Die Zahlen zeigen, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen heute viel öfter in der Regelschule integriert werden als noch vor 20 Jahren. Das will das Gesetz der Integration – mit dem Effekt, dass Kinder, die früher separat geschult worden wären und eine Sonderschule besucht hätten, heute in einer Regelklasse sind.
Gleichzeitig hat sich die gesellschaftliche Norm gewandelt, ist die Vorstellung dessen, was normal ist, immer enger geworden. Wenn Kinder, die eine Regelklasse besuchen, eine Schwäche im motorischen, sprachlichen oder rechnerischen Bereich haben, verträumt sind oder nicht leicht lernen, wird versucht, ihre Schwächen so zu relativieren, damit sie im normalen Unterricht mithalten können. So sollen sie wegen ihrer Schwächen nicht mehr ausgegrenzt werden, sondern Teil eines grossen Ganzen sein.
Aber wann leidet ein Kind wirklich unter einer Fehlfunktion, die therapiert werden kann, und wann ist lediglich die Entwicklung verzögert? Sprich: Wann braucht das Kind einfach nur ein bisschen mehr Zeit und Raum, um sich zu entfalten? Fachleute geben zu: Diese Diagnose ist nicht immer einfach zu stellen. «Heute werden immer öfter Aufmerksamkeitsstörungen diagnostiziert», kritisiert etwa der Solothurner Kinderarzt und Autor Thomas Baumann.
Auch der Churer Entwicklungsspezialist, Kinder- und Jugendtherapeut Andreas Müller hat beobachtet, dass die Schule heute ein sehr enges «Normband» hat. «In diesem Rahmen wird ein Verhalten schnell auffällig», sagt Müller. «Je grösser das Angebot von sonderpädagogischen Massnahmen, desto grösser ist auch die Nachfrage.»