«Für viele Frauen ist das Urteil ein Schlag ins Gesicht»
Die Anwältin Caterina Nägeli kritisiert das Urteil des Bundesgerichts, dass eine 45-jährige Hausfrau wieder ins Berufsleben einsteigen kann – und nach der Scheidung keinen Anspruch auf Alimente bis ins Pensionsalter hat. Sie erklärt, was der Entscheid für Frauen bedeutet.
Es war revolutionär: «Das Bundesgericht erfindet die Ehe neu», titelte der «Tages-Anzeiger» nach dem Urteilsspruch. Für die neue Ehe-Rechtsprechung gab ein Fall aus dem Kanton Solothurn den Ausschlag: Eine 45-jährige Mutter von drei Kindern hatte über zehn Jahre lang die Familie gemanagt und zugunsten ihres Mannes auf eine eigene Karriere verzichtet.
Die Scheidung folgte nach elf Jahren. Die Frau fand einen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben unzumutbar. Das Bezirksgericht Solothurn entschied jedoch, wenn der Einstieg in die ursprüngliche Branche nicht gelinge, müsste eine Teilzeitanstellung in einem anderen Bereich, zum Beispiel in der Pflege oder im Detailhandel, ins Auge gefasst werden. Dagegen wehrte sich die Frau mit der Begründung, sie sei bei der Trennung fast 45 Jahre alt gewesen, falle damit unter die geltende «45er-Regel» und habe Anspruch auf Alimente bis zum Pensionsalter. Das Ober- und das Bundesgericht folgten dem Urteil des Bezirksgerichts. Und hoben damit die starre Formel des Anspruchs auf Unterhaltszahlungen aus den Angeln.
Frau Nägeli, das Bundesgericht schickt geschiedene Frauen wieder zur Arbeit. Was halten Sie von diesem Urteil?
Als Anwältin vertrete ich stets die Interessen einer Klientin oder eines Klienten. Meine persönliche Meinung ist nicht relevant. Als Anwältin stört mich an dem Urteil, dass das «Feld von hinten aufgerollt wird». Wer sich vor zehn oder fünfzehn Jahren für ein traditionelles Familienmodell entschieden hat, ist damals von ganz anderen Voraussetzungen ausgegangen. Ich finde es etwas befremdlich, wenn man rückwirkend für eine frühere Entscheidung «bestraft» wird. Eine Modernisierung sollte von der Gesellschaft ausgehen und nicht vom Gericht erzwungen werden.
Viele Männer dürften die neue Rechtsprechung begrüssen.
Es hat bekanntlich alles zwei Seiten. Nehmen wir als Beispiel einen durchschnittlich verdienenden Mann, bei dem der Wunsch nach Trennung und Scheidung von der Ehefrau ausging. Irgendwann hat sie vielleicht einen neuen Partner. Beim Mann wird sich die Begeisterung in Grenzen halten, die nicht arbeitende Ex-Frau bis zur Pension zu unterstützen.
Was bezweckt das Bundesgericht mit diesem Urteil?
Die jetzige Situation ist nicht so neu, wie es nun den Anschein macht. Das Prinzip des «Clean Break» gilt seit Einführung des Scheidungsrechts im Jahr 2000. Es besagt, dass nach der Scheidung grundsätzlich jeder Ehegatte für seinen eigenen Unterhalt aufkommen muss. Ausser wenn durch die Ehe «lebensprägende Umstände» geschaffen wurden. Dazu zählte, dass die Ehe zehn Jahre gedauert hat und/oder ein Ehepartner – meist die Ehefrau, wegen der Kinderbetreuung – nicht berufstätig war. Das war ein erster kleiner Schritt in Richtung Modernisierung.
Wer vorher ein traditionelles Familienmodell gelebt hat, wird sich nicht von heute auf morgen neu organisieren können.
Wie wurde das Scheidungsrecht in den letzten Jahren angepasst?
