Zeiten-Paradox im Lockdown

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Mit diesem Text startet Michèle Binswanger einen Lockdown-Mamagblog, in dem sie über ihre Erlebnisse im Homeoffice berichtet.
Jetzt bleiben wir zu Hause und erledigen alles von hier. Anfangs dachte ich: Yeah, nicht mehr pendeln, das bedeutet so viel mehr Zeit! Denkste. Ich habe nicht mehr Zeit, aber sie verläuft anders. Formlos, verstreicht sie rasend schnell und scheint trotzdem still zu stehen, man tigert herum, sieht überall nur Aufgaben, die es zu erledigen gälte, kann sich nicht dazu aufraffen, anderes ist gerade wichtiger. Die Tage, vormals als Montag, Dienstag, Mittwoch bekannt, sind ununterscheidbar geworden und haben wir eigentlich noch März, oder sind wir schon im nächsten Monat gestrandet?
Die Tage, vormals als Montag, Dienstag, Mittwoch bekannt, sind ununterscheidbar geworden und haben wir eigentlich noch März, oder sind wir schon im nächsten Monat gestrandet?
Meine Kinder bringen der Aussicht ziemlich viel Sympathie entgegen: sich den Rest des Schuljahrs ans Bein zu streichen – es sind nicht gerade Ferien, aber sie dürfen ihre Bildung bis auf Weiteres selber verfolgen, ohne Unterricht, Präsenzzeiten, permanenten Druck. Es ist, als hätte die Krise eine Stopp-Taste gedrückt, alles hält den Atem an, alles funktioniert nur noch auf Sparflamme. Und das ist nicht nur schlecht. Es gibt auch Raum für Neues. Kurioserweise merken das auch die Spitäler, erzählte mir eine Ärztin, es gibt momentan weniger Notfälle, auch weniger Herz- und Schlaganfälle.
Es ist die Perspektive des Reporters, der sich am Wind grosser Veränderungen berauscht. Sofern man sich nicht gerade vor Angst in die Hosen scheisst.
Irgendwann wird das Gröbste vorbei sein. Die Zeit wird wieder ihre alte Form annehmen und irgendwann werden wir bemerken, dass es eben doch nicht die alte Form ist. Sondern eine neue. Ich freue mich schon darauf.
Michèle Binswangers Tagebuch in der Übersicht:
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