11. Mai 2017
«Je härter und gemeiner, desto mehr Likes»
Interview: Irena Ristic
Lesedauer: 4 Minuten
Warum wird Cybermobbing unter Jugendlichen so schnell zu Psychoterror? Sozialpsychologin Catarina Katzer kennt die Mechanismen. Im Interview erklärt sie ausserdem, wieso Medienkompetenz-Unterricht zu kurz greift und wie man Jugendlichen einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet vermittelt.
Frau Katzer, lässt sich Cybermobbing vom klassischen Mobbing trennen?
Cybermobbing und traditionelles Mobbing, etwa auf dem Schulhof, laufen meist parallel. Die Forschung zeigt: Ein Drittel der Täter war selbst Mobbingopfer. Das Internet ermöglicht ihnen, sich zu «wehren».
Sie scheinen aber kein Verständnis für das Leiden der Opfer zu haben …
Das ist so. Die digitale Empathie ist nicht da. Um jemanden ins Klo zu tauchen, muss immer noch eine psychologische Schwelle überwunden werden. Online fällt das weg. Das Handeln im Netz schafft eine Distanz zu Opfern, weil man ihnen nicht in die Augen schaut. Man sieht nicht, wenn sie weinen oder sich am Boden liegend vor Schmerzen krümmen.
Dr. Catarina Katzer ist Sozialpsychologin und gilt als führende Forscherin auf dem Gebiet der Cyberpsychologie. Als Expertin berät sie unter anderem den Europarat und den Deutschen Bundestag.
Richtet Cybermobbing langfristig mehr Schaden an als Mobbing?
Der Traumatisierungsgrad ist bei Cybermobbing viel höher. Früher existierte zu Hause ein Rückzugsort. Dort konnte man durchatmen. Heute tragen Täter wie Opfer ihr Smartphone ständig mit sich. Zudem hat Cybermobbing einen extrem hohen Öffentlichkeitsgrad, die ganze Welt kann zuschauen. Die allumfassende Präsenz des Internets und das Wissen, dass es unmöglich ist, alle Bilder, Texte und Videos zu löschen, sind eine Belastung.
Was macht das mit den Betroffenen?
Wir wissen aus der Forschung, dass Mobbing und Cybermobbing im Gehirn die gleichen Schmerzregionen aktivieren wie physische Schläge. Wir haben bei Cybermobbing viele Fälle, wo Fotos immer wieder auftauchen. Das heisst: Das Opfer erlebt diesen Schmerz immer wieder
Sind junge Menschen online wirklich so brutal? Oder sind das Einzelfälle?
Die Online-Aggressivität hat klar zugenommen. Sie wird salonfähig. Aber das ist auch bei den Erwachsenen so. Heute sind 20 Prozent der Erwachsenen in Deutschland Opfer von Cybermobbing. Mobbing unter Arbeitskollegen findet längst nicht mehr nur im Büro statt. Ein Thema übrigens, über das viele Unternehmen nicht sprechen.
«Mobbing und Cybermobbing aktivieren im Gehirn die gleichen Schmerzregionen wie physische Schläge»
Je grösser die Zahl der Fälle, desto kleiner die moralischen Bedenken?
Absolut. Nach dem Motto: Wenn es die anderen machen, dann wird das schon seine Richtigkeit haben. Wir nennen das in der Cyberpsychologie: sich in der Masse an das Netz abgeben. Meinungen und Anschuldigungen, die online gepostet werden, vermischen sich zu neuen Inhalten und entwickeln ein Eigenleben. Auf dieses Verhalten folgt dann ein zweiter Schritt, den ich als dramatisch erachte: In diesem Prozess bilden sich neue Einstellungen, die ins reale Leben übertragen werden.
Was können wir präventiv tun?
Wir müssen die Online-Nutzung und alles, was dazugehört, in die Bildung hineintragen. Das Bewusstsein, dass vieles manipulierbar ist, wird gerade in der Schule nicht vermittelt. Wir brauchen intelligente Lernkonzepte, die über den aktuellen Begriff der Medienkompetenz hinausgehen, der aus meiner Sicht ohnehin zu kurz greift.
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Was meinen Sie damit konkret?
Jugendliche müssen Antworten auf Fragen erhalten wie: Was passiert mit meinen Emotionen online? Oder: Wieso bin ich online anders als real?
