Herr Huber, wie erleben autistische Kinder die Welt? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Huber, wie erleben autistische Kinder die Welt?

Lesedauer: 4 Minuten

Kann ein Autist Autisten helfen? Matthias Huber zeigt, dass es geht. Seit zwölf Jahren arbeitet der Psychologe an der Autismusfachstelle der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern UPD. Das Aussergewöhnliche: Er ist selbst «Asperger» und weiss, wie autistische Kinder die Welt wahrnehmen.

Herr Huber, beim Betreten Ihrer Praxis erspäht man als Erstes viele kleine Plastiktierchen im Wandregal. Mögen Autisten Tiere?

Es kommt vor, dass Autisten Tiere gerne haben. Das Verhalten von Tieren ist oft einfacher einzuordnen als dasjenige von Menschen. Freut sich zum Beispiel ein Hund, wedelt er mit dem Schwanz. Ein Mensch drückt seine Freude mal mit Lachen aus, mal anders. Er nutzt subtilere Ausdrucksformen. Das ist für Menschen im Autismus-Spektrum schwierig. Sie sind oft eingeschränkt im Verstehen von Mimik und Gestik des Gegenübers.

Nun haben Sie selbst ein Asperger-Syndrom und das Einordnen von Verhalten und Gefühlen anderer gehört zu Ihrem Beruf. Erleben Sie diesbezüglich Einschränkungen?

Im Gegenteil. Für mich ist es einfacher, Autisten einzuschätzen, da ich eine ähnliche Art habe, wie ich die Welt betrachte, wie ich sie analysiere und die Sprache verwende und decodiere. Ich kann Sprache so einsetzen, dass das Kind mit grosser Wahrscheinlichkeit auf mich reagiert und redet.
Matthias Huber, 49, lic. phil., ist Psychologe an der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD Bern. Er arbeitet im Spezialbereich Autismus in der Diagnostik, Beratung und Therapie. Die Zuweisung erfolgt über Ärztinnen und Ärzte sowie über Psychotherapeutinnen und  Psychotherapeuten an die jeweiligen Zweigstellen der KJP im Kanton Bern. Kontakt: info.kjpp@upd.ch, www.upd.ch
Matthias Huber, 49, lic. phil., ist Psychologe an der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD Bern. Er arbeitet im Spezialbereich Autismus in der Diagnostik, Beratung und Therapie. Die Zuweisung erfolgt über Ärztinnen und Ärzte sowie über Psychotherapeutinnen und  Psychotherapeuten an die jeweiligen Zweigstellen der KJP im Kanton Bern. Kontakt: info.kjpp@upd.ch, www.upd.ch

Zum Beispiel?

Offene Fragen erzeugen Stress. Darum formuliere ich meine Fragen sehr präzise und detailliert. Zum Beispiel: «Wenn du Gitarre übst, schaust du auf die Saiten oder geradeaus oder an einen Ort, den ich nicht genannt habe?» Autisten sind Detailmenschen – sowohl im Denken wie auch in der Wahrnehmung. Ein Dialog mit genauen Fragen ist für sie interessant und sie können besser antworten. Kinder ohne Autismus erleben ihn als seltsam. «Spinnt der?», fragte mal ein Jugendlicher. Meine Fragen waren ihm zu detailliert.

«Ich kann Sprache so 
einsetzen, dass das Kind mit grosser Wahrscheinlichkeit auf mich reagiert und redet.»

Matthias Huber über seine Arbeit an der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD Bern.

Mit wem und wie führen Sie Autismusabklärungen durch?

Zu uns kommen Kinder mit der Verdachtsdiagnose ASS, Asperger-Syndrom, frühkindlicher Autismus oder atypischer Autismus. Die Diagnose wird immer im Team durch medizinische und psychologische Fachpersonen gestellt. Mit den Eltern zusammen erheben wir eine Familien- und Entwicklungsanamnese, holen Informationen von Lehrpersonen und Heilpädagoginnen ein und führen Wahrnehmungs-, IQ- sowie autismusspezifische Tests durch. Ein wichtiger Teil bildet das klinische Gespräch. Dabei geben Inhalt und Form der Antwort wie auch das nonverbale Verhalten Aufschluss. Frage ich zum Beispiel ein autistisches Kind, ob es eine Lieblingsfarbe hat, dann antwortet es oft mit «Ja». Ein Kind ohne Autismus nennt die Farbe und erwähnt vielleicht noch sein Fahrrad, das dieselbe Farbe hat.

Wie hoch ist das Durchschnittsalter der Kinder, die Sie untersuchen?

