Wie Eltern die Ängste ihrer Kinder unbewusst verstärken
Im Umgang mit den Ängsten ihrer Kinder können Eltern einiges falsch machen – und vieles richtig. Wie Ihr Kind gestärkt wird – und wann Sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen sollten.
Der Hund knurrt, der Junge zittert, die Mutter beschwichtigt: «Der beisst doch nicht! Willst du ihn nicht mal streicheln? Du brauchst doch keine Angst zu haben!» Die meisten Kinder entwickeln im Laufe ihres Lebens Ängste. Fast jedes Kind hat während der Kindheit Angst vor der Dunkelheit, vor Monstern oder bestimmten Tieren.
Als Eltern können Sie in diesem Fall ganz entspannt bleiben, das Nachtlämpchen brennen und die Schlafzimmertüre offen lassen, die Monster unter dem Bett lautstark vertreiben oder das Kind nach einem Albtraum auch mal in Ihrem Bett schlafen lassen. Meist verschwinden diese Ängste genauso plötzlich, wie sie gekommen sind.
Kinder mit Ängsten denken oft darüber nach, was passieren würde, wenn … Sie denken diesen Gedanken aber nicht zu Ende.
Anders ist es, wenn ein Kind Ängste entwickelt, die es einschränken und unter denen es leidet. Sie sollten als Eltern reagieren, wenn Ihr Kind oft schlaflose Nächte vor Prüfungen hat, unter sozialen Ängsten leidet, die es ihm sehr schwer machen, auf andere Kinder zuzugehen, oder wenn die Angst vor bestimmten Tieren so gross wird, dass sich das Kind kaum mehr nach draussen getraut.
Im Umgang mit Ängsten kann man als Eltern in einige Fallen tappen und damit die Ängste des Kindes unbewusst noch verstärken. In diesem Artikel möchte ich Sie dafür sensibilisieren. Im nächsten Heft – sowie im Film in der anschliessend aufgeführten Box – erfahren Sie, wie Sie Ihrem Kind helfen können, seine Angst zu überwinden.
«Davor brauchst du doch keine Angst zu haben!»
Diesen Satz bekommen Kinder bei Ängsten von Erwachsenen oft zu hören. Er verstärkt die Unsicherheit des Kindes, weil er dem Kind nicht dabei hilft, seine Gefühle «abzustellen», sondern sie als unangemessen bezeichnet. Eine häufige Folge ist, dass das Kind zwar nicht weniger Angst hat, sich aber für seine Ängste zusätzlich zu schämen beginnt.
Toms Vater meinte stattdessen: «Weisst du, als Kind hat mir das zuerst auch Angst gemacht.» Sofort wurde Tom hellhörig und neugierig: «Und was hast du dann gemacht?»
«Du schaffst das ganz bestimmt!»
Oft möchten Eltern Kindern versichern, dass ihre Sorgen unbegründet sind. Gerade bei Prüfungsängsten begegnen mir oft Versicherungen der Art «Du kannst das!», «Du schaffst das bestimmt!». Kurzzeitig mögen diese Parolen das Kind beruhigen – aber immer rascher kommt der Zweifel: «Und wenn nicht? …» Komischerweise werden Kinder durch solche beruhigenden Versicherungen zusätzlich verunsichert.
So können Eltern ihrem Kind helfen, seine Ängste zu bewältigen.
- Nehmen Sie seine Gefühle ernst. Sprechen Sie mit ihm darüber, wie es mit seinen Ängsten umgehen kann.
- Zeigen Sie Ihrem Kind, dass Ängste zum Leben dazugehören und überwunden werden können. Räumen Sie der Angst nicht zu viel Macht ein.
- Verdeutlichen Sie Ihrem Kind: Du kannst trotz Angst einen Vortrag halten, eine Prüfung schreiben oder auf andere Kinder zugehen.
- Erklären Sie Ihrem Kind, dass man im Leben immer eine zweite Chance erhält und man auch ein glückliches Leben führen kann, wenn die eine oder andere «Katastrophe» eintritt.
