«Die heutige Schule ist kinderfreundlicher denn je» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Die heutige Schule ist kinderfreundlicher denn je»

Lesedauer: 5 Minuten

Die Schule hat Peter Baumann sein ganzes bisheriges Leben begleitet. Jetzt tritt er ab und blickt zurück. Der ehemalige Lehrer und Schulleiter plädiert dafür, Kinder in ihrer Entdeckungsfreude zu bestärken und sich nicht von Schulideologien leiten zu lassen.

Ich war Schüler, Student, Lehrer, Berater, Schulleiter, Vater eines Schülers, Lehrergewerkschafter und Mitglied der Geschäftsleitung des Schulleiterverbands. Als Zugabe bin ich glücklich mit einer Musiklehrerin verheiratet. Diese Erfahrungen sollten mich befähigen, beurteilen zu können, was gute Schulpolitik ist oder wie eine gute Schule aussieht oder guter Unterricht sein muss. Trotzdem bleibt das Thema Schule auch für mich sehr komplex und oft widersprüchlich.
Manchmal, in leicht anarchistischen Tagträumen, ziehe ich die ­ganze Konstruktion in Zweifel. Etwa, als mir meine Frau kürzlich ein Zitat aus einem Handbuch für guten Unterricht zusteckte: «Vieles hätte ich verstanden, wenn man es mir nicht erklärt hätte.» Der Satz stammt vom polnischen Satiriker Stanislaw Jerzy Lec.

Leider kann ich darüber nicht nur lachen. Denn es steckt ein Körnchen Wahrheit drin. So verbindet sich dieser Spruch in meinem Hinterkopf mit all den Erinnerungen an Sinnkrisen, die ich als Lehrer hatte, wenn ich Aufwand und Ertrag meines Unterrichts nüchtern betrachtete.

Beim Durchblättern des Handbuchs fand ich weitere aufmunternde Sprüche. Der deutsche Komiker Karl Valentin sagte einst: «Wir brauchen die Kinder nicht zu erziehen, sie machen uns eh alles nach.» Und ich fand diesen Satz: «Lehrer sind Menschen, die uns helfen, Probleme zu lösen, die wir ohne sie nicht ­hätten.» Gerne kehre ich an dieser Stelle zur Komplexität der Schule zurück.

Ratgeber, die wissen, was richtig ist und was falsch läuft in der Schule, sind und waren mir immer suspekt. Ebenso geht es mir mit Lehrpersonen, die sich einseitig einer Erziehungs- oder Lehrdoktrin verschreiben. Über kurz oder lang müssen sie, manchmal schmerzhaft, erfahren, dass nicht jede Methode allen guttut. Ich kann auch meine eigene Berufsgattung Schulleitung hinzufügen. Wer in dieser Funktion mit aller Macht eine gutgemeinte Veränderung herbeiführen will, scheitert.

Es braucht Mut statt eine Doktrin

Schlimmer wird es noch, wenn eine moralische Wertung dazukommt. Eine Lehrmethode, eine Unterrichtsform wird dann richtig und gut, eine andere schlecht und verteufelt.

Ich nenne Ihnen vier Schulthemen, bei denen man sich gut und gerne verrennen kann:
• Frontalunterricht versus individualisiertes Lernen
• Hausaufgaben ja oder nein
• Jahrgangsklassen versus 
 Mehrklassigkeit
• Noten ja oder nein

Und noch drei Beispiele aus der Schulpolitik:
• Kopftuch ja oder nein
• Tagesbetreuung versus 
 klassisches Familienmodell
• Langzeitgymnasium versus Kurzzeitgymnasium

Über alle diese (Reiz-)Themen und noch viele mehr habe ich in all den Jahren in unterschiedlichsten Situationen und Gesellschaften diskutiert und gestritten. Übrigens auch mit Eltern. Nur, um immer wieder feststellen zu müssen: Es gibt sie nicht, die einzige Wahrheit.

Die heutige Schullandschaft 
 ist lebendiger, bunter, ­vielfältiger, kinderfreundlicher und ­transparenter denn je.

Um qualitative Veränderungen zu erreichen, braucht es mehr als klare Positionen. Es braucht eine Sicht­weise, die Veränderungen als Prozess begreift und alle Beteiligten einbezieht. Es braucht Mut, Veränderungen durchzuführen, Fehler zu machen und diese wieder zu korrigieren. Ein alter Grieche, Demokrit, hat gesagt: «Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.»

Was mit diesem prozessualen Denken eine gute Schule ausmacht, wurde in diesem Magazin im vergangenen September wunderbar aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler bringen in ihrem Beitrag alle wichtigen und richtigen Gelingensfaktoren unter, und ich bin mit allem einverstanden.

