«Für viele Frauen ist das Urteil ein Schlag ins Gesicht»

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Die Anwältin Caterina Nägeli kritisiert das Urteil des Bundesgerichts, dass eine 45-jährige Hausfrau wieder ins Berufsleben einsteigen kann – und nach der Scheidung keinen Anspruch auf Alimente bis ins Pensionsalter hat. Sie erklärt, was der Entscheid für Frauen bedeutet.
Das Bezirksgericht Solothurn entschied jedoch, wenn der Einstieg in die ursprüngliche Branche nicht gelinge, müsste eine Teilzeitanstellung in einem anderen Bereich, zum Beispiel in der Pflege oder im Detailhandel, ins Auge gefasst werden. Dagegen wehrte sich die Frau mit der Begründung, sie sei bei der Trennung fast 45 Jahre alt gewesen, falle damit unter die geltende «45er–Regel» und habe Anspruch auf Alimente bis zum Pensionsalter.
Das Ober- und das Bundesgericht folgten dem Urteil des Bezirksgerichts. Und hoben damit die starre Formel des Anspruchs auf Unterhaltszahlungen aus den Angeln.
Frau Nägeli, das Bundesgericht schickt geschiedene Frauen wieder zur Arbeit. Was halten Sie von diesem Urteil?
Viele Männer dürften die neue Rechtsprechung begrüssen.

Was bezweckt das Bundesgericht mit diesem Urteil?
Wie wurde das Scheidungsrecht in den letzten Jahren angepasst?
Gerade die alternierende Obhut steht immer wieder in der Kritik.

Was bedeutet das für die Kinder?
Nach jahrelanger Abwesenheit vom gelernten Job und in einem gewissen Alter ist es schwierig, wieder einzusteigen. Was raten Sie Frauen in einem solchen Fall?
Und wenn das nicht klappt?
Es ist immer wieder von den berühmten «besonderen Umständen» die Rede, welche zu Ausnahmen führen. Welche könnten das sein?
Kommen wir auf den Fall zurück, um den es beim aktuellen Urteil des Bundesgerichts geht: Hätte es für die Frau einen juristischen Trick gegeben, den sie hätte anwenden können, um nicht mehr arbeiten zu müssen?
Hat das Urteil auch Auswirkungen auf unverheiratete Paare?
Würden Sie Paaren, die heute heiraten und eine Familie gründen wollen, zu einem Vertrag raten, der alles regelt?
Neue Ehe-Rechtsprechung – darum geht es
Zum einen hat es die sogenannte «45er-Regel» aufgegeben. Diese besagte, dass einem Ehegatten die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zuzumuten ist, wenn er während der Ehe nicht berufstätig war und im Zeitpunkt der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts beziehungsweise bei der Scheidung das 45. Altersjahr bereits erreicht hat.
Neu ist stets von der Zumutbarkeit einer Erwerbsarbeit auszugehen, soweit eine solche Möglichkeit tatsächlich besteht und keine Hinderungsgründe vorliegen wie namentlich die Betreuung kleiner Kinder. Massgeblich sind die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalles und damit unter anderem Kriterien wie das Alter, die Gesundheit, bisherige Tätigkeiten, persönliche Flexibilität oder die Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Zum anderen hat das Bundesgericht den Begriff der lebensprägenden Ehe weiterentwickelt, welche im Scheidungsfall einen Anspruch auf Beibehaltung des bisherigen ehelichen Lebensstandards gibt. Bislang wurde eine lebensprägende Ehe bereits nach einer Dauer von zehn Jahren oder – unabhängig davon – bei einem gemeinsamen Kind angenommen.
Nach der neuen Definition ist eine Ehe dann lebensprägend, wenn ein Ehegatte seine ökonomische Selbständigkeit zugunsten der Haushaltsbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat und es ihm deshalb nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an seiner früheren beruflichen Stellung anzuknüpfen, während der andere Ehegatte sich angesichts der ehelichen Aufgabenteilung auf sein berufliches Fortkommen konzentrieren konnte.
Quelle: Bundesgericht, 9. März 2021
Praktische Tipps von Catarina Nägeli
- Realistisch sein! «Wir trennen uns nie» gibt es nicht! Vor diesem Hintergrund muss man sich bei der Heirat ernsthaft überlegen, was man möchte und wie man sich aufteilt.
- «Ich würde grundsätzlich allen raten, sich nicht allzu abhängig vom Partner oder von der Partnerin zu machen, wenn das irgendwie drinliegt. Auch wenn man im Moment vielleicht das Gefühl hat, es lohne sich nicht, zu arbeiten – auf lange Sicht wird es auf jeden Fall ein Vorteil sein.»
- Wenn man sich trotzdem für das traditionelle Modell entscheiden möchte: «Ganz aus dem Berufsleben auszusteigen, ist meiner Meinung nach die schlechteste Option. Vielleicht kann man ja mit einem Fuss in der Tür bleiben. Mit einem niedrigen Pensum, Einzelaufträgen als Selbständige oder auch mit Weiterbildungen, um à jour zu bleiben. Das macht ja auch Spass.»
- Den Partner in die Pflicht nehmen! «Man kann auch Erziehungsaufgaben wahrnehmen, wenn man zu 100 Prozent arbeitet.»
- Wer vor einer Trennung oder Scheidung steht: sich informieren! «Der Vorteil ist, dass man nach einer Trennung zwei Jahre Zeit hat bis zur Scheidung. Die kann man nutzen, um sich damit auseinanderzusetzen, was man möchte, wie es im beruflichen Umfeld aussieht, welche Aus- oder Weiterbildungen einen interessieren würden, ob man Ideen hätte, die sich umsetzen lassen. Und man soll sich unbedingt auch beraten lassen und Unterstützung holen, sei das bei einer Berufs- und der bei einer Rechtsberatung.»
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Sie machen täglich den Spagat zwischen Kindererziehung und Job: alleinerziehende Mütter und Väter. Im komplizierten Alltag kämpfen viele von ihnen mit finanziellen Schwierigkeiten. Und der Gewissheit, ihren Kindern nicht immer gerecht zu werden.