Sie können zwischen 1,5- und 18-jährig sein. Im Durchschnitt sind sie etwa 11-jährig. Oft kommen Jugendliche, die zuvor andere Diagnosen erhielten, die nicht alle Auffälligkeiten oder Besonderheiten erklärten.

Dossier: Autismus

Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen und eine Herausforderung für alle. Das ist Autismus. Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen. Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern? Und vor allem: Wer hilft?
Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen und eine Herausforderung für alle. Das ist Autismus. Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen. Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern? Und vor allem: Wer hilft? Hier gehts zu unserem Online-Dossier mit allen Artikeln zum Thema Autismus. 


Wie äusserte sich das Asperger-Syndrom bei Ihnen, als Sie ein Kind waren?

Ich redete kaum. Fragen beantwortete ich nur, wenn ich die Antwort zu 100 Prozent wusste. Es gelang mir auch nicht, Gedanken sprechend zu entwickeln und in Sätze umzuformen. So antwortete ich oft erst, wenn das Thema schon vorbei war. Ich schaute ausserdem meist weg, wenn jemand redete. Sonst wurde ich zu stark abgelenkt von visuellen Reizen und hörte nur wuwuh, wuwuh. Zudem erkannte ich früher Ironie oft nicht. Das ist typisch für Autisten. Das kann zu zwischenmenschlichen Problemen führen.

Können und wollen autistische Kinder Freundschaften eingehen?

Ich kenne viele, die keine Freunde haben. Sie wünschen sich das eigentlich, können aber nicht so leicht Kontakt knüpfen. Oft sind andere Kinder irritiert: Der starrt ja nur oder schaut einen nicht an. Sie wissen nicht, dass sich auch jemand mit Autismus einen besten Freund wünscht und mal an einen Geburtstag eingeladen werden möchte. Viele autistische Kinder haben ausserdem Angst vor Mobbing. 

Sprechen Sie aus Erfahrung?

Ich wurde als Kind angespuckt und geschlagen, weil ich nicht der Norm entsprechend kommunizierte. Oft mobben Kinder aus Hilflosigkeit. Sie wissen zu wenig über Autismus. Das heisst: Wer Autisten plagt, der braucht mehr Informationen. 

«Andere Kinder wissen nicht, dass sich auch jemand mit Autismus einen besten Freund wünscht.» 

Matthias Huber, Psychologe und Autismus-Experte

Die Hilflosigkeit ist im ganzen Umfeld spürbar. Wo erhalten zum Beispiel Eltern Informationen und Unterstützung?

Sie erhalten von spezialisierten Beratungsstellen Unterstützung (siehe Box am Ende des Beitrags). Mit mehr Aufklärung und Verständnis erübrigt sich zum Teil auch eine Therapie. Ich erlebe oft, dass bereits die Diagnose alleine Erleichterung schafft. Betroffene erkennen, dass sie nicht komisch sind. Dass ihnen ihre Art der Wahrnehmung und des Denkens neue Perspektiven eröffnet.

Welche Perspektiven hat Ihnen Ihre Art des Denkens eröffnet?

Ich hatte viele Spezialinteressen: neben Paläontologie oder Rauchmeldern auch das menschliche Denken, was mich in die Psychologie führte. Da ich kein sozial perfektes Profil aufweise, hatte ich nach dem Studium vorerst Mühe, eine Stelle zu finden, bis ich schliesslich vor 12 Jahren vom damaligen Direktor der KJP Bern, Herrn Prof. W. Felder, das Angebot erhielt, klinische Gespräche mit Kindern mit Verdacht auf Autismus durchzuführen, um herauszufinden, wie sie denken, fühlen und wahrnehmen. Daraus entwickelte sich über die Jahre hinweg eine 70-Prozent-Anstellung. Ich beschränke mich in meiner Tätigkeit auf Autismus. In diesem Bereich fühle ich mich sehr sicher, auch wenn ich immer wieder Neues lerne. 

Das führt zur letzten Frage: Autistische Menschen sind angewiesen auf vertraute Situationen und Abläufe. Wie war es nun für Sie, Fragen zu beantworten, die Sie vor dem Gespräch nicht kannten?

Generell sind unvorhergesehene Fragen zu fremden Themen schwieriger. In diesem Fall war es kein Problem, weil die Fragen alle den Autismus betrafen. Ich öffnete einen Speicher mit sämtlichen Fragen, die mir in den letzten 12 Jahren gestellt wurden, und suchte nach Ähnlichkeiten. So konnte ich auf bestehende Antworten zurückgreifen.

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