Mein Kind hat Angst vor Neuem - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Mein Kind hat Angst vor Neuem

Lesedauer: 5 Minuten

Bei Ängsten denken wir an Spinnen, Hunde, enge Räume, Höhen oder Prüfungen. Für manche Kinder reicht jedoch eine neue Situation aus, um sie zu blockieren. Diese Kinder brauchen geduldige Erwachsene.

Text: Fabian Grolimund
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Neue Menschen, neue Erfahrungen, neue Gerichte – alles, was Leander, 5, nicht kennt, löst zunächst eine starke Abwehrreaktion aus. Für seine Eltern stellt sich immer wieder die Frage: Wie gehen wir damit um? Sollen wir Leander fordern oder doch lieber schonen? Sie geraten ob dieser Fragen oft in Streit. Leanders Vater stören die Ängste seines Sohnes genauso wie die «Schonhaltung» seiner Frau. Er kann die übervorsichtige Art seines Sohnes kaum ertragen. Er empfindet sie als unmännlich und sorgt sich, dass sein Sohn «auf diese Weise bei den anderen Jungs doch unten durch» ist. Leander hört von seinem Vater immer wieder, dass er sich «nicht so anstellen» soll. Leanders Mutter nimmt ihren Sohn jeweils in Schutz. Sie hat das Gefühl, ihr Kind gegen die Forderungen des Vaters verteidigen zu müssen, der ihn «einfach nicht versteht».

Kriegstraumatisierte Kinder aus Ex-Jugoslawien versteckten sich unter den Pulten. Der Lehrer setzte sich zu ihnen und unterrichtete unter dem Tisch.

Selbst eher ängstlich und vorsichtig, kann sie die Ängste ihres Kindes besser nachvollziehen. Sie achtet darauf, dass der Alltag in gewohnten Bahnen verläuft und richtet alles so ein, dass Leander auf möglichst wenig Stresssituationen trifft. Sie macht keine Ausflüge und vermeidet Besuch. Leander wächst praktisch ohne Kontakt zu anderen Kindern auf, da es immer wieder zu Szenen kommt, wenn ihm andere Kinder zu nahe kommen, sein Spielzeug «ausborgen» oder etwas tun, was ihn irritiert.

Den Spielplatz suchen sie nur auf, wenn nicht zu viele andere Kinder zu sehen sind. Während Leanders Vater der immer enger werdende Bewegungsradius zunehmend stört, hat sich seine Mutter damit abgefunden. Ihr Stresslevel steigt jedoch erheblich, als er eingeschult wird und die Aussenwelt zunehmend Forderungen an ihn stellt. Sie sieht sich gezwungen, immer mehr Personen das Verhalten ihres Kindes zu erklären. Dabei fühlt sie sich von ihrem Mann alleine gelassen, der sich geniert und meint: «Du kannst doch nicht von allen verlangen, dass sie unseren Sohn in Watte packen.» Leanders Mutter sieht die Aussenwelt zunehmend als Feind, gegen den sie ihr Kind schützen muss. Wie können Eltern aus dieser Situation herausfinden und ihr Kind unterstützen? In unseren Seminaren sind uns immer wieder Eltern begegnet, die sehr vorsichtige Kinder haben und einen positiven Umgang damit gefunden haben. Die folgenden Punkte empfand ich dabei als besonders hilfreich.

Neues langsam erkunden

Eine Mutter erzählte uns, dass ihr Kind grosse Mühe mit neuen Situaes gewesen, als sie vom Kindergarten in die Schule kam: «Sie hatte vom ersten Ferientag an Bauchschmerzen», berichtete die Mutter. Ich habe das Mädchen dann gefragt, was ihm solche Angst macht. Es meinte, dass der Weg so weit sei und sie Angst habe, dass sie ihn nicht alleine bewältigen könne. Das Schulhaus, die Lehrerin und die Klasse seien neu und sie habe keine Ahnung, was auf sie zukomme. Die Mutter übte mit ihr in den Ferien den Schulweg und besuchte mit ihr das Schulhaus.

Als sie das zweite Mal da waren, putzte die Hauswartin die Böden und liess sie sogar einen Blick in das zukünftige Klassenzimmer werfen. Die Mutter meinte: «Meine Tochter braucht Zeit – je mehr sie etwas in Ruhe anschauen darf, je konkreter es wird und je besser sie sich vorstellen kann, was auf sie zukommt, desto mehr verliert sie die Angst. Sie muss einfach wissen: Hier werde ich hingehen, hier werde ich sitzen, das kommt auf mich zu. Beim Klassenlager haben wir es auch so gemacht: Wir sind einfach hingefahren und haben uns das Lagerhaus und die Umgebung angeschaut.»

