Generation Corona - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Generation Corona

Lesedauer: 10 Minuten

Die Pubertät ist ein spannender Lebensabschnitt. Und ein herausfordernder. Umso mehr, wenn eine Pandemie wichtige Entwicklungsaufgaben erschwert. Wie also gelingt Erwachsenwerden? Und welche Rolle spielen dabei die Eltern?

Text: Claudia Füssler
Bilder: Salvatore Vinci / 13 Photo

Der Fotograf Salvatore Vinci hat drei Jugendliche für dieses Dossier fotografisch begleitet. Die Jugendlichen Hedi Sucksdorff, Nils Duff und Nadja Bader sprechen über ihre Pubertät. Salvatore Vinci fotografiert seit seiner frühen Jugend.

Das Wichtigste zum Thema

  • Im Jugendalter ist das Zeitgefühl anders. Ein ­Lockdown kann Teenagern unendlich lang vorkommen.
  • Die meisten Jugendlichen haben die Pandemie als ­vorübergehende Krise ­erlebt und bisher gut überstanden.
  • Jugendliche, die in sozialen Medien problematische ­Inhalte konsumieren, werden durch die Algorithmen immer mehr mit solchen konfrontiert.
  • Ein klassisches Dilemma der Pubertät betrifft gar nicht die Jugendlichen selbst, sondern die Eltern: die Kunst des Loslassens.

Es ist eine Zeit der Peinlichkeiten. Der Körper wächst an den seltsamsten Stellen und im Gesicht wetteifern Pickel um den besten Platz. Die Eltern sind mit ihrem Verhalten ein permanenter Grund zum Fremdschämen: Mit denen kann man sich doch nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Die eigenen Gefühle sind völlig unzuverlässig und verlangen einiges an schauspielerischem Talent, um zu verbergen, dass der eindeutig uncoole Typ aus der Parallelklasse ein leichtes Ziehen in der Magengegend verursacht, wenn er an einem vorbeischlendert. Überhaupt ist das ganze Leben eine einzige furchtbare Anstrengung. 

Am anderen Ende dieses Prozesses lockt ein neuer Mensch, der weiss, wie er leben will.

Herzlich willkommen in der Pubertät, die dieses Dossier näher beleuchten wird. Zum einen, weil es – da sind sich Fachleute einig – einer der spannendsten, wenn nicht gar der spannendste Entwicklungsabschnitt im Leben eines Menschen ist. Zum anderen, weil gerade die Pubertierenden in den vergangenen knapp zwei Jahren eine besondere Last zu tragen hatten, nämlich die einer weltweiten Pandemie. Das Beruhigende daher gleich vorweg: Der weitaus grössere Teil der Jugendlichen kommt ohne oder mit nur geringen Schwierigkeiten durch die Pubertät, auch wenn während dieser ein Virus namens Corona gewütet hat.

Die Welt entdecken: Hedi Sucksdorff will ­Flugbegleiterin werden. (Lesen Sie hier ihre Erzählung)

Zwischen Autonomiestreben und sicherem Hafen

Generell aber gilt zunächst, dass es für niemanden ein Entkommen gibt. Durch die Pubertät müssen alle – die eine früher, der andere später. Immerhin lockt am anderen Ende dieses unbestritten herausfordernden Prozesses ein neuer Mensch, ein junger Erwachsener, der weiss, wo sein Platz ist in dieser Welt und wie er leben will. Um dorthin zu gelangen, braucht es allerdings die Krise, das weiss die Wissenschaft inzwischen sehr genau. Und jede Krise, auch das ist hinlänglich bekannt, birgt eine Chance. Es ist eine komplexe, fundamentale Entwicklungsphase, die jede und jeder von uns durchläuft. Grob gesprochen: Mädchen etwa im Alter von 10 bis 16 Jahren, Jungen von 12 bis 18 Jahren. Mitunter dauert es aber auch noch bis Anfang 20, bis sämtliche körperlichen Veränderungen abgeschlossen sind. In dieser Zeit lernen wir zahlreiche Dinge: Abläufe planen, Handlungen organisieren, argumentieren, kritisches und logisches Denken. Wir erweitern das Konzept von uns selbst, entwickeln eine eigene Identität und definieren uns als Person: Wer bin ich? Was macht mich aus? Was unterscheidet mich von anderen? Wir werden risikobereiter, emotionaler und entwickeln den Drang nach intensiven Gefühlen. 