Selina, eine Jugendliche, die vor der Lehrabschlussprüfung stand, meinte zu mir: «Für meine Eltern existiert die Möglichkeit, dass ich durchfalle, gar nicht! Die sagen immer, dass ich es ganz bestimmt schaffe! Die wären sicher super enttäuscht, wenn es bei den Prüfungen nicht so rund läuft!»
Hilfreicher war das anschliessende Gespräch mit ihren Eltern, bei dem ernsthaft darüber gesprochen wurde, was passiert, wenn Selina es «nicht schafft». Die Eltern konnten ihr glaubhaft darlegen, dass für sie als Eltern keine Welt zusammenbrechen würde und es für Selina ebenfalls nicht so tragisch wäre, wenn sie ein Jahr länger braucht.
Kinder mit Ängsten denken oft darüber nach, was passieren würde, wenn … Sie denken diesen Gedanken aber nicht zu Ende. Wenn wir ihnen genau dabei helfen, erkennen sie oft: Erstens wäre es nicht so tragisch und zweitens gibt es einen Plan B!
«Sie konnte sich nicht konzentrieren, weil sie solche Angst hatte!»
Wie wir mit der Angst umgehen, wirkt sich oft entscheidender auf das Ergebnis aus als die Angst selbst. So gibt es fast keinen Zusammenhang zwischen der Leistung in Prüfungen und der körperlichen Aufgeregtheit. Negative Auswirkungen auf die Leistung kommen meist daher, dass Sorgen von der Prüfung ablenken.
Als Eltern können Sie Ihr Kind stärken, indem Sie ihm vermitteln, dass es seine Gefühle zulassen und annehmen darf.
Um ein Beispiel zu machen: Schauspieler Georg denkt: «Ohne Lampenfieber bringe ich einfach nicht die volle Leistung!» Wenn sein Herz kurz vor dem Auftritt zu klopfen beginnt, heisst er dies willkommen. Er hat das Gefühl, voll da zu sein, und profitiert von seinem «Adrenalinschub».
Schauspieler Oliver denkt: «Hoffentlich werde ich nicht nervös!» Als sein Herz zu klopfen beginnt, denkt er: «Oh nein! Mein Herz rast! Jetzt fängt das wieder an! Sicher sehen alle, wie nervös ich bin! Sicher vergesse ich den Text!» Vor lauter Sorgen steigt seine Angst weiter an, und sein Herz klopft noch heftiger. Abgelenkt von all den negativen Gedanken über seine Angstsymptome kommt er tatsächlich ins Stocken.
Nehmen Sie bei gravierenden Ängsten Hilfe in Anspruch
Wenn Eltern sehr besorgt reagieren, wenn ihr Kind von Ängsten berichtet, können sie die «Angst vor der Angst» verstärken und beim Kind das Gefühl wecken: «Wenn ich Angst bekomme, bin ich geliefert! Dann geht gar nichts mehr!» Als Eltern können Sie Ihr Kind stärken, indem Sie ihm vermitteln, dass Nervosität in solchen Situationen dazugehört und es diese Gefühle zulassen und annehmen darf.
Vielleicht überlegen Sie sich mit dem Kind sogar einen Satz wie: «Ich habe Angst … das ist o.k. – ich konzentriere mich jetzt wieder auf die Aufgabe … eins nach dem anderen.» Oder: «Wenn ich ein Blackout habe, dann drehe ich die Prüfung um und sage zu mir: Du hast gerade ein Blackout – das kann vorkommen. Atme langsam und tief ein und aus und lies die Aufgabe dann nochmals durch.»
Kleine Angstmonster-Kunde aus der Video-Serie «Was mein Kind stark macht:
Der kleine Biber fürchtet sich vor dem Vortrag. Zum Glück ist seine Tante Biber-Beraterin. Erfahren Sie in diesem Kurzfilm, wie Sie Ihr Kind bei Ängsten unterstützen können.
Falls Ihr Kind unter seinen Ängsten leidet, sollten Sie unbedingt Hilfe in Anspruch nehmen. Ängste lassen sich in einer Therapie meist sehr gut behandeln – und der Zugewinn an Lebensqualität ist so hoch, dass sich der Aufwand mehr als lohnt! Auf der Webseite der FSP (Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen) finden Sie Hilfe: www.psychologie.ch.