erotik auszulagern, bedeutet nicht das Ende der Beziehung, sagt Stefanie. «Vor allem nicht, wenn Liebe, Zärtlichkeit und körperliche Nähe nach wie vor gelebt werden.» Bis die beiden einen gemeinsamen Weg aus der Krise fanden, gab es viele Versuche und Irrtümer, Verträge und unzählige Gespräche. Wie viele Nächte durfte jeder ausserhalb verbringen? Was geht zu weit? «Einfach war es nicht», erinnert sich Stefanie. «Vor allem als Freunde und Familie mitbekamen, auf was für ein Experiment wir uns eingelassen hatten.»

Die sexuelle Beziehung zu anderen Partnern brachte Stefanie ihrem Mann wieder näher.
Die sexuelle Beziehung zu anderen Partnern brachte Stefanie ihrem Mann wieder näher.

Nachbarn wurden stutzig, als ein anderer Mann in der Wohnung von Stefanie und Jacek ein und aus ging. Bekannte fragten nach, ob sich das Paar getrennt hätte, nachdem man sie in der Stadt in den Armen eines anderen gesehen hatte, erzählt Stefanie. «Die Eltern machten sich Sorgen um unseren Sohn, um mich, die in ihren Augen jede Vernunft verloren hatte. Ich aber blühte auf, das brachte mich meinem Mann wieder näher, wenn auch auf der Ebene einer tiefen Freundschaft.» Heute hat sich das Arrangement eingespielt. Beide treffen sich jeweils an einem bis zwei Abenden die Woche mit anderen, gestehen sich Wochenenden mit den Aussenpartnern zu. Auch Treffen in der gemeinsamen Wohnung sind erlaubt.

Das Paar rüttelt damit an einem der letzten Tabus unserer Gesellschaft: der körperlichen Treue. Treue ist eines der zehn Gebote, das wir überhaupt noch einhalten können, daran hängen wir sehr», schreibt Stephanie Katerle in ihrem Buch «Seitensprünge». Nach wie vor wünschten sich fast alle Frauen und Männer einen sexuell treuen Partner, auch wenn sie es selber nicht immer so genau nehmen mit der Treue. Schätzungen zufolge betrügen mehr als die Hälfte aller Männer und Frauen ihre Partnerinnen und Partner im Laufe ihrer Langzeitbeziehung.

Sollen Kinder eingeweiht werden?

In ihrem Buch rät Katerle Paaren, offener über das Thema Treue zu sprechen und sich von Anfang an zu fragen, was eigentlich Treue bedeutet. «Was es heisst, zueinander zu stehen, was gemeinsame Werte sind, wofür man gemeinsam einsteht, was die Beziehung ausmacht ausser der sexuellen Exklusivität.» Denn das sei nur ein ganz winziger Teil einer Beziehung. Die anderen Teile seien viel grösser und wichtiger. «Es gibt eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kinder. Man durchlebt Freud und Leid miteinander. Das soll alles plötzlich nichts mehr wert sein, weil einer mit einem anderen Menschen geschlafen hat?», schreibt Autorin Stephanie Katerle.

Stefanie und Jacek sind Eltern. Sie möchten ihrem Kind erklären, warum Mama öfter nachts wegbleibt, weshalb Papa andere Frauen trifft. Wie geht ein Kind mit dieser Situation um, und wie spricht man am besten darüber?

Kinder sollen sich frei fühlen, zu fragen, und erzählen, was sie interessiert oder was ihnen auf dem Herzen liegt.

Karin Frei, Paar- und Sexualberaterin

Die Berner Paar- und Sexualberaterin Karin Frei berät in ihrer Praxis Paare, die ihre Beziehung öffnen möchten. «Meiner Erfahrung nach steht und fällt das Gelingen einer offenen Beziehung mit der Einstellung der Eltern», sagt Karin Frei. «Je klarer diese zu ihrer gewählten Beziehungsform stehen und Bewältigungsstrategien für Stresssituationen entwickelt haben, desto mehr Stabilität erfährt das Kind in diesem Gefüge.»

Frei empfiehlt, dass man Kinder nicht unbedingt von Anfang an in alles einweihen müsse, sondern warten soll, bis diese sich interessieren und von sich aus Fragen stellen. Denn grundsätzlich interessieren sich Kinder nicht für die Sexualität ihrer Eltern. «Im Gegenteil. Je weniger sie darüber wissen müssen, desto besser. Kommt der Moment, da die Eltern ihre Sexualität mit anderen Partnern leben möchten, ist es wichtig, dass die Eltern gemeinsam klare Regeln vereinbaren und das Wohl des Kindes miteinbeziehen», rät Karin Frei.

Wo keine Besitzansprüche, da keine Eifersucht.
Wo keine Besitzansprüche, da keine Eifersucht.

Sind sich die Eltern hingegen selber noch unsicher, ist es ratsam, mit der Ehrlichkeit zu warten und den Kindern eine andere Erklärung zu geben, warum sie an manchen Abenden weg sind. «Eine gute Kommunikationskultur», so Frei, «ist bei solch einem Beziehungsmodell besonders wichtig. Kinder sollen sich frei fühlen, zu fragen, und erzählen, was sie interessiert oder was ihnen auf dem Herzen liegt.» Das wiederum bedinge eine vertrauensvolle Beziehungsebene zwischen Eltern und Kind.