Im Jugendalter ist das Zeitgefühl anders. Ein Lockdown kann Teenagern unendlich lang vorkommen.

Oskar Jenni, Entwicklungspädiater.

«All diese Prozesse laufen nicht ohne Zweifel und Spannungen ab», sagt Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich, «doch wirklich schwerwiegende Probleme haben nur 5 bis 15 Prozent der Jugendlichen.» Ein bisschen Reibung zwischen Eltern und Jugendlichen sei sogar gut: Die jungen Menschen lernen dabei, wie man Konflikte austragen kann, testen ihre Grenzen aus und schauen, wie weit die Eltern noch da sind und teilhaben an ihrem Leben. Das ­sollte man nicht unterschätzen, sagt Jenni, denn genauso sehr wie Teenager nach Unabhängigkeit strebten, bräuchten sie den Rückhalt und sicheren Hafen zu Hause.

Nützliche Links

lustundfrust.ch
Die Internetseite der Fachstelle für Sexualpädagogik und Beratung informiert Jugendliche über alle Themen rund um Sexualität.

feel-ok.ch
Ein internetbasiertes Interventionsprogramm für Jugendliche von der Schweizerischen Gesundheitsstiftung RADIX.

projuventute.ch
Der Verein Pro Juventute unterstützt Familien und informiert zu allen Lebensphasen, unter anderem auch der Pubertät.

Eltern verlieren an Einfluss

Dort, wo Eltern merken, wie sehr ihnen der eigene Einfluss abhandenkommt, machen sie sich meist die grössten Sorgen. Was, wenn der Sohn, die Tochter an «die falschen Leute» gerät? Die Jugendlichen suchen sich ihre Peer-Gruppe selber aus, das ist ein bedeutender Teil des Ablöseprozesses vom Elternhaus. «Hier muss man einfach akzeptieren, dass man die Kontrolle verliert, und hoffen, dass das gut geht», sagt Jenni. Und betont: Der Blick in die wissenschaftliche Literatur zeige, dass es das in den meisten Fällen auch tut. Das Erziehen im eigentlichen Sinne sei in der Pubertät nicht mehr möglich, Eltern sollten daher auch nicht versuchen, den pubertierenden Nachwuchs in seinem Denken, Fühlen oder seinen Zielen zu beeinflussen. «Aber eine Struktur geben, zum Beispiel durch Regeln bei den Ausgehzeiten, und immer ein Angebot schaffen zum Reden ist wichtig in dieser Lebensphase der Kinder», sagt Jenni. Wer in Kontakt zum Kind bleibt, dem fallen auch eher Veränderungen auf. Schule, Freunde treffen, in den Verein gehen, sich was aus dem Supermarkt holen, für die Hausaufgaben nochmals rüber zu einem Kollegen, am Wochenende eine Runde Netflix – der Alltag von Jugendlichen ist von Variabilität gekennzeichnet. Eltern sollten dann hellhörig werden, wenn sich Eintönigkeit einstellt und Sohn oder Tochter Rückzugstendenzen zeigen. Das Gleiche gilt, wenn Suizidgedanken geäussert werden, und sei es noch so lapidar nebenbei. Mit einem offenen Gespräch, auch mit Hilfe einer Fachperson, kann den Jugendlichen oft ein Weg zu Lösungen aufgezeigt werden.

Die Pandemie beeinflusst die ­Entwicklung

So eine Pubertät ist also schon herausfordernd genug. Und sie wird es umso mehr, wenn eine Pandemie die jungen Menschen in Situationen zwingt, die die zentralen Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz beeinträchtigen: die Ablösung von den Eltern, das Knüpfen neuer Freundschaften und das Eingehen einer Liebesbeziehung. Statt draus­sen das Leben zu erkunden, hockten Tausende Schweizer Jugendliche im Lockdown daheim. Zu allem Übel waren meist auch noch die Eltern ständig da. «Wir wissen aus Studien, dass das Zeitgefühl im Kindes- und Jugendalter anders ist, die Zeit scheinbar langsamer läuft und ein Lockdown Teenagern unendlich lang vorkommen kann», sagt Jenni.

