Gesundheit: Selbstdiagnosen mit Dr. Google und Prof. Tiktok
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Selbstdiagnosen mit Dr. Google und Prof. Tiktok

Lesedauer: 4 Minuten

Das Internet liefert Antworten auf alle erdenklichen gesundheitlichen Fragen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann das schwerwiegende Folgen haben.

Text: Thomas Feibel
Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Schon lange vor Google und Tiktok beschrieb der britische Schriftsteller Jerome K. Jerome das Phänomen der Selbstdiagnose. Im Roman «Drei Mann in einem Boot» (1889) vertieft sich ein junger Mann in ein medizinisches Lexikon und erkennt, dass er nahezu an jeder der darin aufgeführten Krankheiten leidet.

Ein Arzt untersucht ihn und stellt ein Rezept aus. Ratlos reicht ihm der Apotheker den Zettel zurück. Die Verordnung empfiehlt Beefsteak, Bewegung, frühes Zubettgehen – und den Rat: «Stopf dir den Kopf nicht mit Dingen voll, von denen du nichts verstehst!»

Heute hat das Internet die Gesundheitsenzyklopädie abgelöst. Dabei haben wir vermutlich alle schon die Erfahrung gemacht, dass wir nach Gewissheit suchten und stattdessen Verunsicherung fanden. Auch Kinder und Jugendliche konsultieren das Netz zu Gesundheitsthemen und stossen dabei auf nützliche, falsche und verstörende Empfehlungen.

Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Warum gehen Kinder bei Gesundheitsfragen online?

Weil es einfach ist. Sicher, vielen Eltern wäre es lieber, wenn sich ihre Kinder direkt an sie wenden würden. Sie könnten ihnen helfen, berechtigte von unbegründeten Sorgen zu unterscheiden – oder zumindest einen Arzttermin vereinbaren. Das wollen Teenager aber nicht mehr. Denn ihre Fragen sind mitunter so schambehaftet, dass sie sich weder ihren Eltern noch dem Arzt oder der Ärztin anvertrauen wollen.

Grundsätzlich ist es jedoch positiv zu bewerten, dass Jugendliche zu Gesundheitsthemen online recherchieren. Die Anonymität dient ihnen als sichere Tarnkappe. So geht die internetaffine Generation eben damit um, sobald sie beginnt, sich selbst, ihren Körper und die damit einhergehende Eigenverantwortung bewusst wahrzunehmen.

Welche Gesundheitsthemen sind ihnen wichtig?

Oft geht es um Fitness und Ernährung. Selbst bei akuten Beschwerden hilft ein schneller Blick ins Netz. Vor allem aber können sie sich unbeobachtet sensiblen Tabuthemen widmen. Das betrifft etwa die Menstruation, Fragen rund um Sexualität oder die Verhütung. Eine grosse Rolle spielt auch die psychische Befindlichkeit: Habe ich Angst – oder schon eine Angststörung? Bin ich traurig oder depressiv? Google liefert Hinweise, die junge Menschen in ihrer Orientierungsphase unterstützen und entlasten. Dazu zählen auch die Medfluencer.

Was sind Medfluencer?

Medfluencer sind Influencer, die auf medizinische Fragen spezialisiert sind. Sie gelten meist dann als vertrauenswürdig, wenn sie im Hauptberuf als Ärztinnen, Apotheker, Pflegerinnen, Psychologen oder Therapeutinnen tätig sind. Es ist eine Leistung, wenn sie mit fundierten Kenntnissen verständlich, unterhaltsam und empathisch die Dinge einordnen. Dieses Angebot spricht nicht nur Kinder und Jugendliche an. Hinzu kommt, dass über die Kommentarspalten eigene Fragen gestellt werden können.

Manche Kinder fühlen sich von bestimmten Krankheitsbildern getriggert, andere reklamieren für sich auf einmal Störungen, die sie gar nicht haben.

