Die ungeahnte Macht der Kinder
Beim Lesen eines Artikels über die Gefahren von Metaversen liess sich unsere Autorin zu einer fiktiven Kurzgeschichte inspirieren. Was, wenn es ein Metaversum nur für Kinder gäbe?
Seine Idee war einmalig. Bahnbrechend. Oder wie es die Financial Times formulierte: «Eine der grössten Plattformen im Jahr 2034.» Zuckerberg konnte einpacken. Meta war Geschichte. Denn Mark hatte eines vergessen: die Kinder.
Bereits zu Zeiten von Instagram und Tiktok war es schwierig gewesen, den Kindern Zugang zu ermöglichen. In vielen Ländern konnten Jugendliche erst mit 16 Jahren ein Profil erstellen. Die Kinderrechte griffen, die Regeln waren streng. Seit es die Metaversen gab – allen voran Zuckerbergs Variante – verbrachten die Erwachsenen Stunden in den künstlichen Welten.
VR-Brillen galten als Mode-Accessoires wie früher Kopfhörer von Sonos oder Bang & Olufsen. Immer mehr Menschen spazierten in Haptik-Suits statt in Jeans und Shirt durch die Parks. Und In-Game-Käufe, um seinen Avatar aufzupolieren, waren längst Alltag.
Nur die Kinder blieben aussen vor. Die Gesetze waren strenger geworden. Oft mussten die Teilnehmenden vorweisen, dass sie 18 Jahre alt waren. Die Kinderrechte, der Global Digital Compact, spezifische Datenschutzbestimmungen, Gefahr von Pädophilie – all dies hatte es verunmöglicht, die Metaversen für Kinder zu öffnen. Aber Kinder bedeuteten Umsatz. Das hatte bereits Walt Disney gewusst.
Da war ihm die zündende Idee gekommen – genauer gesagt seiner Nichte. An einem Familientreffen hatte sie in einem Nebensatz erwähnt, dass es halt ein Metaversum für Kinder geben müsste. Ausschliesslich für Kinder.
Es gab Karaoke-Bars für Kinder. Ein Cupcake-Land. Pizza-Türme. Einfach alles.
Er hatte sofort begriffen, dass sich hinter dieser einfachen Idee enormes Potential verbarg. Dafür hatte er einen Riecher. Seine Augen begannen zu glänzen, als er es nach der Feier durchrechnete. Weltweit gab es ungefähr 2.4 Milliarden Kinder und Jugendliche, dahinter Millionen von Eltern, die ihren Kleinen alles ermöglichen würden. Er konnte den Gewinn bereits erahnen.
Eine virtuelle Welt nur für Kinder
Noch vor sieben Uhr am Montagmorgen veranlasste er eine Sitzung und präsentierte seinem Kader die Vision. Sofort kam der Ball ins Rollen. Seine Rechtsabteilung hatte es geprüft und für möglich befunden. Seine Investoren für gewagt, aber beachtlich. Sein Stab für tragbar.
Die Software-Entwicklerinnen, Expertinnen in den Bereichen Extended Reality, die UX Designer, Creators, Art Directors und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen in seinem Team hatten ganze Arbeit geleistet. Nach nur drei Monaten war «Children’s World» geboren.
Es bestand aus einem Süssigkeiten-Paradies, einem Feld voller Hüpfburgen, Kinderkonzerten in allen Sprachen, Abenteuer-Spielplätzen und – daran hatte er besonders viel Freude – einem Bällebad, so gross wie eine Dreifachturnhalle. Unzählige Kinder-Avatare wurden erschaffen. Auch Taylor Swift hatten sie kreiert. Gut, da fehlten ihnen noch die Rechte, aber sobald die Sängerin die Flinte roch, würde sie zusagen. Da war er sicher. Sie war nicht nur Musikerin, sondern auch Geschäftsfrau.
Es gab ein Becken, in dem man wie eine Meerjungfrau schwimmen konnte, einen Beauty-Salon, Halfpipes, Pumptracks, perfekte Surfer-Wellen für die Sportfreaks. Es gab unzählige Karaoke-Bars für Kinder. Ein Cupcake-Land. Pizza-Türme. Es gab einfach alles.
Für VR-Brille, Anzug und Spielzugang zahlten die Eltern eine Stange Geld. Aber wer wollte seinem Nachwuchs nicht diese Welt ermöglichen?
