Frau Gampe, haben es zweisprachige Kinder schwerer? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Gampe, haben es zweisprachige Kinder schwerer?

Lesedauer: 5 Minuten

Zu Hause zwei Sprachen sprechen: Ist das für Kinder eher Vorteil oder Nachteil? Und was, wenn man selber nur eine Sprache spricht und sich für sein Kind eine Zweitsprache wünscht? Entwicklungspsychologin Anja Gampe erklärt, wie Zweisprachigkeit klappt – und räumt mit Vorurteilen auf. 

«Kann ich das Eau haben, bittöplä?» Die fünfjährige Leonie wächst mit zwei Muttersprachen auf. Ihre Mutter spricht Schweizerdeutsch, ihr Vater Französisch. Früher hat Leonie die 
beiden Sprachen noch oft vermischt und ihre Eltern mit charmanten 
Eigenkreationen unterhalten wie «bittöplä» – einer Mischung aus «bitte» und «s’il te plaît». 

Heute, im Kinder­garten, kann das Kind die beiden Sprachen problemlos trennen und spricht im Alltag auch ihre schwächere Sprache Französisch fliessend und gut.

In vielen Familien werden mehrere Sprachen gesprochen. Im Kanton Zürich spricht rund die Hälfte aller Kindergartenkinder eine andere Erstsprache als Deutsch. Laut 
Bundesamt für Statistik ist die Tendenz zu Mehrsprachigkeit bei Kindern in der gesamten Schweiz steigend. 

Früher hatten zweisprachige Kinder vor allem in der Schule mit vielen Vorurteilen zu kämpfen: Keine Sprache beherrschten sie richtig, schon gar nicht schriftlich, hiess es. Wir haben bei der Entwicklungspsychologin Anja Gampe von der Universität Zürich nachgefragt. 

Frau Gampe, wird es Leonie später schwerer haben als ihre einsprachigen Schulkolleginnen und -kollegen?

Von diesem Vorurteil ist man abgekommen. Kinder können ohne Weiteres zwei Sprachen gleichzeitig lernen oder aber eine Muttersprache und gleichzeitig eine weitere, zuerst schwächere Sprache lernen. Natürlich gibt es Kinder, die sich schwerer tun mit einer Sprache und die vielleicht später auch in der Schule Mühe haben in diesem Bereich. Das ist aber abhängig vom Kind und seinen Fähigkeiten und nicht davon, wie viele Sprachen es spricht. So kann es auch in einer zweisprachigen Familie vorkommen, dass sich ein Kind total wohlfühlt mit den beiden Sprachen, während das andere Kind eine der Sprachen verweigert. 

Ein Vorurteil war, dass zweisprachige Kinder Mühe haben in der Rechtschreibung oder im Diktat. Ist das noch immer so?

Nein. Dieses Vorurteil ist widerlegt. Vielleicht wird Leonie wirklich nie tolle Diktate schreiben – das allerdings nicht aufgrund ihrer Bilingualität, sondern weil ihr Flair für Rechtschreibung noch nicht so ausgeprägt ist. 

Heisst das, ein Kind kann beliebig viele Sprachen lernen? Gibt es da nicht irgendwann ein Chaos im Kopf?

Das hängt von den jeweiligen Sprachen und vom Kind ab. Je unterschiedlicher die Sprachen, desto länger dauert das Lernen. Zweisprachige Kinder fangen manchmal auch später an mit Sprechen, vermischen anfangs die verschiedenen Sprachen oder können gewisse Dinge nur in einer Sprache benennen. Und doch: Das berüchtigte «Chaos im Kopf» gibt es nicht.

Welches sind nach dem aktuellen Stand der Forschung die Vorteile eines zweisprachigen Kindes?

Ein zweisprachiges Kind hat pro Sprache meist weniger Wörter zur Auswahl als ein einsprachiges Kind, es achtet sich also vermehrt auf andere Kommunikationssignale, es ist kommunikativ flexibler. Nonverbale Zeichen wie Gestik sind wichtiger, und bilinguale Kinder nutzen mehr Kommunikationsstrategie als einsprachige. Wir haben aktuell gerade erforscht, dass zweisprachige Kinder besser mit Missverständnissen umgehen können. Sie sind durch die verschiedenen Sprachsituationen gewohnt, dass sie etwas nicht verstehen oder auch selber nicht verstanden werden und gehen versierter mit schwierigen Kommunikationssituationen um als einsprachige Kinder.

Welche Fertigkeiten hat ein zwei­sprachiges Kind sonst noch?