Seit 2018 gilt das Schulstufenmodell, also die Regel, dass es für beide Elternteile zumutbar ist, ab dem Eintritt des jüngsten Kindes in den Kindergarten mit einem Pensum von 50 Prozent, ab der Oberstufe mit einem Pensum von 80 Prozent und ab dem vollendeten 16. Lebensjahr Vollzeit zu arbeiten. Ungefähr gleichzeitig kam die alternierende Obhut, welche in finanzieller Hinsicht ebenfalls Konsequenzen hat. Das jetzige Urteil ist einfach noch einen Tick strenger und wohl als Teil eines grossen Ganzen zu sehen.
Das Bundesgericht hat wichtige Fragen zum Unterhaltsrecht geklärt und teilweise die bisherige Praxis geändert. Zum einen hat es die sogenannte «45er-Regel» aufgegeben. Diese besagte, dass einem Ehegatten die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zuzumuten ist, wenn er während der Ehe nicht berufstätig war und im Zeitpunkt der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts beziehungsweise bei der Scheidung das 45. Altersjahr bereits erreicht hat.
Neu ist stets von der Zumutbarkeit einer Erwerbsarbeit auszugehen, soweit eine solche Möglichkeit tatsächlich besteht und keine Hinderungsgründe vorliegen wie namentlich die Betreuung kleiner Kinder. Massgeblich sind die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalles und damit unter anderem Kriterien wie das Alter, die Gesundheit, bisherige Tätigkeiten, persönliche Flexibilität oder die Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Zum anderen hat das Bundesgericht den Begriff der lebensprägenden Ehe weiterentwickelt, welche im Scheidungsfall einen Anspruch auf Beibehaltung des bisherigen ehelichen Lebensstandards gibt. Bislang wurde eine lebensprägende Ehe bereits nach einer Dauer von zehn Jahren oder – unabhängig davon – bei einem gemeinsamen Kind angenommen. Nach der neuen Definition ist eine Ehe dann lebensprägend, wenn ein Ehegatte seine ökonomische Selbständigkeit zugunsten der Haushaltsbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat und es ihm deshalb nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an seiner früheren beruflichen Stellung anzuknüpfen, während der andere Ehegatte sich angesichts der ehelichen Aufgabenteilung auf sein berufliches Fortkommen konzentrieren konnte. (Quelle: Bundesgericht, 9. März 2021)
Gerade die alternierende Obhut steht immer wieder in der Kritik.
Nicht zu Unrecht. Natürlich ist die Vorstellung einer Fifty-fifty-Betreuung der Kinder nach einer Scheidung positiv zu sehen. Aber die Realität sieht oft anders aus. Wer vorher ein traditionelles Familienmodell gelebt hat, wird sich nicht von heute auf morgen neu organisieren können. Kommt dazu, dass Fremdbetreuung gleich gewertet wird wie Eigenbetreuung. Eltern, die sich für das traditionelle Modell entscheiden, tun das oft auch, weil sie die Kinder nicht fremdbetreuen lassen möchten.
Wenn nun ein Elternteil nach der Scheidung dazu gezwungen ist, wieder arbeiten zu gehen und die Kinder in dieser Zeit dem anderen Elternteil zu überlassen, der sie fremdbetreuen lässt, kann man die Zweifel an diesem System schon verstehen. Für jemanden, der die Kinder jahrelang zu hundert Prozent betreut hat, ist es ein Schlag ins Gesicht, wenn er erfährt, wie wenig dies wertgeschätzt wird.
Was bedeutet das für die Kinder?
Auch das muss immer wieder einzeln angeschaut werden. Es ist ja auch nicht so, dass Fremdbetreuung für Kinder grundsätzlich schlecht wäre oder dass sie per se darunter leiden, wenn beide Elternteile berufstätig sind. Aber das ist eher ein psychologisches Problem als ein juristisches.
Nach jahrelanger Abwesenheit vom gelernten Job und in einem gewissen Alter ist es schwierig, wieder einzusteigen. Was raten Sie Frauen in einem solchen Fall?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele nach einer langen Abwesenheit nicht interessiert daran sind, in ihren ursprünglichen Job zurückzukehren. Sie fassen sehr gern eine Umschulung oder eine neue Ausbildung ins Auge. Bei der Frage der Finanzierung spielen die finanziellen Verhältnisse des Ehemanns eine Rolle. Lassen es diese zu, könnte man sich zum Beispiel auf Unterhaltszahlungen bis zum Ende der Umschulung einigen.