Die Angst, etwas verpasst zu haben

Den gravierendsten Effekt auf die psychische Gesundheit der Jugendlichen hatte wohl das scheinbare Zusammenbrechen der eigenen Perspektiven. Die Eltern, das Um­feld, die ganze Welt waren gezeichnet von Unsicherheit. Das wirkte sich auf die Wahrnehmung der Jugendlichen aus: Was wird aus mir und meinem Schulabschluss? Kann ich studieren? Den Beruf lernen, den ich möchte? Was passiert mit meinen Freundschaften und Beziehungen? «Das macht natürlich Angst, umso mehr, als dass die Jugendlichen noch nicht den langen Zeitraum eines Lebens hinter sich haben wie wir Erwachsenen, die sagen können: Das geht schon vorbei», sagt Jenni.

Wichtig, aber in der Pandemie bedingt möglich: das Leben erkunden.

Wie die Pandemie sich auf das Leben und die Psyche junger Menschen auswirkt, versuchen Fachpersonen auch in Studien und Befragungen zu ergründen. Das ist insofern schwierig, als wir uns noch mitten in der Pandemie befinden. Zahlen, die im Frühjahr, Sommer oder Herbst dieses Jahres erschienen sind, können wenige Monate später wieder veraltet sein, weil sich die Umstände nach wie vor ändern. Eine im Sommer dieses Jahres im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit veröffentlichte Studie beispielsweise konzentriert sich auf die Zeit, als in der Schweiz weitreichende Massnahmen zur Pandemiebekämpfung in Kraft waren. Zwar gab die gesamte Bevölkerung an, dass es ihr nach einem Jahr Pandemie schlechter ging als vorher, doch vor allem die junge Bevölkerung litt demnach besonders. In dieser ­Gruppe waren es hauptsächlich die 20- bis 25-Jährigen, denen es merklich schlechter ging als den über 35-Jährigen. 

Während die 15- bis 19-Jährigen am meisten befürchten, wichtige Erfahrungen der Jugendjahre verpasst zu haben, haben die Befragten in den Zwanzigern eher Angst, dass sie berufliche Chancen nicht ergreifen konnten. Die Kontakthäufigkeit ging im Frühjahr 2020 in allen Bevölkerungsgruppen stark zurück, erreichte aber innerhalb der Gruppe der jungen Menschen nach erfolgten Lockerungen am schnellsten fast wieder das Niveau von vor der Pandemie. Und auch wenn ein Drittel der jungen Generation angibt, die persönliche Belastbarkeitsgrenze in Sachen coronabedingte Einschränkungen bereits im Frühjahr 2021 erreicht zu haben, stellen die Studienautoren diesbezüglich mittler­weile eine Entspannung fest.

Mehr Hilfesuchende

Die Beratung 147.ch von Pro Juventute Schweiz hat im ersten Jahr der Pandemie eine starke Zunahme von Hilfesuchenden registriert, mit ganz unterschiedlichen Themen. Demnach nahmen Kontakte wegen depressiver Stimmungen um 16 Prozent zu, 21 Prozent mehr Kinder und Jugendliche wandten sich wegen «psychischer Erkrankungen» an 147. Mit Beginn der zweiten Pandemiewelle nahmen diese Anfragen von Oktober bis Dezember 2020 noch einmal um 40 Prozent zu. Mehr Kinder und Jugendliche als noch im Vorjahr brauchten Hilfe in einer akuten Krisensituation. Laut Pro Juventute ist die Zahl von «Akutkontakten» bei 147.ch 2020 im Vergleich zum Vorjahr um fast ein Drittel gestiegen. Auch die ­Beratungen bei innerfamiliären Konflikten und häuslicher Gewalt nahmen über das Jahr hinweg zu, besonders während der Zeit des ersten Lockdowns. 

Die meisten Jugendlichen haben die Pandemie als vorübergehende Krise ­erlebt und bisher gut überstanden.

Zwischen März und Mai 2020 stiegen die Zahlen von Anfragen wegen «Konflikten mit den Eltern» (+60 Prozent), «Konflikten mit Geschwistern» (+100 Prozent) und «häuslicher Gewalt» (+70 Prozent) dramatisch. Deutlich zeigen sich auch die Auswirkungen der Beschränkungen des Soziallebens. Viele fürchten um ihre Freundschaften und fühlen sich einsam: Anfragen zum Thema «Freunde gewinnen» (+28 rozent im Vergleich zu 2019) und «Einsamkeit» (+37 Prozent) haben stark zugenommen, solche zum Thema «Freunde verlieren» haben sich 2020 fast verdoppelt (+93 Prozent). 