Ein zweisprachiges Kind lernt Strukturen besser und ist zudem geübter in der visuellen Perspektivenübernahme. Es kann sich besser in eine andere Person hineinversetzen und  in das, was diese sieht. Es gibt diese berühmte Studie der Universität Chicago, bei der Kinder unterschiedlich grosse Spielzeugautos verschieben sollten. Die Autos waren teilweise ausserhalb des Sichtfeldes des Erwachsenen, der die Anweisung gab – die Kinder sahen sie jedoch alle. Die zweisprachigen Kinder versetzten sich besser in die andere Person und ihre Perspektive, während einsprachige Kinder meist nur von sich und ihrer Sicht ausgingen. 

Gibt es denn auch Nachteile? Langweilt sich ein zweisprachiges Kind 
beispielsweise später im Unterricht, wenn es die Sprache schon kann? 

Nein, da muss man sich überhaupt keine Sorgen machen. Die Schule ist heute so aufgebaut, dass jedes Kind da abgeholt wird, wo es gerade steht. Und auch ein Kind, das eine Sprache schon gut beherrscht, kennt meist die Regeln der Sprache nicht im Detail. Auch jemand mit deutscher Muttersprache weiss ja zuerst einmal nicht, was das Plusquamperfekt ist.

Spielt das Alter des Kindes beim Erlernen der Sprache eine Rolle?

Je jünger, desto einfacher ist es, eine Sprache zu lernen. Man hat noch nicht so viel Lebenszeit mit einer Sprache verbracht, es gibt noch gut Platz für eine weitere.

Viele Sprachen zu beherrschen, ist in der Berufswelt sehr gefragt. Was sollen Eltern tun, wenn man selber nur eine Sprache spricht, sein Kind aber gerne zweisprachig aufwachsen lassen möchte? 

Auf gar keinen Fall selber eine Zweit- oder Fremdsprache mit dem Kind sprechen: Ein Kind profitiert von einer zusätzlichen Sprache nur dann, wenn es sie von einer muttersprachlichen Person hört. Gegen einen englischen Kindergarten, eine serbische Spielgruppe oder eine italienische Nanny ist gar nichts einzuwenden, wenn man das will. Wichtig ist: Das Kind soll Spass haben beim Lernen der Zweitsprache. 

Stichwort Spass an der Sprache: Es gibt zweisprachige Kinder, die nur eine Sprache aktiv nutzen und die andere verweigern. Wie soll man da reagieren? 

Nicht zwingen. Das bringt nichts. Werden in einer Familie verschiedene Sprachen gesprochen, dann unbedingt bei der Regel «eine Sprache pro Person» bleiben, das macht es einfacher für das Kind. Spricht es eine Zeit lang eine Sprache nicht aktiv, kann sich das auch wieder ändern. Es ist völlig normal, dass ein Kind eine Sprache besser spricht, je nach Umgang und Umgebung. Vielleicht fühlt sich das Kind momentan in der anderen Sprache einfach wohler, aber das muss nicht für immer sein. Nette Cousins, mit denen man spielen möchte, die aber «leider» nur die andere Sprache sprechen, können schnell für ein Umdenken sorgen. 

Wie war das bei Ihnen? Sie sind mit Ihrer Tochter pünktlich zum Kindergartenstart von Deutschland in die Schweiz gezogen. Wie kam sie mit dem Schweizerdeutsch zurecht? 

Streng genommen ist Schweizerdeutsch ein Dialekt, auch wenn ich schon finde, dass es eine andere Sprache ist. Meine Tochter hatte überhaupt keine Mühe und sprach nach drei Monaten im Chindsgi akzentfreies Schweizerdeutsch. 

Über die Interviewpartnerin:

Dr. Anja Gampe forscht am Institut für Psychologie an der Uni Zürich zum Thema kindlicher Spracherwerb. Ihre Tochter ist heute zehn Jahre alt und spricht je nach Umfeld Schweizerdeutsch, akzentfreies Hochdeutsch oder aber das typische Schweizer Hochdeutsch. 
Dr. Anja Gampe forscht am Institut für Psychologie an der Uni Zürich zum Thema kindlicher Spracherwerb. Ihre Tochter ist heute zehn Jahre alt und spricht je nach Umfeld Schweizerdeutsch, akzentfreies Hochdeutsch oder aber das typische Schweizer Hochdeutsch. 


Erstsprache und Zweitsprache

Als Erstsprache bezeichnet man die Sprache, die ein Kind zuerst lernt und am besten kann. Sie wird umgangssprachlich auch Muttersprache genannt, da oft die Mutter die Hauptbezugsperson ist. Als Zweitsprache wird eine Sprache bezeichnet, die nach oder neben
der Erstsprache als zweites Mittel der Kommunikation dient. Fremdsprachen werden im Unterschied zu Zweitsprachen nicht in der alltäglichen Kommunikation verwendet.

Quelle: lexikon.stangl.eu


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