Was blieb, ist Geschäftigkeit, diesmal im bitteren Ernst. Stress wurde zur Volkskrankheit – und zum Statussymbol: Wer etwas auf sich gibt, ist im Schuss. Dann erhöhte in den Nullerjahren die digitale Revolution das Tempo noch einmal: Warum eines nach dem anderen erledigen, wenn alles in einem Wisch geht?
Entschleunigung – jetzt ist jetzt

Fotos: Raffael Waldner / 13 Photo
Knapp bei Kasse, reich an Zeit
In der Analyse «Familien und Stress» der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft gab 2013 die Hälfte der 362 befragten Mütter und Väter an, von Stress geplagt zu sein. Eine Studie des Marktforschungsinstitutes Forsa aus dem aktuellen Jahr mit 1000 Personen kommt zum Schluss, dass über 60 Prozent der deutschen Eltern Eile, Hetze und Zeitdruck im Alltag verspüren. Wenn die Befragten einen Wunsch frei hätten, wären 40 Prozent von ihnen gerne wohlhabender, bereits auf Platz zwei (38 Prozent) folgt der Wunsch nach mehr Gelassenheit.
Wie gelingt es uns, gelassen zu werden? «Wir sollten mehr auf das achten, was uns wirklich wichtig ist. Und das heisst für viele Menschen, materiellen Wohlstand gegen Zeitwohlstand einzutauschen», sagt Soziologe Reheis. Damit dies kein Luxus für wenige bleibe, brauche es von der Politik entsprechende Rahmenbedingungen. Reheis plädiert etwa für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das es den Menschen ermöglichen würde, einen Grossteil ihrer Zeit dem zu widmen, was ihnen am Herzen liegt – dem Partner, den Kindern, einem Hobby.
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1/11 Im Ökodorf Sennrüti ist gut Entschleunigen. -
2/11 Denise de Gois und ihre Familie geniessen das Leben dort. -
3/11 So viel Grün. -
4/11 …und sogar ein Baumhaus laden zum Relaxen ein. -
5/11 Léa und Jael wissen, wie man in der Natur spielt… -
6/11 …und dürfen hoch hinaus… -
7/11 …überall. -
8/11 Familie Bonato hat die Arbeitszeit zu gunsten der Familienzeit reduziert. -
9/11 So können die Eltern ihren Kindern bei der Entschleunigung zusehen… -
10/11 …und diese selbst geniessen. -
11/11 …Familie Fluri/Bretscher kennt magische Orte zum durchatmen und loslassen.
So unkonventionell der Autor, so handfest sind seine Rezepte: sparen, bescheiden leben, Biss zeigen. Er habe, sagt Pete, schon früh darauf geachtet, nichts zu verschwenden. Und er habe viel gearbeitet – ein paar Jahre lang. «Wir fuhren Fahrrad, assen zu Hause, gingen nicht in die Ferien.» Mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen sparten Pete und seine Frau.
Das Paar investierte einen Teil seines Geldes am Aktienmarkt und kaufte mit dem anderen ein billiges altes Haus in bar, das es in Eigenregie renovierte und später vermietete. «Irgendwann erreichte unser passives Einkommen durch die Aktiendividenden und Mieteinnahmen einen Betrag, der für unser tägliches Auskommen genügt. Für eine Familie mit einem Kind sind das 25’000 Dollar pro Jahr.» Einen Teil der Gewinne aus dem Aktiengeschäft reinvestiert Pete als Rücklage für den Notfall. Sein Familienauto ist praktisch, aber nicht schick, Möbel, Haushaltsgeräte und Spielsachen bestellt sich die Familie online und aus zweiter Hand. Trotzdem sagt Pete: «Unser Lebensstil ist ziemlich normal. Es liegen ein Haus, vier Computer und Bio-Lebensmittel drin.»