«Ich möchte wissen, was so passiert auf der Welt», sagt Hedi Sucksdorff. 

Dass die Pandemie bei Jugendlichen ihre Spuren hinterlassen hat, kann auch Dagmar Pauli bestätigen. Die stellvertretende Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugend­psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich hat einen recht guten Überblick darüber, wie es den Jugendlichen im Land geht. Die gute Nachricht: Die grosse Mehrheit der jungen Menschen hat die Pandemie als vorübergehende Krise erlebt und bisher gut überstanden. «Selbstverständlich war diese Phase auch für psychisch gesunde Jugendliche einschneidend, viele haben den eigentlich abenteuerlichsten Teil der Pubertät verpasst: die erste Reise allein, die grandiose Party zum 18. Geburtstag, die Abschlussfahrt der Schule», sagt Pauli. «Doch sie haben dies alles wie jede andere Krise als Teil des Lebens verarbeitet, in dem zwar das eine verloren geht, aber anderes gewonnen wird: zum Beispiel mehr Nähe zur Familie.» Der eine, zum Glück grosse Teil der Jugendlichen also ist relativ rasch wieder zur Normalität zurückgekehrt.

Corona als Brennglas

Deutlich stärker betroffen hat der Lockdown allerdings jene Jungen und Mädchen, die schon vor Corona psychisch belastet waren. Psychische Erkrankungen sind in der Pandemie verstärkt worden, die Kliniken ­verzeichnen mehr junge Patientinnen und Patienten mit Angststörungen, Depressionen, Essstörungen oder selbstverletzendem Verhalten. Wer schon vor Corona eher wenig ­Freunde hatte oder Konflikten daheim nicht ausweichen konnte, für den war die soziale Isolation entsprechend deutlich schwerwiegender. Allerdings: Pauli und ihre Kollegen beobachten schon seit drei, vier Jahren, dass junge Menschen zunehmend in Krisen geraten, weil sie zu wenige Bewältigungsstrategien kennen. Sie ver­suchen sich zu helfen und Linderung zu verschaffen, indem sie sich zum Beispiel ritzen, erbrechen, eine Diät halten oder eine Fitnesssucht ent­wickeln. «Corona ist nicht die Ursache dafür, aber Corona hat wie ein Brennglas gewirkt und diese ­Zustände offengelegt und bei manchen Betroffenen die Situation verschärft», sagt Pauli. Für die ­generelle Entwicklung macht die Expertin vor allem die sozialen Medien und die sehr engen Kreise im Netz verantwortlich, in denen sich Jugendliche oft bewegen. Die berühmte Bubble. Zudem werden Jugendliche, die ­problematische Inhalte in sozialen Medien konsumieren, durch die Algorithmen dieser Medien immer mehr mit diesen Inhalten ­konfrontiert.

Jugendliche, die in sozialen Medien problematische Inhalte konsumieren, werden durch die Algorithmen immer mehr mit solchen konfrontiert.

Vor wenigen Jahrzehnten noch fanden Jugendliche, die psychische Probleme hatten, eine Art Korrektiv in ihrer Umgebung: Sie sahen, dass die anderen in der Klasse sich nicht ritzten oder einem Fitnesstrend hinterherhechelten und erlebten sich selbst als Ausnahme, als «nicht normal». Das steigerte die Motivation, aus dem eigenen Tief heraus und Lösungen zu finden. Heute jedoch suggerieren die soziale Blase und der Algorithmus der Medien, dass das, wie man ist und was man tut, genau das Richtige ist. «Wenn sich nur ähnlich empfindende und agierende Jugendliche miteinander vernetzen und man nur Inhalte mit ähnlichen Problemen vorgeschlagen bekommt, entsteht ein Kollektiv, das sich gegenseitig runterzieht. Es wird der Eindruck vermittelt, Depression und die negative Wahrnehmung der Welt sei die Normalität, und dass man da nur rauskommt, indem man sich quält oder gar über Suizid nachdenkt», sagt Pauli. Sie sehe das mit grosser Sorge. «Die psychisch kranken jungen Menschen definieren dann schnell ihre Identität über diese Erkrankung und nicht über alle ihre sonstigen Eigenschaften. Dies kann zu problematischen Entwicklungen führen.» Umso mehr, wenn aussergewöhnlich erschwerende Umstände wie die einer Pandemie hinzukommen. Essstörungen zeigten sich ­beispielsweise seit der Pandemie vermehrt bei immer jüngeren Patientinnen. Mehr Zeit allein zu Hause führte einerseits zu mehr Medienkonsum, andererseits zu mehr Möglichkeiten, dies und das in sich reinzustopfen – das schlug sich im Gewicht nieder und damit auch in der Psyche von mehr Jugendlichen, so Pauli.

