Zeiten-Paradox im Lockdown - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Zeiten-Paradox im Lockdown

Lesedauer: 2 Minuten

Mit diesem Text startet Michèle Binswanger einen Lockdown-Mamagblog, in dem sie über ihre Erlebnisse im Homeoffice berichtet.

Es ist seltsam, wie anders die Zeit verstreicht, wenn man morgens nicht mehr aus dem Haus ins Büro eilt, Sitzungen abhält, im Büro sitzt, mit Kollegen Mittagessen geht, sich abends vielleicht ein Bier gönnt oder noch Sport treibt, und sich dann durch die Pendlerströme nach Hause wälzt.

Jetzt bleiben wir zu Hause und erledigen alles von hier. Anfangs dachte ich: Yeah, nicht mehr pendeln, das bedeutet so viel mehr Zeit! Denkste. Ich habe nicht mehr Zeit, aber sie verläuft anders. Formlos, verstreicht sie rasend schnell und scheint trotzdem still zu stehen, man tigert herum, sieht überall nur Aufgaben, die es zu erledigen gälte, kann sich nicht dazu aufraffen, anderes ist gerade wichtiger. Die Tage, vormals als Montag, Dienstag, Mittwoch bekannt, sind ununterscheidbar geworden und haben wir eigentlich noch März, oder sind wir schon im nächsten Monat gestrandet? 

 Die Tage, vormals als Montag, Dienstag, Mittwoch bekannt, sind ununterscheidbar geworden und haben wir eigentlich noch März, oder sind wir schon im nächsten Monat gestrandet? 

Ich erinnere mich an ein Buch aus meiner Kindheit. Eigentlich nur an den Titel: «Zwei Jahre Ferien» hiess das Buch, und ich habe wohl meinem Philosophen-Onkel allzu enthusiastisch davon erzählt, wie toll ich mir das vorstelle, zwei Jahre Ferien zu haben. Er hörte mir zu und machte dann dieses Gesicht, als suche er irgendwo in seinem Hinterkopf nach einer Antwort. Dann erklärte er mir, dass wir Ferien vor allem als Abwechslung so sehr schätzten, um uns zu erholen. Dass es aber eine ganz andere Sache sei, wenn es nur noch Ferien gäbe, man sich ganz eigene Strukturen geben müsse.

Meine Kinder bringen der Aussicht ziemlich viel Sympathie entgegen: sich den Rest des Schuljahrs ans Bein zu streichen – es sind nicht gerade Ferien, aber sie dürfen ihre Bildung bis auf Weiteres selber verfolgen, ohne Unterricht, Präsenzzeiten, permanenten Druck. Es ist, als hätte die Krise eine Stopp-Taste gedrückt, alles hält den Atem an, alles funktioniert nur noch auf Sparflamme. Und das ist nicht nur schlecht. Es gibt auch Raum für Neues. Kurioserweise merken das auch die Spitäler, erzählte mir eine Ärztin, es gibt momentan weniger Notfälle, auch weniger Herz- und Schlaganfälle.

Es ist die Perspektive des Reporters, der sich am Wind grosser Veränderungen berauscht. Sofern man sich nicht gerade vor Angst in die Hosen scheisst.

Und dann gibt es da noch eine andere Perspektive. Die Vorstellung, dass es nie mehr so sein wird wie früher, dass so vieles sich verändern wird, hat auch etwas Aufregendes. Als Journalistin will ich sehen, verstehen, dabei sein. Es ist die Perspektive des Reporters, der sich am Wind grosser Veränderungen berauscht. Sofern man sich nicht gerade vor Angst in die Hosen scheisst.

Irgendwann wird das Gröbste vorbei sein. Die Zeit wird wieder ihre alte Form annehmen und irgendwann werden wir bemerken, dass es eben doch nicht die alte Form ist. Sondern eine neue. Ich freue mich schon darauf.


Dies ist der erste Text von Michèle Binswangers neuen Lockdown-Mamagblogs, in dem sie über ihre Erlebnisse im Homeoffice berichtet. Ab sofort bloggt die zweifache Mutter zweimal pro Woche – jeweils Sonntag und Donnerstag. Ihr Blog erscheint auf www.tagesanzeiger.ch und www.fritzundfraenzi.ch.


Michéle Binswanger ist studierte Philosophin, Journalistin, Buchautorin und langjährige Kolumnistin bei Fritz+Fränzi. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter von zwei Kindern und lebt in Basel. 


Michèle Binswangers Tagebuch in der Übersicht: 


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