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Wer sind eigentlich diese Leute in meinem Haus?

Lesedauer: 4 Minuten

Wer aufhört, sich gegenseitig kennenzulernen, wird sich fremd – das gilt auch für unsere engsten Beziehungen.

Text: Fabian Grolimund
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Zu Beginn einer Beziehung können wir einander gar nicht genug erzählen. Wir wollen die Gedanken, Träume und Ängste des Partners oder der Partnerin kennenlernen, die letzten Winkel seiner respektive ihrer Persönlichkeit ausloten. Alles ist neu und interessant, und wir befinden uns auf einer Entdeckungsreise. Mit den Jahren holt uns der Alltag ein.

Die Beziehung läuft gut, doch man redet weniger miteinander. Die Gespräche werden flacher, und sobald Kinder dazukommen, geht es bald vorwiegend um Organisatorisches: Wer ist wann zu Hause? Wer fährt die Kinder wann wohin?

Wir können blind werden für Entwicklungen, die für Aussenstehende offensichtlich sind.

Routine breitet sich aus. Gefangen im Alltag kann es uns passieren, dass wir Veränderungen nicht mehr mitbekommen, unser Bild des Gegenübers nicht mehr aktualisieren, die gemeinsame Entwicklung ins Stocken gerät – bis wir eines Tages feststellen, dass wir uns auseinandergelebt haben. Dabei kann uns gerade unsere gemeinsame Geschichte zum Verhängnis werden.

Gemeinsame Geschichte kann uns verbinden, aber auch entfremden

Wenn uns mit einem Menschen viele Jahre und eine gemeinsame Ge­schichte verbinden, gehen wir davon aus, dass wir ihn dadurch umso besser kennen. Wir wissen, woher er kam, was er erlebt und was ihn ge­prägt hat. Wir können auf gemeinsame Erfahrungen und viele Gespräche zurückblicken. Das ist etwas Wertvolles und Wunderbares, das uns verbinden kann.

Es kann jedoch auch verhindern, dass wir die andere Person so sehen, wie sie ist. Wir haben uns ein Bild dieses Menschen gemacht, und es fällt uns entsprechend schwerer, zu sehen, was an ihm neu und anders ist. Wir können blind werden für Entwicklungen, die für Aussenstehende offensichtlich sind.

Besonders eindrücklich beschreibt dies der Schriftsteller Daniel Pennac in seinem Buch «Schulkummer». Inzwischen einer der bekanntesten Autoren Frankreichs, war er in seiner Schulzeit ein schlechter Schüler, um den sich seine Mutter zeitlebens Sorgen machte. 

Pennac schildert im Epilog eine Szene, in der er mit seinem Bruder und seiner Mutter im Wohnzimmer sitzt und sich einen Film über sein schriftstellerisches Werk anschaut: «Mama schaut sich also diesen Film an, neben ihr mein Bruder Bernard, der ihn für sie aufgenommen hat.

Sie schaut sich den Film an, von der ersten bis zur letzten Minute, mit un­­verwandtem Blick, reglos in ihrem Sessel, mucksmäuschenstill, während es draussen Abend wird. Ende des Films. Abspann. Stille. Dann, während sie sich langsam zu Bernard hindreht: ‹Glaubst du, dass er es eines Tages schafft?›»

Manchmal ist es gerade die enge Beziehung zum Kind, die es uns schwer macht, bestimmte Dinge zu sehen oder an uns heranzulassen.

Vielleicht haben Sie mit Ihren Eltern weniger drastische, aber ähnliche Erfahrungen gemacht und hätten bei Besuchen im Erwachsenenalter manchmal am liebsten gesagt: «Du behandelst mich, als wäre ich noch immer sechzehn!» 

Phasen, die intensiv waren und in denen wir viel Zeit miteinander verbracht haben, prägen unsere Wahrnehmung. Vielleicht hilft uns dieser Gedanke dabei, bei Besuchen nachsichtiger mit unseren Eltern zu sein.