Keine Chancen für Pädophile
Und es war sicher. Um «Children’s World» zu betreten, musste die ID oder der Pass gescannt werden, inklusive live Gesichtsscan. Die AI konnte das Ausweisdokument mit dem Gesicht abgleichen, das Alter prüfen. Potentielle Pädophile hatten keine Chance, einen Zugang zu erhalten. Alles war geprüft. Children’s World war perfekt.
Klar, für VR-Brille, die Anzug und Spielzugang zahlten die Eltern eine Stange Geld. Aber wer wollte seinem Nachwuchs nicht diese Welt ermöglichen? Eine Welt, in der alles möglich war.
Er hatte recht behalten. Das Weihnachtsgeschäft wurde eine Sensation. Überall auf der Welt kaufte man «Childern‘s World». Zeitweise waren gar die Brillen vergriffen. Metaversen für Erwachsene waren erfolgreich. Metaversen für Kindern die absolute Goldgrube. Es gab In-Game-Käufe, Merchandise-Produkte, ständig kamen seine Marketing-Mitarbeitenden auf neue Ideen. Beinahe über Nacht wurde er zum Milliardär. Die Anmeldezahlen schnellten ins Unermessliche. Er war auf Erfolgskurs. «Der Gründer des Jahres», so nannte man ihn. Selbst Zhang Yiming gratulierte ihm.
Natürlich hatte er erwartet, dass es auch Kritik geben würde. Besorgte Eltern, skeptische Lehrpersonen. Er hatte vermutet, dass es Fälle von Mobbing, Cybergrooming und sexuellen Übergriffen geben würde. Kinder waren ja auch nur Menschen. Er hatte «Help-Buttons» installiert, Informationsboxen, Avatare als Kinder-Polizistinnen und -Polizisten. Alles war vorhanden. Jeder Vorfall, jeder Übergriff wurde dokumentiert, seinen zuständigen Abteilungen gemeldet. Doch es blieb erstaunlich ruhig.
Globaler Streik der Kinder
Anfangs berichteten einzelne lokale Zeitungen in Deutschland, Spanien und den USA von Kindern, die «Children’s World» spielten und sich gegen ihre Eltern auflehnten. Aber das konnte verkraftet werden. Und überhaupt – wer machte das schon nicht in der Pubertät? Vollkommen normal. Dennoch, man musste vorsichtig sein. Er setzte seine Kommunikation darauf an. Aber die Nachrichten verschwanden wieder. Das Produkt wurde gekauft. Knackte die 50 Millionen-Marke.
Aber dann kam der 20. November 2035. Ein Jahr nach dem Release. Er würde den Tag nie vergessen. Der Tag, an dem alles zusammenbrach. Erst eine Meldung aus Bayern. Dann Bologna. Zürich. London. Später dann die USA, Lateinamerika.
Die Kinder kamen aus allen Richtungen und stürmten die Hauptplätze der grossen Städte. Sie reisten an mit Bussen, Zügen, Fahrrädern. Die Schulen blieben zu. Lehrpersonen standen in leeren Klassenräumen. Spielplätze, Sportanlagen waren menschenleer. Die Kinder streikten. Sie versammelten sich, verschworen sich. Selbstgebastelte Schilder wurden in die Luft gehalten. Parolen gerufen. Weltweit. Die gleichen Parolen.
Kinder fordern Recht auf Mitbestimmung
«Wir haben Rechte! Wir wollen mitbestimmen! Wir sind viele!»
«We have rights! We want to have a say! We are many!»
«¡Tenemos derechos! ¡Queremos opinar! ¡Somos muchos!»
«我們有權利!我們想有發言權!我們很多!»
Die Forderungen: kein Parlament ohne die Vertretung von Kindern. Keine Raumentwicklung ohne die Mitbestimmung von Kindern. Keine Schulen ohne ein Parlament aus Kindern. Mitbestimmung zuhause. Mitbestimmung in Vereinen. Mitbestimmung am öffentlichen Leben. Mitbestimmung.
Die Politik war im Ausnahmezustand. Die Lehrpersonen überfordert. Die Eltern verzweifelt.
Anfangs versuchten es die lokalen, später die nationalen Politikerinnen und Politiker mit Verhandlungen. Gewalt wurde angedroht. Aber keines der Länder wollte Wasserwerfer, Tränengas oder Knüppel gegen Kinder einsetzen. Die Kinder blieben auf den Plätzen. Assen aus ihren Süssigkeiten-Boxen, spielten Musik ab, blieben sitzen. Blieben beharrlich.