Nach drei Monaten zuschauen tanzte das Mädchen mit

Kinder wie dieses Mädchen oder Leander erfahren immer wieder, dass ihr Verhalten und ihre Gefühle andere Menschen stören. Entsprechend rasch sehen sie sich als Versager. Damit sie Sicherheit entwickeln und den Mut aufbringen, sich schwierigen Situationen zu stellen, ist es jedoch wichtig, dass sie sich verstanden und angenommen fühlen. Auf diese Weise können sie auch ihre eigenen Gefühle besser nachvollziehen. Eltern können beispielsweise sagen: «Jetzt wird es dir gerade zu viel, gell? Komm, wir setzen uns auf die Bank und schauen ein wenig zu.» Für vorsichtige Kinder ist diese Phase des Beobachtens von grosser Bedeutung. Sie möchten sich an neue Situationen herantasten dürfen.

Akzeptieren es Erwachsene nicht, wenn Kinder mehr Zeit brauchen, kann dies schwerwiegende
 Folgen haben.

Wird das Tempo des Kindes nicht respektiert, kann dies schwerwiegende Folgen haben. Als ein Junge im Kindergarten beim Turnen zuerst zuschauen wollte, meinte die Kindergärtnerin in der zweiten Woche: «Entweder du machst jetzt mit oder du bist raus! Ich kann nicht für jeden eine Extrawurst braten.» 

Der Junge hatte danach solche Angst vor der Kindergärtnerin, dass er sich über Wochen weigerte, in den Kindergarten zu gehen. Ganz anders ist eine Tanzlehrerin damit umgegangen. Sie liess ein Mädchen einfach zuschauen: Es stand im Trikot am Rand und beobachtete sehr interessiert, was passierte. Die Lehrerin fragte jedes Mal: «Möchtest du heute mitmachen?» Nach drei Monaten stand sie plötzlich in der Reihe – und alle stellten überrascht fest, dass sie die Choreografie mittanzen konnte.

Druck weg – und es klappt

Wenn Kinder sich selbst verstehen und ihre eigenen Gefühle annehmen können, fällt es ihnen leichter, damit umzugehen. Eltern können sie dazu ermutigen, sich diesen Gefühlen in kleinen Schritten zu stellen. Dabei sollten vorsichtige Kinder die Botschaft heraushören: «Ich weiss, dass du das irgendwann kannst. Du darfst dir dabei Zeit lassen und in deinem Tempo vorangehen – ich unterstütze dich dabei

Ein Lehrer und Heilpädagoge erzählt: «Nach dem Jugoslawien-Krieg hatten wir viele traumatisierte Kinder an unserer Schule. Manche Kinder haben sich unter dem Tisch versteckt. Ich habe mich dann zu ihnen gesetzt. In dieser Zeit habe ich sehr oft unter den Pulten unterrichtet. Sie mussten zuerst lernen, dass sie in der Schule sicher sind. Ich habe ihnen einfach immer wieder vorgeschlagen, dass wir uns auch auf die Stühle setzen können. Irgendwann waren sie dann so weit

Es ist wichtig, dass wir Kinder, die Zeit brauchen, nicht einfach abstempeln und ihnen das Gefühl geben, dass sie «es sowieso nie können werden ». Ohne Druck können wir ihnen immer wieder Angebote machen und die Zuversicht äussern, dass irgendwann der Tag sein wird, an dem sie den nötigen Mut haben werden, sich einer neuen Situation zu stellen. Und wenn es so weit ist, können wir uns gemeinsam mit dem Kind freuen, dass sein Bewegungsradius gewachsen ist.

Kurztipps

Kinder, die Angst vor neuen Situationen haben, profitieren davon, wenn Eltern und Lehrpersonen:

  1. ihnen dabei helfen, ihre Gefühle zu verstehen.
  2. akzeptieren, dass sie mehr Zeit benötigen.
  3. immer wieder Zuversicht äussern, dass das Kind eines Tages soweit sein wird und ihm Angebote machen.
  4. neue Situationen mit ihm auskundschaften oder das Kind zuerst beobachten lassen.
  5. dem Kind zeigen, was es sagen und tun kann, wenn es gestresst ist («ich brauche noch ein wenig Zeit» oder «ich möchte zuerst nur zuschauen»).

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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