Strafe – muss das sein?
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Strafe – muss das sein?

Lesedauer: 5 Minuten

Wie bringen wir ein Kind dazu, das eine zu tun und das andere zu unterlassen? Indem wir es bestrafen oder ihm etwas Positives entziehen. Doch es geht auch anders: mit Beharrlichkeit, Ausdauer und ein wenig Mut.

Text: Fabian Grolimund
llustration:
Petra Dufkova/Die Illustratoren 

Mein Onkel hatte ein Mantra: «Schimpfen tut nicht weh. Hauen geht nicht lang. Töten darf er mich nicht.» Mit ­diesen Sätzen versuchte er sich morgens Mut zu machen, wenn er zur Schule musste. Dort hiess es: «Hast du das Gedicht gelernt? Aufsagen!» Fiel es ihm nicht mehr ein oder ­hatte er die Hausaufgaben vergessen, verprügelte ihn sein Grundschullehrer mit dem Gehstock.

Es ist noch nicht lange her, dass solche Strafen nicht nur geduldet, sondern als wirksames Erziehungsmittel propagiert wurden. Das höchste Ziel in der Erziehung war der Gehorsam, man wollte Kinder, die sich unterordnen können.

Das Problem ist, dass Strafsysteme meist schlecht funktionieren und den beabsichtigten Zweck verfehlen. 

Die Kinder, die wir uns wünschen

Heute jedoch lehnen die meisten Eltern und Lehrpersonen dieses Erziehungsziel ab. Wir wollen nicht gehorsame, sondern lebendige ­Kinder. Wir wollen keine Befehls­em­pfänger, sondern Kinder mit einem moralischen Kompass, der Fähigkeit nachzudenken, sich eine eigene Meinung zu bilden und persönliche Grenzen zu wahren. Wir möchten Kinder, die sich sozial verhalten, weil sie sich in andere einfühlen können, und nicht, weil sie sich vor Strafen fürchten.

Dann gibt es natürlich auch Situationen, in denen wir von unseren Kindern erwarten, dass sie sich führen lassen, nach­geben und Regeln befolgen. Dabei appellieren wir zunächst an ihre Einsicht, versuchen ihnen zu erklären, weshalb uns das wichtig ist, kommen dann aber rasch wieder mit Strafen, wenn das nicht funktioniert.

Haben Lehrpersonen keine andere Wahl als zu strafen?

Noch schwieriger ist es in der Schule. Mit einem oder drei Kindern etwas auszuhandeln, ist vergleichsweise einfach. Mit über 20 Kindern, die zu Hause jeweils sehr unterschiedlich erzogen werden, ist es extrem anspruchsvoll. Viele Lehrpersonen haben daher das Gefühl, dass ihnen einfach keine andere Wahl bleibt, als Strichlisten zu führen, rote oder gelbe Karten zu arbeiten oder mit Nachsitzen zu drohen.  Das Problem ist, dass diese Strafsysteme meist schlecht funktionieren, regelmässig den beabsichtigten Zweck verfehlen und häufig ziemlich unappetitliche Nebenwir­kungen haben.

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Wenn ich im Rahmen von Fortbildungen mit Lehrpersonen über dieses Thema spreche, bitte ich sie jeweils um Folgendes: «Denken Sie an das Kind in Ihrer Klasse, das Sie am häufigsten bestrafen müssen. Wie hat es sich diese Woche in Ihrer Klasse verhalten? Wie war es zu Beginn des Schuljahres? Wenn Sie das Gefühl haben, dass sich die ­Situation durch die Strafen wesentlich gebessert hat, dann heben Sie jetzt bitte die Hand.»

Bei einem Vortrag vor 500 Lehrpersonen ging genau eine einzige Hand nach oben. Wie sich dann aber herausstellte, waren es die Gespräche nach der Strafe und die gute Beziehung zur Lehrperson, die dem Kind dabei halfen, sich auf das Lernen einzulassen. Meist ist genau das Gegenteil einer Besserung der Fall: Die Beziehung ist vergiftet, das Kind lehnt sich mit aller Macht gegen diese Behandlung auf und seine Motiva­tion nimmt zusehends ab.

Wie setzen wir als Eltern oder Lehrpersonen Regeln ohne Strafen durch?

Doch was können wir als Eltern oder Lehrperson tun, wenn uns etwas wichtig ist? Wenn wir gewisse Regeln festlegen, an die sich die ­Kinder einfach halten müssen, egal ob es ihnen gefällt oder nicht, ob sie es einsehen oder nicht? 

Ich selbst bin mit sehr wenigen Regeln aufgewachsen. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht erinnern, dass meine Eltern jemals bewusst Regeln aufgestellt hätten. Es war einfach klar, dass man Rücksicht aufeinander nimmt und sich mit Respekt begegnet. Wenn es aber etwas gab, das ihnen wichtig war, haben sie das beharrlich vertreten.