Die Politik war im Ausnahmezustand. Die Lehrpersonen überfordert. Die Eltern verzweifelt. Einige Erwachsene wollten sich den Kindern anschliessen, wurden jedoch nicht toleriert. «Dies ist unser Krieg mit euch», riefen die Kinder und Jugendlichen.
Was ist geschehen?
«Children’s World» kam in Verruf. Tags zuvor noch in den Himmel gelobt, wurde es nun für das Verhalten der Kinder verantwortlich gemacht. Erst wehrte er alles ab. Was konnte sein Spiel dafür, wenn die Kinder sich auflehnten? Aber die Vorwürfe rissen nicht ab.
Also trommelte er seine Programmierer zusammen, marschierte in den Entwickler-Raum, liess alle Zugangskontrollen deaktivieren, zog sich VR-Brille und Anzug an und betrat seine erschaffene Welt. Er sah die Rutschen, die Popcorn-Maschinen, sein Bällebad. Er musste der Versuchung widerstehen, hineinzuspringen. Alles lud zum Spielen ein, war wunderschön. Nur – da war kein einziges Kind. Die Polizisten-Avatare standen nutzlos in einer Ecke.
«Was ist geschehen?», wollte er von ihnen wissen. «Die Kinder haben anfangs gespielt, dann begannen sie, sich zu unterhalten. Erst einzelne, dann immer mehr», erklärte der Avatar mit monotoner Stimme.«Und worüber?» Er schrie beinahe.
Wendepunkt auf der Hüpfburg
«Darüber, dass die Welt von Erwachsenen erschaffen wird. Jeder Krieg, jede Hungersnot. Die Klimakrise. Nirgends werden sie gefragt, nirgends einbezogen. Und sie haben begonnen, sich zu formieren. Aber alles friedlich. Deshalb gab es für uns auch keinen Grund, zu rapportieren.» Der Avatar zuckte mit den Achseln. Er hätte ihn am liebsten gewürgt. «Wo haben sie sich getroffen?» «Auf dem Feld mit den Hüpfburgen.»
Er liess die Polizistinnen und Polizisten stehen und ging durch seine Welt. Er hatte sie in der Zeit der Entwicklung so oft besucht, dass er das Feld mit den Hüpfburgen blind gefunden hätte. Das Feld war riesig, aber da waren keine Hüpfburgen mehr. Nur ein grosser Berg voller Plastik und ein Schild, auf dem stand «#zerowaste». Er setzte sich auf den Plastikhaufen und verstand die Welt nicht mehr.
Da spürte er, wie jemand ihn anstupste. Er sah sich um, aber da war niemand ausser ihm auf dem Feld. Erst da begriff er, dass es jemand aus der realen Welt war. Er nahm seine VR-Brille vom Kopf und blickte sich um. «Boss. Sie erhalten gerade einen Anruf. Er scheint wichtig zu sein.» Sein Chefentwickler reichte ihm sein Smartphone.
«Hallo Onkel.» Die warme Stimme seiner Nichte.
«Claire. Was willst du? Hier ist der Teufel los!»
«Ich wollte mich nur bedanken.»
«Wofür?», frage er irritiert.
«Dafür, dass du auf mich gehört und das Metaversum erschaffen hast.» Sie schien vollkommen ruhig, während er so aufgebracht war, dass er sich den VR-Anzug beinahe vom Körper riss.
Das Spiel wird Realität
«Ansonsten wäre es mir unmöglich gewesen, uns eine Stimme zu geben.»
«Wie?»
«In deinem Metaversum hast du uns alle zusammengebracht. Einen Ort nur für uns erschaffen.»
Er begriff. Er hatte alles kalkuliert. Nur eines hatte er vergessen: die Kinder. «Wir werden nicht aufhören, zu demonstrieren», sagte sie. «Wir sind zu allem entschlossen.»
Noch vor Weihnachten verschwand sein Spiel vom Markt. «Children’s World» war Geschichte. Und doch war es vielmehr Realität als je zuvor: denn seit da gab es kein Land mehr, das seine Kinder nicht mitbestimmen liess. Die reale Welt wurde zur Children’s World – wenn auch ohne Bällebad.