Online-Dossier Achtsamkeit
«Es wäre unfair, zu behaupten, Müssiggang könne sich jeder im gleichen Ausmass leisten», sagt Riklin. Alleinerziehenden oder Geringverdienern zu sagen, sie sollen ihr Leben etwas entspannter angehen, käme einer Ohrfeige gleich. «Es gibt Menschen, die in dieser Hinsicht keine Wahl haben. Bedeutend grösser aber ist die Gruppe jener, die ihren Stress reduzieren könnten – wenn sie sich bewusst dafür entscheiden.»
Entschleunigung heisst: Den Lebensstandard überdenken
Auf Riklins eigener Liste stehen viele Kleinigkeiten, und, sozusagen als Dauervertreter, der Newskonsum. Der Familienvater liess sich dabei vom St. Galler Schriftsteller und Unternehmer Rolf Dobelli inspirieren, der in einem Essay «für eine gesunde Nachrichtendiät» plädiert und erklärt, warum er keine News konsumiert: «News sind für den Geist, was Zucker für den Körper ist. News sind triviale Leckerbissen, die unseren Hunger nach Wissen nicht wirklich stillen. Anders als bei Büchern und guten Magazinartikeln stellt sich beim Newskonsum keine Sättigung ein. Wir können Unmengen von Nachrichten verschlingen, sie bleiben billige Zuckerbonbons für den Geist.»
Von der Entscheidung, keinen Fernseher anzuschaffen, habe vermutlich vor allem seine Partnerschaft profitiert, sagt Riklin. «Wenn immer möglich treffen meine Frau und ich uns spätabends am Küchentisch. Bei einem Glas Wein lassen wir den Alltag Revue passieren. Das entspannt und verbindet.» Früher habe er zu dieser Zeit oft ferngesehen, «für ein Gespräch», sagt Riklin, «wäre ich danach zu müde gewesen».
Von den Kindern lernen
Gerade Kinder sind hervorragend darin, uns die Schönheit im Alltäglichen vor Augen zu führen. Sie sind, wenn wir sie denn lassen, von Natur aus gemächlicher unterwegs. Ihr Staunen gilt den einfachen Dingen: dem Rauschen des Baches, einem Tier, das lustige Geräusche macht. Wir reagieren mit Kopfschütteln, wenn Jugendliche «Chillen» als Hobby angeben, neiden ihnen aber insgeheim die Fähigkeit, ganz im Augenblick zu versinken. Kinder sind Meister in dem, was sich Monotasking nennt. Es bedeutet, sich mit Hingabe einer einzigen Sache oder Person zu widmen.
Unsere Gesellschaft kennt derweil vor allem das Gegenteil, Multitasking. Es ist die zweifelhafte Kunst, mehrere Dinge auf einmal zu erledigen. Einst zur Schlüsselkompetenz hochgejubelt, gerät Multitasking heute zunehmend ins Fadenkreuz der Kritik. Studien legen nahe, dass es nicht nur zu schlechteren Arbeitsresultaten führt, sondern auch unserem Gehirn schadet. So erzeuge es Druck, der Persönlichkeitsstörungen fördere. In seinem Buch «Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung» vergleicht Stefan Rieger, Professor für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie an der Universität Bochum, das menschliche Gehirn mit einem Flaschenhals, der sich nicht beliebig erweitern lässt: Mehrere Sachen gleichzeitig gehen einfach nicht durch. Rieger fordert Entschleunigung: «Tun wir fortan also weniger – und tun wir es vor allem langsam.»
Zeit zum Träumen, Trödeln, Nichtstun: In unserer beschleunigten Gesellschaft ist sie ein rares Gut. Und eines, von dem wir unseren Kindern nie genug schenken können – ganz anders als bei teuren Kleidern und Spielsachen.
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- Dieser Artikel gehört zu unserem Online-Dossier Achtsamkeit und Entschleunigung. Lesen Sie sich jetzt in die Tiefe ein.
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