Ein Autismusbegleithund für Liam
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Ein Autismusbegleithund für Liam

Lesedauer: 5 Minuten

Liam ist sieben Jahre alt. Er ist Autist, hat ADHS, eine Ernährungsstörung und eine physische Entwicklungsverzögerung von zweieinhalb Jahren. Sein grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen, der ihm Sicherheit gibt. Und ihm bei seinen Schlafproblemen hilft. Hier erzählt Liams Mutter die Geschichte ihres Sohnes.

Aufgezeichnet von Annik Rüedi, Heimberg BE
Bilder: Privat

Das Leben mit unserem autistischen Sohn ist eine Reise voller kleiner und grosser Freuden. Wir stehen täglich vor neuen Herausforderungen, erzielen Fortschritte, erleben Rückschläge. Es ist ein Alltag, der uns lehrt, Geduld, Flexibilität und bedingungslose Liebe auf neue Weise zu leben.

Manchmal sind es die unscheinbaren Momente, die uns die grösste Freude bereiten. Zum Beispiel, wenn uns Liam mit seinen besonderen Interessen begeistert. Er weiss von jedem seiner Dinosaurier, welche «Rasse» es ist. Und er «liest» Lego-Bedienungsanleitungen wie andere Leute Bücher. Liam hat eine Art, sich so sehr in ein Thema zu vertiefen, dass er uns mit seiner Begeisterung ansteckt.

Auch die besonderen Verbindungen, die er mit einzelnen Menschen eingeht, sind eine Freude. Diese Beziehungen mögen selektiv und selten sein. Wenn sie aber entstehen, sind sie intensiv, echt und voller Vertrauen. In der Eishockeymannschaft seines grösseren Bruders hat er zum Vater einer der anderen Spieler eine besondere Verbindung aufgebaut. Dieser darf ihn anfassen und mit ihm «herumblödeln». Bei uns heisst es schnell: «Ich mag keine Witze, da ich diese nicht verstehe.» Das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht, wenn er etwas geschafft hat, was für ihn schwierig war, erfüllt uns jedes Mal mit Stolz und Glück. 

Die grossen Herausforderungen

Liam ist Autist mit einem PDA-Profil (Pathological Demand Avoidance). Menschen mit einer PDA-Symptomatik haben ein ausgeprägtes Autonomie- und Kontrollbedürfnis. Sie vermeiden alltägliche Anforderungen mit einer solchen Intensität und Vehemenz, dass ihre Lebensqualität erheblich leidet. Dieses Profil innerhalb des Autismus-Spektrums erfordert von uns viel Einfühlungsvermögen. Unser Sohn empfindet selbst einfache Anforderungen oft als Bedrohung. Dinge, die für andere Kinder alltäglich sind – sich die Zähne zu putzen, Schuhe anzuziehen oder in den Kindergarten zu gehen – können bei ihm Stress auslösen, der sich in extremer Ablehnung oder Wut äussert.

Liam wünscht sich einen Autismusbegleithund
In gewissen Situationen muss Liam einen Pamir anziehen, damit es ihm nicht zu laut wird.

Wir mussten lernen, dass konventionelle Erziehungsmethoden bei unserem Sohn nicht funktionieren. Druck oder strikte Regeln führen nur zu mehr Widerstand. Stattdessen geht es darum, ein Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Sicherheit zu finden, auch aus Fairness seinem älteren Bruder gegenüber. Es erfordert Kreativität, alltägliche Aufgaben in ein Spiel oder eine Herausforderung zu verwandeln, die er als selbstbestimmt empfindet.

Eine weitere Schwierigkeit ist die Unvorhersehbarkeit. An einem Tag funktioniert ein bestimmter Ansatz wunderbar, am nächsten Tag führt er zu einem völligen Zusammenbruch. Diese Unberechenbarkeit kann frustrierend sein, aber sie lehrt uns auch, in jedem Moment präsent zu sein und uns ständig auf Liams Bedürfnisse einzustellen.

Die kleinen Siege

Die Welt da draussen stellt oft eine weitere Hürde dar. Viele Menschen verstehen nicht, warum unser Sohn anders reagiert oder warum wir manche Situationen meiden. Liam lacht beispielsweise in völlig unpassenden Momenten. Wenn wir an Menschen vorbei gehen, kann es passieren, dass er sie einfach so berührt. Unter Umständen umarmt er Personen, die er erst einmal gesehen hat, oder will ihnen einen Kuss geben. Wenn ich staubsaugen will, muss er seinen Pamir anziehen, unter der Dusche braucht er Oropax. Es ist eine ständige Aufgabe, Verständnis für sein Verhalten zu schaffen und gleichzeitig uns selbst zu schützen.

Unser Sohn hat uns gezeigt, wie wertvoll es ist, authentisch zu sein.

Mit jeder Herausforderung kommen auch kleine Siege. Ein Tag, an dem unser Sohn freiwillig ein neues Lebensmittel probiert, ohne sich überfordert zu fühlen, ist ein Grund zum Feiern. Ein Moment, in dem er uns mitteilt, wie er sich fühlt, gibt uns Hoffnung und zeigt, dass er Fortschritte macht.

