«Die Situation in China ist erschreckend normal» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Die Situation in China ist erschreckend normal»

Lesedauer: 4 Minuten

Serie: Familien und Corona weltweit – Teil 11

Wie geht es Familien im Ausland in der Corona-Zeit? Was wünschen sie sich und wie werden sie Weihnachten verbringen? Wir haben uns auf die Suche gemacht und einige Familien in anderen Ländern befragt. Hier berichtet Stephan*, wie die Situation in China aussieht.

Stephan* kommt aus Bern und arbeitet für eine europäische Firma im Medizintechnik- und Beratungsbereich. Seine Frau Mia* ist Chinesin und sie leben seit 2008 in Shanghai. Die beiden kleinen Töchter sind 7 und 4 Jahre alt.

Wie ist aktuell die Situation mit dem Coronavirus in Ihrem Land?

Die Situation hier in Shanghai ist schon fast erschreckend normal. Die eigentlich einzigen «Ermahnungen» an die globale Pandemie sind die internationalen Nachrichten und die Masken im öffentlichen Verkehr.

Wenn ich den «Rest der Welt» anschaue ist es fast unglaublich, wie normal eigentlich das ganze zweite Halbjahr 2020 gewesen ist. Wir waren ja die ersten, die mit dieser neuen Situation konfrontiert wurden. Ende Januar (2020) – genau zu den (chinesischen) Feiertagen – war plötzlich von einem Tag auf den anderen nichts mehr wie vorher. Ich denke, dass vor allem auch die Erinnerungen an SARS den Leuten unglaublich Angst gemacht haben. Und die Bilder aus Wuhan waren schon fast apokalyptisch. Hier hat es deshalb keine Überzeugungsarbeit gebraucht, um die Leute zum «zuhause bleiben» zu bringen. Aber die Leute sind auch grundsätzlich sehr pragmatisch – Pause, Aussitzen – und dann weiter.

Sicht nach Pudong
Sicht nach Pudong
In Shanghai war diese extreme Ausnahmesituation – dank den harten Einschränkungen und der Disziplin der Leute – aber auch ziemlich kurz. Einen «Lockdown» per se gab es nicht, im Februar sind die Leute aber freiwillig drei Wochen komplett zuhause geblieben. Gegen April hatte sich die Normalität schon mehrheitlich und wieder Schritt für Schritt zurückgemeldet. Unsere Mädels sind seit Mai wieder in der Schule. Je nach Provinz sind die Kinder bereits früher oder dann später zur Schule gegangen. In Shanghai sind die Vorgaben von der Erziehungsbehörden zwar grundsätzlich einheitlich für alle Schulen, aber es wird scheinbar unterschiedlich «interpretiert». Die Schule meiner grösseren Tochter verlangt von uns jeden Tag eine unterschriebene Erklärung über Symptome, Temperatur und letzte Einreise nach Shanghai, die Schule der Kleinen verlangt gar nichts. Für Inlandreisen gibt es seit Oktober bei der Schule der Grossen keine Einschränkungen mehr, bei der Kleinen gab es bereits seit Mai keine Einschränkungen. 

China hat das Land in tiefe, mittlere und hohe Gefahrenzonen eingeteilt, und Reisen in mittlere und hohe Gefahrenzonen haben gewisse Einschränkungen. Zur Zeit ist das ganze Land im «tiefen» Bereich. Shanghai hatte beispielsweise Anfangs November ein paar Fälle, wurde als «mittel» eingestuft und die Reisen aus und nach Shanghai waren auch innerhalb Chinas sehr eingeschränkt. Reisen ins Ausland sind grundsätzlich möglich, die Einreise zurück nach China ist einfach schwierig. 

Wie ist die Arbeitssituation bei Ihnen?

