Reifeprüfung im Corona-Dilemma - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Reifeprüfung im Corona-Dilemma

Lesedauer: 2 Minuten

In ihrem neuen Lockdown-Mamablog berichtet Michèle Binswanger über ihre Tochter, die zurzeit nicht weiss, ob sie ihre Maturprüfung machen wird oder sie geschenkt bekommt. 

Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Meine Tochter sitzt wie auf Nadeln. Wenn man den Zustand angesichts der Umstände überhaupt so nennen kann. Sie stand kurz vor der Matur, als das Virus angetanzt kam und alles durcheinander wirbelte.

Und bis heute weiss sie nicht, ob sie die Matur nun noch wird machen müssen. Oder ob der Bund beschliessen wird, dass man mit der Vornote geht und ihrem Jahrgang die Matur schenkt. Dann wäre die Reifeprüfung ausgefallen.

Es bliebe der Nachgeschmack eines Koitus Interruptus.

Und wie so oft in diesen Tagen, ist sie hin und her gerissen, was sie davon halten soll. Einerseits würde eine ausgefallene Matur ihr natürlich eine Tonne Stress ersparen. Nicht umsonst erinnern sich viele Erwachsene auch nach Jahrzehnten mit einem leisen Schaudern an ihre schriftlichen und mündlichen Prüfungen. Und nicht wenige Menschen haben bis ins Alter Alpträume. Ich etwa träume oft voller Schrecken davon, dass ich eine Mathe-Matura ablegen muss, nachdem ich etwa dreissig Jahre nichts mehr dafür gelernt habe.

Andererseits bliebe immer der Nachgeschmack eines Koitus Interruptus: Ist die Prüfung am Ende nicht ein Teil des Prozesses, der sonst unvollständig bliebe? Wäre es nicht fair, den Maturandinnen und Maturanden irgendeine Art von Abschluss zu ermöglichen?

Aber was heisst denn schon fair? Wäre es nicht auch fair gewesen, meine Mutter hätte ihren runden Geburtstag im Kreise ihrer Familie feiern dürfen, wie sie es geplant hatte? Doch das durfte sie nicht – und wer weiss, wie viele runde Geburtstage ihr noch bleiben.

So oder so wird dieses Jahr in vielerlei Hinsicht Corona-Narben tragen. Sicherlich wird es Maturanden geben, die sich der Gelegenheit, ihr Wissen zu demonstrieren, beraubt fühlen werden. Das Virus ist nicht fair. Es wirft unser aller Leben durcheinander, es hat uns alle gewisser Gelegenheiten beraubt.

Und so sitzt meine Tochter wie auf Nadeln. Jeden Tag schwankt sie zwischen: Juhu, meine Schullaufbahn ist zu Ende und der grösste Stress wurde mir erlassen. Oder aber: Ich habe so viel gearbeitet und jetzt stehen wir im Wald und es heisst einfach: Ist gut jetzt, ihr könnt alle gehen, sucht euren Weg selber und ach ja, hier habt ihr noch die Matur.

Von allen Dilemmas, die dieser Tage zu entscheiden sind, scheinen hier beide Lösungen verkraftbar. Denn so oder so heisst es am Schluss: Die Schule ist aus, es war schön und nun habt ein schönes Leben. Ob meine Tochter nun mit regulärer oder geschenkter Matur im Gepäck loszieht – es wird ihre Zukunft kaum beeinflussen.

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

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Michèle Binswangers Tagebuch in der Übersicht:


Michèle Binswangers berichtet in ihrem neuen Lockdown-Mamagblog über ihre Erlebnisse im Home Office. Ab sofort bloggt die zweifache Mutter zweimal pro Woche – jeweils Sonntag und Mittwoch. Ihr Blog erscheint auf www.tagesanzeiger.ch und www.fritzundfraenzi.ch.