Es sind wenige, aber wichtige Grundhaltungen, die Lehrpersonen und Schulleitende in ihrem Arbeitsalltag beherzigen müssen, damit es den Schülerinnen und Schülern im umfassenden Sinne gut geht. Diese sind manchmal widersprüchlich. Ich kann ihnen aus meiner schulpolitischen Tätigkeit aber bestätigen, dass viele Schulen «gute Schulen» sind.

Die Schule wird oft von aussen als träger Tanker beschrieben. Ihr wird vorgeworfen, zu wenig schnell auf notwendige Veränderungen zu reagieren und in immer gleichen alten Mustern und Inhalten zu handeln. Mag sein, dass auf den ersten Blick vieles noch funktioniert wie zur Zeit meiner ersten Lehrer­jahre. Doch der Schein trügt. Die heutige Schullandschaft ist lebendiger, bunter, vielfältiger, kinderfreundlicher, transparenter denn je. Und ja, manchmal auch überfordert damit, allen Ansprüchen gerecht zu werden.

Mitte der 70er-Jahre unterrich­tete ich in einem Schulhaus in Zürich, gebaut im Kasernenstil der 30er-­Jahre, als junger Reallehrer eine Klasse. Im Schulhaus gab es neben dieser Stufe eine Oberschule, eine Sekundarschule sowie drei verschiedene Sonderklassentypen. Drei weitere Sonderklassentypen wurden in unmittelbarer Nähe unterrichtet. Die wenigen fremdsprachigen ­Kinder besuchten entweder die Oberschule oder die Realschule. So wurde versucht, in möglichst homogenen Gruppen zu unterrichten. War man als Schüler in einer Leistungsstufe eingeteilt, gab es keine Wechsel mehr.

Zwei Klassen im Lehrerzimmer

Meine Schülergruppe, die Realschülerinnen und -schüler, waren angehalten, auf dem Pausenplatz keinen Kontakt mit Kindern der Sekundarschule aufzunehmen, damit diese nicht sprachlich und im Verhalten verdorben würden. Im Lehrerzimmer sassen Sekundarlehrpersonen mit weissen Arbeitskitteln oben am Tisch, wir Reallehrpersonen in Alltagskleidung unten, vor uns die angeschriebene, persönliche Kaffeetasse. Wir siezten die studierten Sekundarlehrpersonen. Die Schulzimmertüren waren stets geschlossen, über den Unterricht sprachen wir nicht. Wer Probleme mit der Disziplin seiner Klasse hatte, und das waren hauptsächlich wir Reallehrer, wurde in keiner Weise vom Kollegium unterstützt. Elternkontakte gab es einmal im Jahr im Schnelldurchlauf, 20 Minuten pro Gespräch.

Erste Risse in dieser gut geregelten Schulwelt waren allerdings unübersehbar. Die gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit wirkten auf die Schule, exemplarisch sichtbar an Lehrpersonen wie mir mit langen, wilden Haaren. Seither, unterschiedlich schnell, aus Not oder Überzeugung, haben sich Schulen gewaltig verändert. «Warte nur, bis du mal in die Schule kommst», ist heute glücklicherweise keine wirksame Drohung mehr.

Ratgeber, die wissen, was richtig ist und was falsch läuft in der Schule, waren mir immer suspekt.

Jetzt bin ich pensioniert. Ich könnte mich privatisieren und meine Rente und mein Vermögen mit Reisen, schönen Künsten, Sport und gutem Essen dahinschmelzen lassen. Es kommt anders. Ich bin Grossvater geworden und hüte regelmässig meinen Enkel. Zum Glück für mich. Ihn in seinen schnellen Entwicklungsschritten zu begleiten und zu beobachten, wie er sich die Welt erobert und Neues lernt, ist wunderbar.

Meine Aufgabe bei seinem Lernen ist es, seine elementaren Grundbedürfnisse zu decken. Den eingangs erwähnten Spruch «Vieles hätte ich verstanden, wenn man es mir nicht erklärt hätte» versuche ich sinngemäss anzuwenden. Ich versuche meinen Enkel auf keinen Fall in seiner neugierigen, ausdauernden Selbsttätigkeit zu behindern.

Viele Schulen fördern heute sehr bewusst und erfolgreich diese angeborene Neugierde am Neuen und am Lernen und sorgen für ein entsprechendes Umfeld.
Vito, mein Enkel – er ist beim Erscheinen dieses Texts knapp einjährig –, kann sich freuen.


Peter Baumann war bis Anfang 2020 Geschäftsleitungsmitglied des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz. Heute ist er in Teilzeit weiterhin aktiv bei www.profilq.ch und als Berater für
Peter Baumann war bis Anfang 2020 Geschäftsleitungsmitglied des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz. Heute ist er in Teilzeit weiterhin aktiv bei www.profilq.ch und als Berater für www.kompassus.ch.


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