Immer schneller, immer mehr? Bremsen Sie. Für Ihre Familie. - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Immer schneller, immer mehr? Bremsen Sie. Für Ihre Familie.

Lesedauer: 4 Minuten

Kommunikation, Mobilität, Konsum – alles wird immer schneller. Dies führt dazu, dass wir uns von unserer Beschäftigung und unseren Mitmenschen entfremden – eine Entwicklung, die unsere Kinder genauso betrifft wie uns selbst. Die gute Nachricht ist: Wir sind ihr nicht hilflos ausgeliefert.

In der Juvenir-Studie der Jacobs Foundation gab der Grossteil der Jugendlichen, die sich als gestresst empfinden, an, dass nicht Eltern oder Lehrpersonen sie unter Druck setzen, sondern vor allem sie selbst. 46 Prozent der Jugendlichen, die häufig Stress erleben, führen dies darauf zurück, dass sie immer alles sehr gut machen möchten. Die Jugendlichen gaben an, dass die Zeit nie für alles reiche, sie Angst vor der Zukunft hätten und auch unter Druck nicht bereit wären, die eigenen Ansprüche herunterzuschrauben. Damit ergeht es ihnen wie vielen von uns Erwachsenen.

Die meisten Innovationen der 
letzten drei Jahrhunderte 
haben dazu geführt, dass wir 
etwas schneller tun konnten. 

Doch woher kommt dieser Druck? Als Psychologe fallen mir dazu natürlich als erstes jede Menge psychologischer Gründe ein: Lernen am Modell, ungünstige Denkmuster usw.

Wenn aber ein Phänomen eine ganze Gesellschaft erfasst, lohnt es sich, nicht nur die einzelnen Menschen im Blick zu haben. Besonders interessant finde ich in diesem Zusammenhang die Gedankengänge des Soziologen Hartmut Rosa

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Rosa ist Professor in Jena und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen der Beschleunigung. Wie er darlegt, haben die meisten Innovationen der vergangenen drei Jahrhunderte dazu geführt, dass wir irgendetwas schneller tun konnten. Fast jede Erfindung, vom Staubsauger über die Mikrowelle bis hin zur Fliessbandarbeit, ist darauf ausgelegt, unsere Effizienz zu steigern und Zeit zu sparen. Jedes neue Transportmittel bringt uns einfacher und schneller ans Ziel als das vorherige. Und jedes neue Kommunikationsmittel, vom Telegrafen über das Telefon bis hin zu E-Mail und WhatsApp, lässt uns andere Menschen rascher und kostengünstiger erreichen. Das Internet macht uns schliesslich die ganze Welt verfügbar: Ganz egal, ob wir etwas nachlesen, ein bestimmtes Musikstück hören oder einen Film sehen möchten – alles ist nur einen Klick weit entfernt.

In einer Welt, in der – zumindest für uns in der Schweiz – alles so leicht verfügbar ist, wo Maschinen und Computer einen Grossteil unserer Arbeit erledigen und wir täglich so viele Erfindungen nutzen, die uns Zeit sparen, sollten wir es sehr gemütlich haben. 

Die Logik der Steigerung

Was momentan verhindert, dass viele von uns die Früchte der Arbeit geniessen können, ist der Zwang zu weiterer Beschleunigung. Es ist eine Art Steigerungslogik, die unsere Gesellschaft durchdringt. Egal wie viel wir lernen, produzieren, innovieren – es geht immer darum, sich zu steigern, mehr als letztes Jahr zu schaffen, mehr als die anderen.

Die Gefahr der Beschleunigung für die Familie

Teilweise unterliegen wir dabei einem Zwang von aussen: Wenn eine Firma wettbewerbsfähig bleiben will, muss sie sich von Jahr zu Jahr weiterentwickeln, Umsatz und Gewinn steigern, fortlaufend innovieren und sich neuen Gegebenheiten anpassen. Dieser Zwang zu dauernder Veränderung und Leistungssteigerung muss letztlich von Menschen umgesetzt werden.