Die Gesundheitsbranche verspricht sich durch Medfluencer einerseits eine Entlastung der Arztpraxen, da Menschen früh Antworten finden und vielleicht nicht so zahlreich die Wartezimmer füllen. Andererseits ist es ein grosses Problem, dass sich in den sozialen Medien auch viele Nichtmediziner äussern.

Welchen negativen Einfluss hat Social Media?

Die «Süddeutsche Zeitung» warnte kürzlich vor ADHS-Diagnosen auf Tiktok. Demnach hatten amerikanische und kanadische Wissenschaftler für eine Studie 100 Videos von Psychologinnen analysieren lassen. Das wenig überraschende Ergebnis: Über die Hälfte der Clips wurden als «irreführend» oder «falsch» eingestuft.

Mit fatalen Folgen. So wissen wir schon lange, dass extrem idealisierte Körperbilder in sozialen Medien bei Kindern zu Essstörungen und anderen Problemen führen können. Einige Protagonisten im Netz heizen solche Themen sogar an. Andere spielen schwerwiegende Befunde wie Depressionen oder Selbstverletzungen herunter oder verklären sie zum hippen Lebensstil.

Manche Kinder fühlen sich zudem von bestimmten Krankheitsbildern getriggert, andere reklamieren für sich auf einmal Störungen, die sie gar nicht haben. Und wer nach derlei Inhalten gesucht hat, bekommt sie im Teufelskreis des Algorithmus immer wieder angeboten.

Was sind die negativen Folgen?

Falsche, widersprüchliche oder extrem beunruhigende Diagnosen können Ängste und Befürchtungen erheblich verstärken. Denn wer im Netz nach Krankheiten sucht, ist per se bereits beunruhigt. Die Gefahr, sich Krankheiten einzureden, ist nicht zu unterschätzen. Das hat zum neuen Begriff der Cyberchondrie geführt, eines Kofferwortes aus «Cyber» und «Hypochondrie».

Im Digitalzeitalter kommt Gesundheitskompetenz ohne Medienkompetenz nicht aus.

Gerade zu Gesundheitsthemen treiben im Internet angebliche Expertinnen und skrupellose Betrüger ihr Unwesen. Sie preisen fragwürdige Nahrungsergänzungsmittel, Medikamente oder Wundermittel an, wie beispielsweise die «Tipps» während der Covid-Pandemie, Desinfektionsmittel oder Chlorbleiche zu trinken. Und wer einmal zu «selbst durchgeführtem Schwangerschaftsabbruch» recherchiert, findet dazu Anleitungen, die absolut unverantwortlich sind. Erwachsene können das vielleicht einschätzen, eine verzweifelte schwangere 15-Jährige eher nicht.

Wie können wir die digitale Gesundheitskompetenz von Kindern stärken?

«Gesundheitskompetenz», schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG), «ist die Fähigkeit, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken.» Im Digitalzeitalter kommt Gesundheitskompetenz ohne Medienkompetenz nicht aus. Gerade in der Pubertät brennen Jugendliche auf konkrete Antworten zu ihren drängenden Fragen. Junge Menschen nutzen diejenigen Informationen, die ihnen nützen. Dafür sollten wir ihnen das nötige Rüstzeug mitgeben, damit sie einen probaten Ratschlag von Nonsens unterscheiden können.

Worauf muss ich achten?
  • Wer steckt hinter dem Account?
  • Hat der Medfluencer eine Qualifikation zu medizinischen Themen?
  • Gibt es fundierte Quellen, Studien oder Artikel?
  • Will jemand früher oder später etwas verkaufen?
  • Vorsicht vor Sätzen wie «Was dir Ärzte verschweigen».
  • Kommt dir etwas seltsam vor, suche auf anderen Seiten nach der Info.
  • Achte auf Labels. Youtube Health kennzeichnet geprüfte Kanäle mit vertrauenswürdigen Gesundheits­inhalten.
  • Sobald du unsicher bist, spreche mit einer Vertrauensperson.
  • In der Not wende dich an Pro Juventute oder 147.ch.

Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Kinderratgeber «Mach deinen Medienführerschein: Dein erstes Smartphone». Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

Alle Artikel von Thomas Feibel

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