Und wenn das nicht klappt?
Dann kann nach dem bundesgerichtlichen Entscheid verlangt werden, dass die Ex-Ehefrau zur Überbrückung einen Aushilfsjob annimmt.
In meinem Alltag erlebe ich es äusserst selten, dass jemand kein Interesse daran hat, nach einer Trennung wieder zu arbeiten.
Es ist immer wieder von den berühmten «besonderen Umständen» die Rede, welche zu Ausnahmen führen. Welche könnten das sein?
Wenn zum Beispiel eine Frau ihre Kinder sehr spät bekommen hat, greift eher das Schulstufenmodell als der Grundsatz, dass man mit 45 wieder voll einsteigen kann. Wer ein Kind mit Behinderung hat und deshalb nur eingeschränkt arbeitsfähig ist, wird ebenfalls gesondert beurteilt.
Kommen wir auf den Fall zurück, um den es beim aktuellen Urteil des Bundesgerichts geht: Hätte es für die Frau einen juristischen Trick gegeben, den sie hätte anwenden können, um nicht mehr arbeiten zu müssen?
In meinem Alltag erlebe ich es äusserst selten, dass jemand kein Interesse daran hat, nach einer Trennung wieder zu arbeiten. Den meisten ist es ein Anliegen, auf eigenen Beinen zu stehen. Viele müssen mit dem Umstand klarkommen, dass die bisherige Arbeit der Kindererziehung nicht wertgeschätzt wird und dass der Wiedereinstieg ins Berufsleben langwierig und mühsam sein kann.
Hat das Urteil auch Auswirkungen auf unverheiratete Paare?
Nicht wirklich. Es gibt seit ein paar Jahren den Betreuungsunterhalt, nach welchem Elternteile ohne Betreuungsaufgaben Alimente zahlen. Dieser gilt nach wie vor, deckt aber grundsätzlich nur das Existenzminimum des betreuenden Elternteils.
Würden Sie Paaren, die heute heiraten und eine Familie gründen wollen, zu einem Vertrag raten, der alles regelt?
Ein solcher Vertrag wäre mehr eine Absichtserklärung als eine verbindliche Regelung. Es ist nicht gesagt, dass er zum Zeitpunkt der Scheidung noch seine Gültigkeit hat. Zum Beispiel, wenn einer der Partner dann sehr viel mehr oder weniger verdient, als zum Zeitpunkt, an dem der Vertrag abgeschlossen wurde.
- Realistisch sein! «Wir trennen uns nie» gibt es nicht! Vor diesem Hintergrund muss man sich bei der Heirat ernsthaft überlegen, was man möchte und wie man sich aufteilt.
- «Ich würde grundsätzlich allen raten, sich nicht allzu abhängig vom Partner oder von der Partnerin zu machen, wenn das irgendwie drinliegt. Auch wenn man im Moment vielleicht das Gefühl hat, es lohne sich nicht, zu arbeiten – auf lange Sicht wird es auf jeden Fall ein Vorteil sein.»
- Wenn man sich trotzdem für das traditionelle Modell entscheiden möchte: «Ganz aus dem Berufsleben auszusteigen, ist meiner Meinung nach die schlechteste Option. Vielleicht kann man ja mit einem Fuss in der Tür bleiben. Mit einem niedrigen Pensum, Einzelaufträgen als Selbständige oder auch mit Weiterbildungen, um à jour zu bleiben. Das macht ja auch Spass.»
- Den Partner in die Pflicht nehmen! «Man kann auch Erziehungsaufgaben wahrnehmen, wenn man zu 100 Prozent arbeitet.»
- Wer vor einer Trennung oder Scheidung steht: sich informieren! «Der Vorteil ist, dass man nach einer Trennung zwei Jahre Zeit hat bis zur Scheidung. Die kann man nutzen, um sich damit auseinanderzusetzen, was man möchte, wie es im beruflichen Umfeld aussieht, welche Aus- oder Weiterbildungen einen interessieren würden, ob man Ideen hätte, die sich umsetzen lassen. Und man soll sich unbedingt auch beraten lassen und Unterstützung holen, sei das bei einer Berufs- und der bei einer Rechtsberatung.»