Die Arbeitssituation bei mir ist schon noch ziemlich eingeschränkt. Da ich für eine europäische Firma arbeite und für China verantwortlich bin, ist die Pandemie noch täglich präsent. Einerseits kann ich zur Zeit nicht international Reisen, andererseits können uns unsere Mitarbeiter aus dem Ausland nicht besuchen und so auch nicht gross unterstützen. In unserer Arbeit basiert viel auf «Face to Face»-Kundenkontakten und auf Vertrauen – welche über Online-Meetings nicht annähernd gleich gut gepflegt werden können.

Alles in allem hatten wir aber ein erstaunlich gutes Jahr und sogar deutlich mehr Arbeit als im letzten Jahr.

Wie ist die Kinderbetreuung organisiert?

Die Schule und der Kindergarten unserer beiden Mädchen sind Ganztagesschulen, mit Start um 7 Uhr 30 und Schluss um 17 Uhr. In der Regel bringe ich die Kinder – die Grosse auf den Schulbus, die Kleine in den Kindergarten, bevor ich zur Arbeit gehe. Meine Frau macht den Pickup am Nachmittag. Sie arbeitet im Investment-Bereich.

Corona hat die Kinderbetreuung fast schon ein bisschen einfacher gemacht, da wir beide nun auch ohne grosse Erklärungen ab und zu Homeoffice machen können.

Wie nah ist Corona? Waren Sie selber schon in Isolation oder Quarantäne?

Am Anfang war Corona plötzlich unglaublich nahe. Heute ist es fast nur noch eine Erinnerung. Wir waren nicht in Isolation oder Quarantäne – ausgenommen in der, in welcher alle waren. Da wir China dieses Jahr nicht verlassen hatten, war auch die «Rückkehr»-Quarantäne nie ein Thema.

Weihnachten steht vor der Tür: Wissen Sie schon, wie Sie feiern werden?

Wir werden Weihnachten zuhause in Shanghai feiern, mit Freunden und Nachbarn. Weihnachten in der Schweiz werden dieses Jahr nicht möglich sein. Auch weil unsere Kinder in der Internationalen Schule sind, war der ganze Dezember fast wie in Europa mit Samichlaus, Grittibänz und Adventskalender. Die Kleinen zählen jeden Tag bis Weihnachten und freuen sich unglaublich.

Wie erleben Sie die Situation als Ganzes: Hat Corona dem Familienleben ungewohnte Türen geöffnet oder eher für zusätzlichen Stress gesorgt?

Wir hatten dieses Jahr als Familie viel mehr Zeit zusammen und füreinander. Da einerseits unsere Geschäftsreisen massiv eingeschränkt waren, entfiel dieser Faktor, was wir sehr genossen haben, und andererseits hat das Homeoffice die Zeit zuhause verlängert hat. Meine Frau und ich waren dieses Jahr jedes Wochenende zu Hause – was uns noch nie passiert ist.
Weihnachtsmarkt in Shanghai
Weihnachtsmarkt in Shanghai
Schön fanden wir auch die Beziehungen mit unserer näheren Umgebung. Wir wohnen nun schon seit acht Jahren im selben Quartier – wie gewöhnlich in Grossstädten, ohne gross Kontakt zu den Nachbarn. Dieses Jahr haben sich die Leute umeinander gekümmert und gegenseitig unterstützt wie nie zuvor und wir haben viele Freundschaften geknüpft mit Leuten, welche wir flüchtig kannten, aber mit denen wir nie richtig gesprochen haben. 

Ich denke im Nachhinein ist der Unterschied vor allem der, dass Leute Zeit miteinander hatten, was zu mehr Nähe, Vertrautheit und Freundschaften geführt hat. 2020 benötigte aber auch massiv mehr Koordination, Flexibilität und Rücksichtnahme, was sicher nicht immer einfach war, wir aber für die Zukunft mitnehmen können.

Was wünschen Sie sich für 2021?

Freunde und Familie wieder zu sehen – nicht nur per Video-Call.

* Namen der Redaktion bekannt

Das ist der letzte Teil unserer Serie Familien im Corona-Alltag auf der ganzen Welt. Alle bisher erschienen Familienporträts können Sie hier nachlesen: Familien und Corona weltweit.


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