Das Bewusstsein um die Macht der Erinnerungen kann uns aber auch dabei helfen, uns selbst mehr zu öffnen und uns immer wieder vorzunehmen, genau hinzuschauen und hinzuhören, damit wir wichtige Entwicklungen bei anderen mitbekommen. Erinnerungen sind aber nicht die einzige Hürde, wenn es darum geht, uns auf Nahestehende einzulassen.

Wir haben es doch gut! 

Als seine Frau die Scheidung einleitete, meinte ein Bekannter zu mir: «Aber wir hatten es doch immer gut miteinander!» Davon war er felsenfest überzeugt. Doch seine Frau sah das anders, und zwar seit Jahren.  Bezeichnend ist das «Wir» in seinem Satz. Studien zeigen, dass wir in engen Beziehungen dazu neigen, unsere Gefühle auf andere zu übertragen.

Das passiert uns auch bei unseren Kindern, wie Dr. Belén López-Pérez von der Plymouth University zeigen konnte. Sie liess Eltern einschätzen, wie glücklich ihre Kinder sind. Dabei zeigte sich: Die Einschätzung der Eltern stimmte nicht besonders gut mit der Einschätzung der Kinder und Jugendlichen überein, dafür mit der Selbsteinschätzung der Eltern.

Glückliche Eltern überschätzten das Glück ihrer Kinder, während unzufriedene es unterschätzten. Die unbewusste Annahme, dass es unserer Familie in etwa so geht wie uns, verstellt uns den Blick.

Wünsche verzerren unsere Wahrnehmung

Zu guter Letzt stehen uns auch unsere Wünsche im Weg. Die meisten Eltern überschätzen ihre Kinder systematisch. Sie halten sie für leistungsfähiger, intelligenter, musikalischer oder sportlicher, als sie es tatsächlich sind. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch nicht schädlich. 

Wie eine Studie von Eddie Brummelman zeigt, überschätzen einige Eltern – besonders diejenigen, die sich selbst als etwas Besonderes sehen – ihre Kinder jedoch sehr stark. Das kann zu Problemen führen, weil sie in der Folge erwarten, dass ihr Kind aus der Menge heraussticht und Grosses leistet.

Warnungen anderer Bezugspersonen, z. . der Lehrpersonen, dass die Eltern ihr Kind überfordern, führen bei diesen Eltern meist nur zu Ärger und Unglauben. Zu hohe Erwartungen können ein Kind unter Druck setzen, den viele Eltern wiederum nicht wahrnehmen.

Glückliche Eltern überschätzen das Glück ihrer Kinder, während unzufriedene es unterschätzen.

Eine Vielzahl von Studien zeigt: Kindern und Jugendlichen geht es heute im Allgemeinen gut. Sie sind mit ihrem Leben zufrieden und kommen mit den Anforderungen zurecht. Es gibt jedoch auch Kinder und Jugendliche, die hohen Belastungen ausgesetzt sind und von denen mehr erwartet wird, als sie leisten können.

In diesem Zusammenhang fand ich eine Studie von Holger Ziegler der Universität Bielefeld bedrückend. Er untersuchte über tausend Kinder und ihre Eltern und mass dabei den Stresslevel der Kinder. Bei den besonders belasteten Kindern liess er die Eltern den Stress der Kinder einschätzen.

Dabei zeigte sich: 87 Prozent der Eltern nahmen den Druck der Kinder nicht wahr, obwohl diese deutliche Symptome zeigten. Ein Grossteil dieser Eltern glaubte sogar, das eigene Kind nicht genug zu fördern.

Ich kenne mein Kind immer noch am besten!

In vielerlei Hinsicht stimmt der Satz «die Eltern kennen ihr Kind am besten». Aber manchmal ist es gerade die enge Beziehung zum Kind, die es uns schwer macht, bestimmte Dinge zu sehen oder an uns heranzulassen. Was von unseren Vorstellungen, unserem eigenen Empfinden oder unseren Wünschen abweicht, nehmen wir als Eltern teilweise weniger wahr als Aussenstehende. 

Das Wissen darum kann uns dazu verhelfen, neugierig und offen zu bleiben und uns darum zu bemühen, unsere Kinder und unseren Partner, unsere Partnerin immer wieder neu kennenzulernen.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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