Ein besonders bewegender Moment war, als er uns einmal sagte: «Es tut mir leid, dass ich so bin, wie ich bin. Danke, dass ihr mich trotzdem mögt.» Diese Worte haben uns gezeigt, dass er nicht nur seine eigene Andersartigkeit wahrnimmt, sondern auch unsere Liebe spürt – eine Liebe, die ihn genauso akzeptiert, wie er ist. 

Liam im Bällebad.

Die grossen Freuden 

Neben den kleinen Freuden gibt es auch die grossen, die unser Leben nachhaltig bereichern. Unser Sohn hat uns gezeigt, wie wertvoll es ist, authentisch zu sein. Seine Ehrlichkeit und seine Direktheit sind inspirierend. Er ist einfach er selbst – etwas, das wir von ihm lernen können.

Er hat uns gelehrt, dass Anderssein keine Schwäche ist, sondern eine Stärke. Seine Perspektive auf die Welt ist einzigartig und durch ihn haben wir gelernt, Dinge zu hinterfragen und offener für Vielfalt zu sein. Das Leben mit unserem Sohn hat uns entschleunigt und uns beigebracht, kleine Momente bewusster wahrzunehmen. Wir haben gelernt, dass Fortschritt nicht linear ist und dass Rückschritte Teil des Weges sind.

Wir haben auch begonnen, unsere eigenen Erwartungen zu hinterfragen. Wir haben uns von der Vorstellung verabschiedet, wie ein «normaler» Alltag aussehen sollte. Stattdessen haben wir einen Alltag geschaffen, der zu unserem Sohn passt. Das bedeutet, dass wir manche Dinge anders machen als andere Familien – und das ist in Ordnung.

Eine Reise, die herausfordert und bereichert

Im Kino oder im Funpark hat Liam unter Umständen seinen Gehörschutz an. Wir sitzen am Esstisch und Liam isst mit seinem Teller neben uns auf dem Fussboden mit den Fingern. Er hat längere Bildschirmzeit als andere Kinder, da dies die einzige Art ist, ihn zu beruhigen und länger auf etwas zu fokussieren. Studien haben sogar gezeigt, dass der Bildschirm bei PDA-Kindern den Stress senkt. 

Was wir auch gelernt haben, ist, wie wichtig Selbstfürsorge ist. Es ist nicht immer leicht, die Energie aufzubringen, die unser Sohn benötigt. Deshalb nehmen wir uns bewusst Zeit, um unsere eigenen Batterien aufzuladen. 

Das Leben mit unserem autistischen Sohn und seinem PDA-Profil ist eine Reise, die uns herausfordert, aber auch bereichert. Es ist ein Leben, das uns lehrt, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren: Liebe, Geduld und die Fähigkeit, einander so zu akzeptieren, wie wir sind. 

Auch wenn es nicht immer leicht ist, würden wir unsere Situation niemals eintauschen. Denn jeder Moment – ob herausfordernd oder freudig – ist Teil dessen, was uns als Familie einzigartig macht. Wir lieben unseren Sohn so, wie er ist, und sind dankbar, dass er unser Leben auf seine besondere Weise bereichert.

Spendenaktion

Liam interessiert sich wenig für andere Kinder. Auf Hunde geht er aber von sich aus zu. Mit einem Assistenzhund hätte er neben einem Freund auch einen Helfer im Alltag. Und einen Aufpasser im Strassenverkehr, damit er nicht ständig auf die Strasse rennt, ohne auf die Autos zu achten. Wir sind überzeugt, dass ein Assistenzhund die Zeit seiner Wutausbrüche verkürzen oder sogar verhindern würde. Ein Hund in seinem Bett würde Liam bei seinen Schlafproblemen helfen. Durch die täglichen Spaziergänge und Fellpflege könnte er sich länger auf etwas konzentrieren. Bei seinen Therapien würde ihn sein Fellfreund motivieren und unterstützen. 

Liam wünscht sich einen Autismusbegleithund
Liam interessiert sich wenig für andere Kinder. Doch auf Hunde geht er von sich aus zu.

In der Schweiz gibt es zwei Stiftungen, die Autismusbegleithunde für Kinder ausbilden. Bei beiden beträgt die Wartefrist rund zwei Jahre. Ausserdem werden Hunde nur an Kinder vor deren 9. Geburtstag abgegeben. Da Liam bereits sieben Jahre alt ist, ist ihm dieser Weg versperrt. Das ist einer der Gründe, warum wir uns an die Organisation Partner-Hunde in Österreich gewandt haben. Hier spielt das Alter der Kinder keine Rolle, die Wartefrist dauert 12 bis 18 Monate und der Hund gehört der Familie.

Ein fertig ausgebildeter Assistenzhund kostet 24‘500 Euro. Ausserdem müssten wir einen 14-tägigen Team-Trainings-Kurs vor Ort als Familie absolvieren. Aufenthalt und Unterbringung sind im genannten Preis nicht inbegriffen.  

Die Gesamtkosten von 30’000 Franken übersteigen unsere finanziellen Mittel bei Weitem. Aus diesem Grund haben wir auf der Crowdfunding Plattform «Gofundme» eine Spendenkampagne gestartet. Wir freuen uns über jeden noch so kleinen Betrag und danken Ihnen von Herzen für Ihre Unterstützung.

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