Teilweise befeuern wir diese Dynamik aber auch selbst. Hartmut Rosa spricht davon, dass wir darauf ausgelegt sind, immer mehr von der Welt in Erfahrung zu bringen. Wenn wir rascher kommunizieren können, schreiben wir anstelle von drei Briefen 150 Nachrichten pro Tag. Wenn wir bequemer und schneller reisen können, tun wir es häufiger. Ein Tourist aus Korea erklärte mir letztens im Zug stolz, dass er und seine Partnerin eine Europareise machten und in zwölf Tagen die Hauptstädte von zehn verschiedenen Ländern besucht hätten. Im Zug haben wir uns deshalb getroffen, weil sie in der Schweiz neben Zürich noch Bern besuchen wollten, wobei man «Bern ja schnell gesehen hat». 

Vorgänge wie Interesse 
entwicklen oder etwas 
emotional erfassen lassen, 
sich nicht beschleunigen.

Schliesslich messen wir Erfolg meist auch daran, ob wir uns verbessert haben – nur eine Steigerung fühlt sich gut an. Selbst der Milliardär empfindet sich nur dann als wirklich reich, wenn er in diesem Jahr mehr verdient hat als im vergangenem. Die Beschleunigung lässt sich daher auch in unserem Lebenstempo feststellen: Wir versuchen immer mehr Dinge in immer weniger Zeit zu tun.

Alle beschriebenen Entwicklungen haben sehr viel Positives: Sie schenken uns mehr Freiheiten und Möglichkeiten als jeder Generation zuvor. Rosa weist aber auch auf eine grosse Gefahr der Beschleunigung hin: Sie führt dazu, dass uns die Welt und andere Menschen fremd werden.

Studierende, die nur noch darauf aus sind, zu den nötigen ECTS-Punkten zu kommen und dafür möglichst effizient die prüfungsrelevanten Inhalte in den Kopf zu pressen, können keine Beziehung zu ihrem Fach aufbauen. Lehrpersonen, die in Bürokratie versinken und den dichter werdenden Lehrplan durchziehen müssen, fehlt die Zeit, um sich auf ihre Schülerinnen und Schüler einzulassen. Mitarbeitende, die das Gefühl haben, dass sie nie genügen und es nur darum geht, jedes Jahr bessere Zahlen zu liefern und grössere Aufgabenberge abzuarbeiten, werden zynisch und verlieren das Interesse an ihrer Arbeit und ihren Kollegen. 

Resonanz braucht Zeit 

Interesse entwickeln, etwas emotional erfassen, sich von einem Buch oder Musikstück berühren lassen oder tief in einen Fachbereich eintauchen – all das lässt sich nicht beschleunigen. Wir müssen dazu Zeit aufwenden dürfen, ohne auf die Uhr zu schauen. Rosa spricht in diesem Zusammenhang von Resonanzerfahrungen. 

Es schmerzt, wenn wir die Möglichkeit und die Fähigkeit zu diesen Erfahrungen verlieren. Mir selbst geht es mit dem Lesen so. Während des Studiums habe ich mehrere Hundert Bücher gelesen. Ich bin darin versunken und konnte mich stundenlang auf die Inhalte fokussieren. Das gelingt mir heute nur noch selten. Nach ein paar Minuten überlege ich, ob das Lesen dieses Buches Sinn ergibt, ob es für das nächste Seminar nützlich ist und ob ich nicht lieber noch einen Teil meines E-Mail-Bergs abarbeiten soll, bevor der Sohn aus dem Kindergarten kommt.

Wir können etwas tun

Gesellschaftliche Herausforderungen können wir nicht alleine lösen. Wir sind ihnen aber auch nicht hilflos ausgeliefert. Wir können uns und unseren Kindern Fragen stellen und gemeinsam Antworten darauf suchen. Beispielsweise:

  • Wo geniesse ich das Tempo der heutigen Welt und wo würde ich es gerne ruhiger angehen?
  • Wenn die Zeit sowieso nie für alles reicht: Was ist für mich, uns als Familie oder als Schule, als Firma das Wesentliche? Und wie können wir uns wieder vermehrt darauf fokussieren? Worauf wollen wir verzichten?
  • Wo fühle ich mich «in Resonanz» mit der Welt und wie kann ich diese Zeiträume ausdehnen? Was braucht es dazu?
  • In welchen Bereichen meines Lebens fühle ich eine zunehmende Entfremdung? Und wie kann ich darauf reagieren?

Zum Autor: 

Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). In der Rubrik «Elterncoaching» beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 37-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 5, und einer Tochter, 2. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg. www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com

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