Beharrlich zu sein signalisiert dem Kind: ‹Das ist mir wichtig, davon weiche ich nicht ab.›

Mit meinen Kindern handhabe ich es ähnlich. Ich erkläre ihnen, was mir wichtig ist und warum. Danach lasse ich mich nicht jedes Mal auf Diskussionen ein. Ich kann mich beispielsweise daran erinnern, dass mein Sohn sich plötzlich nicht mehr die Zähne putzen liess. Ich sagte zu ihm: «Wir müssen die Zähne putzen. Jeder putzt die Zähne, sonst gehen sie kaputt.» Er liess sich nicht darauf ein. Ich setzte mich ins Badezimmer und wartete. Nach fünf Minuten meinte er: «Was machst du?» Ich erwiderte: «Ich warte – ich muss dir die Zähne putzen.»

Er wollte, dass ich ihm die Gute-Nacht-Geschichte vorlese. «Das mache ich gerne», sagte ich, «gleich nach dem Zähneputzen.» Er ging aus dem Badezimmer und spielte Lego. Nach fünf Minuten ging ich ebenfalls raus. «Erzählst du jetzt?», fragte er: «Das mache ich nach dem Zähneputzen, jetzt hole ich mein eigenes Buch, damit ich lesen kann. Sonst wird es mir langweilig, während ich auf dich warte.» Nach 15 Minuten war es dann so weit: Er liess sich die Zähne putzen. Nach drei Tagen war es nie wieder ein Thema.

Buchtipp für Lehrpersonen

Den Lehrpersonen unter Ihnen empfehle ich dazu gerne das Buch Classroom-Management von Christoph Eichhorn.

Christoph Eichhorn, Classroom-Management, Klett Verlag 2015, 224 Seiten, 28.90 Fr.

Dazu stehen, was wir sagen

Beharrlich zu sein signalisiert dem Kind: «Das ist mir wichtig, davon weiche ich nicht ab.» Natürlich steht dahinter ein gewisser Druck. Ich als Erwachsener weiss, dass die Zähne geputzt werden müssen, und es liegt in meiner Verantwortung, dafür zu sorgen, dass keine Löcher entstehen. Dem kann ich mich nicht entziehen. Aber wenn wir beharrlich sind, können wir dem Kind diese Tatsache verdeutlichen, ohne ihm zu drohen oder es für ein «Fehlverhalten» zu bestrafen.

Etwas so lange zu üben, bis man es kann, halte ich für eine ziemlich gute Alternative zu Strafen. 

Beharrlichkeit braucht Ausdauer und ein wenig Mut, weil es von uns verlangt, dass wir zu dem stehen, was wir sagen. Deswegen sollten wir nicht zu oft davon Gebrauch machen, sondern nur, wenn uns etwas wirklich wichtig ist. Eine Lehrerin meinte zu mir: Ich habe sehr wenige Regeln, aber da bin ich stur. Die werden so lange geübt, bis es alle können. 

Etwas so lange zu üben, bis man es kann, halte ich für eine ziemlich gute Alternative zu Strafen. Was machen wir mit einem Kind, das die Buchstaben oder das Einmaleins nicht kann? Wir lassen es üben. ­Viele Kinder haben genauso grosse Probleme, wenn es um ihre Selbststeuerung geht. Sie schaffen es einfach nicht, ihre Impulse zu kontrollieren oder im richtigen Moment an die Regel zu denken. Oft fehlt es ihnen schlicht an der nötigen Übung.

Beharrlich sein im Klassenzimmer

Dieses Üben kann zunächst in der Klasse stattfinden. Wenn beispielsweise die Regel «Wenn der Gong ertönt, sind wir alle still» eingeführt wird, wird diese trainiert. Die Kinder dürfen quatschen, die Lehrperson schlägt den Gong und schaut, wie schnell sie es schaffen, ruhig zu werden – bis es ganz rasch geht. Am Tag darauf wird die Regel wieder geübt und danach so lange, bis die Klasse es in jeder Situation kann. Wenn nur ein oder zwei Kinder Mühe damit haben, übt die Lehrperson mit ihnen nach dem Klingeln eine Extrarunde.

Kinder, die die Regeln absichtlich verletzen, haben wenig Lust auf ­solche Extraübungen und befolgen die Regeln ziemlich rasch. Kinder, die Mühe mit der Selbststeuerung haben, sind froh darum und machen oft auch bereitwillig mit, sofern sie die richtige Haltung dahinter spüren. Sie lautet: Diese Regel ist mir wichtig – du bist mir noch wichtiger! Und du darfst das hier mit mir so lange üben, bis du es kannst.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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