Eine offene Paarbeziehung führt nicht zwangsläufig zu einer psychischen Belastung des Kindes. Das Kind braucht die Sicherheit, dass das Familiensystem hält, unabhängig davon, welche Beziehungsform das Paar lebt. Eltern sollen gemeinsame Abmachungen treffen, was und wie viel sie den Kindern und auch dem Umfeld anvertrauen wollen. So lassen sich Missverständnisse verhindern. Die Kinder wissen vielleicht, dass es bei ihren Eltern anders läuft als bei anderen Eltern. Doch solange sie sich der Liebe ihrer Eltern gewiss sind, können sie damit umgehen. Karin Frei ist überzeugt: «Kinder, deren Eltern sich ständig streiten, leiden mehr als Kinder, deren Eltern ihre Sexualität anders leben und einen respektvollen, liebevollen Umgang miteinander pflegen.»

Das Problem einer offenen Beziehung liegt laut den meisten Beziehungsberaterinnen woanders: im Herzen.

Karin Frei ist eine der wenigen Beraterinnen, die einer offenen Beziehung unter gewissen Bedingungen durchaus Chancen einräumt. Die meisten stehen der Beziehungsform eher skeptisch gegenüber. Denn das Problem der offenen Beziehung liegt, so der Tenor, woanders: im Herzen.

Sexuelle Interaktion in Langzeitliebesbeziehungen ist vor allem eine Möglichkeit, Grundbedürfnisse nach Angenommensein und Zugehörigkeit zu erfüllen. «In der Regel will der Mensch in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen werden, vor allem in der Sexualität», sagt Sexualtherapeutin Gabriela Kirschbaum aus Brugg. Eifersucht ist denn auch das Hauptproblem beim Versuch, die Beziehung für Dritte zu öffnen. «Die offene Beziehung ist ein heikles Experiment», sagt Kirschbaum. Ihr seien noch nie Paare begegnet, die gute Erfahrungen mit offenen Beziehungen gemacht hätten, selbst dann nicht, wenn die Partnerschaft von vornherein darauf angelegt gewesen sei.

Auch Ines Schweizer, Paartherapeutin aus Luzern, erlebt in ihrer Praxis viele Paare in erotischen Krisen. Dabei gehe es aber «nicht nur um die Lust auf Sex, die im Laufe einer Beziehung eingeschlafen ist. Viele erleben in ihrer Beziehung eine Art Ohnmacht angesichts der unterschiedlichen sexuellen Wünsche. Es geht meistens um die Balance zwischen der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und der Achtung gegenüber jenen des Partners.» Das bedinge ein «gutes Wir», sagt die Zürcher Paar- und Familientherapeutin Doris Beerli. «Erotik und Sinnlichkeit brauchen Raum und Pflege, ohne diese verschwinden sie. Oft sind Paare mit Beruf und Kindern und Freizeitaktivitäten total ausgefüllt, erliegen den Pflichten, sind Marionetten ihrer selbst, verlieren sich selber und den Kontakt zum anderen.» 

Eine Beziehung zu pflegen heisst, so Beerli, gemeinsame Zeit zu verbringen, sich regelmässig im Zwiegespräch auszutauschen, um die Bindung zu stärken, um sein Herz zu öffnen, zu erzählen, wie es einem geht, und zu hören, wie sich der Partner fühlt. «Dabei entstehen Tiefe und Nähe und somit seelische Intimität.»

Sich immer wieder neu begegnen

Solche Begegnungen können zu Hause, auf dem Waldspaziergang, beim Wandern oder im Hochgebirge sein, beim Erleben von gemeinsamen Abenteuern. Wichtig sei, sagt Beerli, dass es Momente gebe, wo nur «die zwei» da sind und zwischen ihnen immer wieder neu «das Dritte», also die Beziehung, entstehen kann und von ihnen belebt wird. Denn wir alle wünschen uns doch «einen Menschen, dem ich mich mit allen Seiten zeige und der mich im tiefsten Kern wahrnimmt und auch  ­­(er)kennt.»

Solche Begegnungen braucht es immer wieder neu. Damit die Beziehung, die Verbundenheit bleibt, auch wenn dazwischen das ganz normale Chaos des Lebens stattfindet. Als Tim am nächsten Tag von der Schule kommt, steht Stefanie in der Küche und bereitet das Mittagessen vor. «Liest du mir nachher deine Piratengeschichte vor?», fragt sie und streicht ihm über den Kopf. Manchmal, so gesteht sie, frage sie sich, wie Tim einmal über sie denken wird, wenn er besser versteht, wie seine Eltern ihre Beziehung gestalten.  Sie hofft, dass er das mitnimmt, was ihr so wichtig ist: «Den eigenen Weg zu gehen, selbst wenn er unkonventionell ist, und ein Leben zu führen, das man aus tiefstem Herzen bejahen kann.»

Alma Pfeifer
ist Lehrperson, freie Journalistin und lebt mit ihrem Partner und der gemeinsamen kleinen Tochter in Cham.