Gibt es ein typisches Mobberprofil bei Jugendlichen?
Cybermobbing geht durch alle Bildungsschichten, die Unterschiede zwischen Gymnasium, Haupt- oder Berufsschule sind gering. Doch es gibt bestimmte Risikofaktoren: Die meisten Täter fühlen sich weniger kompetent in der Schule, häufig ist ihre Beziehung zu ihren Eltern negativ belastet.
Sie haben im Vorgespräch erwähnt, dass der Belohnungseffekt beim Mobben eine grosse Rolle spielt. Was muss man sich darunter vorstellen?
Das ist eine neue Entwicklung: Auffälliges Online-Verhalten, unabhängig davon, ob negativ oder positiv, wird mit einem «Like» belohnt. Je härter und gemeiner draufgehauen wird, desto mehr «Likes».
Stichwort Sexismus: Über Mädchen und Frauen wird online härter geurteilt. Können Sie das bestätigen?
Bei einer Online-Verurteilung wird klar zwischen Jungen und Mädchen unterschieden. Das Mädchen wird, wenn ein Bild auftaucht, auf dem es in leichter Bekleidung zu sehen ist, gleich als «Bitch» beschimpft. Und es heisst: «Die hat sich so fotografiert, sie ist selbst schuld.»
«Man feuert sich gegenseitig an: Wer hat das brutalste Video?»
Was erleben männliche Cybermobbing-Opfer tendenziell häufiger?
Auch Jungs werden mit diffamierenden, peinlichen Nacktfotos oder durch Videomaterial mit sexuellem Inhalt im Internet blossgestellt. Aber oft ist es auch so, dass Jungs verprügelt werden, was gefilmt und anschliessend online gestellt wird. Dann feuert man sich gegenseitig an: Wer hat das brutalste Video?
Mädchen böten durch ihr Online-Verhalten mehr Angriffsfläche, schreiben Sie in Ihrem Buch über Cybermobbing.
Mädchen sind online tendenziell ehrlicher. Sie öffnen sich in sozialen Netzwerken, indem sie etwa auf Facebook oder in WhatsApp-Gruppenchats darüber reden, in wen sie verliebt sind oder dass sie abnehmen möchten. Dadurch werden sie angreifbar.
Was raten Sie Eltern, wenn sie feststellen, dass ihr Kind online gemobbt wird?
Eltern müssen ihrem Kind klarmachen: Du kannst uns vertrauen, wir reagieren nicht über, du bist nicht schuld, wir finden eine Lösung. Wichtig ist, gemeinsam einen Plan zu entwickeln, den Internetanbieter zu informieren und die Schule einzubinden. Auch eine Expertenberatung kann hilfreich sein.
Und wie sollen Mütter und Väter von Cybermobbern mit der Situation umgehen?
Eltern müssen herausfinden, was hinter den Cyberattacken steckt, ob Probleme, Ängste, Gruppendruck oder eigene Opfererlebnisse. Wichtig ist, klarzumachen: Cybermobbing ist kein Kavaliersdelikt. Opfer brauchen Entschuldigungen und Hilfe. Täter müssen Verantwortung zeigen. Das ist oft schwer. Psychologischer Rat ist deshalb nie verkehrt.
Online-Dossier Mobbing:
Buchtipp:
«Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das Internet uns verändert» (dtv) von Dr. Catarina Katzer erhielt den «getAbstract International Book Award» für das beste deutschsprachige Wirtschaftsbuch 2016. Ihr erstes Buch, «Cybermobbing. Wenn das Internet zur Waffe wird», ist im Verlag Springer Spektrum erschienen.
Extra-Dossier Cybermobbing:
In der Mai-Ausgabe 2017 berichtete Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi in einem Extra-Dossier über das Thema Cybermobbing. Heft bestellen: hier.
Weiterlesen:
- Beschimpft, ausgeschlossen, ausgelacht: Mobbing ist für jedes Kind, für jeden Jugendlichen ein Trauma – besonders wenn es online stattfindet.
- Die 19-jährige Chiara erzählt von der schlimmsten Zeit ihres Lebens: Vor zwei Jahren wurde sie von ihrer damals besten Freundin online gemobbt – aus Eifersucht.