«Ich war oft traurig, aber auch sehr oft empört», sagt Nadja Bader. (Lesen Sie hier ihre Erzählung)

Eltern bleiben wichtige Begleiter

Auch wenn sie oft unerwünschte Figuren im Teenagerleben sind: Eltern verlieren ihre Funktion als wichtige Begleitpersonen auch in der Pubertät nicht. «Wir gehen da als Erwachsene allerdings gern zu schnell in den Ratgebermodus», sagt Pauli. «Hilfreicher ist es, einfach nur da zu sein, sich zu interessieren, zuzuhören.» Und – auch wenn das mitunter schwerfällt – bis zu einem gewissen Alter auf gemeinsamen Aktivitäten zu bestehen. Gemein­same Mahlzeiten, gemeinsame ­Spaziergänge am ­Sonntag oder ein gemeinsamer Film­abend in der Woche. «Viele Jugendliche werden sagen, dass sie das nicht wollen, doch sie profitieren trotzdem davon», versichert Pauli. Wenn der Kontakt in dieser Phase zueinander nicht ganz abreisst, können Eltern auch Veränderungen wie eine auffällig bedrückte Stimmung oder plötzlichen Gewichtsverlust schneller registrieren und darauf reagieren. Zunächst mit einem offenen Gespräch, bei Bedarf auch mit elterlicher Autorität und Nachdruck, um beispielsweise den Teenager zu professioneller Hilfe bewegen zu können. Erfolgreich können in solchen Fällen vor allem Ich-Botschaften sein: Ich sehe, dass es dir nicht gut geht, ich mache mir Sorgen, weil du nur noch in deinem Zimmer bleibst.

Ein klassisches Dilemma der Pubertät betrifft gar nicht die Jugendlichen selbst, ­sondern die Eltern: die Kunst des Loslassens.

Ein klassisches Pubertätsdilemma betrifft gar nicht die Jugendlichen selbst, sondern die Eltern: die Kunst des Loslassens. Anzuerkennen, dass man selbst nicht mehr die Hauptrolle im Leben des Teenagers spielt, ist für viele hart. Dagmar ­Pauli rät, sich dann bewusst an die eigene Pubertät zu erinnern: Wie hat man selbst es erlebt, wenn die Eltern geklammert haben, welche Gedanken und Geheimisse wollte man lieber mit anderen als den Erwachsenen teilen? «Für mich ist die Leitfrage: Geht es ihnen gut?», sagt ­Pauli. «Dann kann ich sie loslassen, denn ich weiss, sie sind gut gerüstet mit ausreichend Selbstwertgefühl und wenig Problemen.» Mit dem Wissen, seelisch stabile Kinder, die enge, vertrauensvolle Kontakte zu anderen Menschen haben, in die Welt hinaus zu entlassen, gehe auch der Stolz auf das einher, was man selbst geleistet habe. Und es winkt eine Belohnung, verspricht Pauli: eine schöne Beziehung zu Kindern, die erwachsen sind und für die man keine Verantwortung mehr trage. «Das ist gut für einen selber und gut für die jungen Menschen, die nach der anspruchsvollen Phase der Pubertät in einen neuen Lebensabschnitt eintreten.»

«Meine Eltern und ich haben ein gutes Verhältnis», sagt Nils Duff. (Lesen Sie hier seine Erzählung)

Das Wissen, seelisch ­stabile Kinder in die Welt zu ­entlassen, macht auch stolz.

Dagmar Pauli, Kinder- und Jugendpsychiaterin.


Zum Weiterlesen:

Claudia Füssler
arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Am liebsten schreibt sie über Medizin, Biologie und Psychologie.

Alle Artikel von Claudia Füssler

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