Durch Psychomotorik die Beziehung zwischen Eltern und Kind stärken
Serie: Kind und Therapie – Teil 4
Wird Kindern ein sogenannt auffälliges Verhalten oder eine verzögerte emotionale Entwicklung attestiert, kommt meist die Psychomotorik-Therapie zum Zug. Doch nur die wenigsten Eltern können sich darunter etwas vorstellen. Was verbirgt sich hinter diesem sperrigen Wort?
Manche Kinder können ihre Bewegung nicht richtig koordinieren und einschätzen. Die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sind vielleicht verzögert, vielleicht nicht ganz auf dem Stand, den die Schule erfordert. Denn seit der Lehrplan 21 in Kraft getreten ist, steht die sogenannte Kompetenzentwicklung des Kindes im Zentrum des Regelunterrichts. Von den Kindern wird faktisch mehr Selbständigkeit verlangt, sie sollen Lernprozesse selber bewältigen können. Je nach Stufe sind die Kinder gefordert, Aufgaben eigenständig lösen und Lösungswege selbst abstrahieren zu können, beispielsweise auch Vorträge zu halten oder den Wochenplan in Mathe selbständig abzuarbeiten. Das erfordert einiges an selbständigem Können – oder eben Kompetenzen.
Der Lehrplan betont drei überfachliche Kompetenzen. Zuerst die personalen Kompetenzen wie Selbstreflexion, Selbständigkeit und Eigenständigkeit. Dann die sozialen Kompetenzen wie Dialog- und Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit oder den Umgang mit Vielfalt. Hinzu kommen als Drittes die methodischen Kompetenzen wie Sprachfähigkeit, das Nutzen von Informationen und das Lösen von Aufgaben oder Problemen.
Ausschlaggebend ist weniger der Grad einer Beeinträchtigung, sondern die Frage, wie gross der Leidensdruck des betroffenen Kindes und seines Umfelds ist.
Die Psychomotorik ist wie die Logopädie und die Heilpädagogik ein niederschwelliges sonderpädagogisches Angebot in der Schule. Finanziert wird es von der Schulgemeinde oder dem Kanton. «Die Psychomotorik arbeitet ganzheitlich und hat zum Ziel, auf alle drei Kompetenzen einzuwirken», sagt Theresia Buchmann, Psychomotorik-Therapeutin aus Luzern. «Die Psychomotorik wirkt darauf hin, dass das Kind und dessen Umfeld einen Umgang mit Ansprüchen im Schulalltag finden und die psychische Widerstandskraft des Kindes gestärkt wird.»
Zur Psychomotorik-Therapie kommen Kinder und Jugendliche im Volksschulalter, die in ihrem Bewegungsverhalten oder -erleben beeinträchtigt sind. Dies kann die gesamte Entwicklung, aber auch nur einzelne Bereiche der Motorik wie beispielsweise die Feinsteuerung beim Schreiben betreffen. Ausschlaggebend ist weniger der Grad dieser Beeinträchtigung, sondern die Frage, wie gross der Leidensdruck des betroffenen Kindes und des Umfelds ist. Ein Beispiel: Eine an sich geringe Gleichgewichtsunsicherheit kann das eine Kind selbständig meistern, beim anderen führt sie zu einem Teufelskreis von Ängstlichkeit, Vermeideverhalten, sozialer Ausgrenzung, Übungsrückstand und noch mehr Unsicherheit. Eine Therapie werde immer erst dann erwogen, wenn die Fördermöglichkeiten in Familie, Schule und Freizeit nicht ausreicht, erklärt Sibylle Hurschler Lichtsteiner, Dozentin für Psychomotorik an der Pädagogischen Hochschule Luzern.
Therapie in der Turnhalle
Wer sich nun eine Psychomotorik-Therapiestunde vorstellt, denkt vielleicht an einen Tisch, an zwei Stühle, Frontalunterricht, eine klassische Lehrsituation und ein Kind, dessen Mängel therapiert werden sollten. Weit gefehlt. Psychomotorik hat ungemein viel mit Bewegung zu tun. «Psychomotorik möchte ein Bewegungsort sein, an dem Begegnen, Wahrnehmen, Fühlen möglich sind», erklärt Regula Tichy, Psychomotorik-Therapeutin in Rorschach.
Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird im Laufe ihrer schulischen Laufbahn einmal therapiert. Viel zu viele, sagen manche Kinderärzte und Experten, und plädieren für mehr Gelassenheit bei Schul- und Lernschwierigkeiten. Eltern wiederum sind oft ratlos, hinterfragen ihre Ansprüche, fürchten sich vor Stigmatisierung. In dieser fünfteiligen Serie möchten wir das Feld des schulischen Therapieangebots beleuchten. Was ist das Ziel der sogenannten sonderpädagogischen Massnahmen? Wann sind sie nötig? Was macht eine Heilpädagogin im Unterricht? Wie arbeitet eine Logopädin? Was bedeutet Psychomotorik? Und haben wir nicht vielleicht einfach falsche Vorstellungen davon, was der Norm entspricht und was nicht?
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So erfolgt der Einstieg immer über Bewegung, ein Spiel und über das Handeln. Die Therapeutin erkennt über das Bewegungsspiel einiges über das Verhaltensmuster des Kindes. Und so erinnert der Raum von Theresia Buchmann eher an eine Turnhalle denn an ein Schulzimmer. Im Therapieraum finden sich Bälle, Hängematten, Strickleitern, Seile, dicke Matten, Sprossenwände, riesige Kissen, mit denen Kinder Hütten bauen können, und vieles mehr. So spielen Kinder in einer Gruppe zusammen oder das Kind spielt in einer Einzelstunde mit der Therapeutin und/oder dem anwesenden Elternteil verschiedene Spiele. Das können Ballspiele sein, ein Kletterparcours oder eine Zeichnung.
Eine Therapie wird immer erst dann erwogen, wenn die Fördermöglichkeiten in Familie, Schule und Freizeit nicht ausreichen.
Die Therapeutin beobachtet, ob und wie beispielsweise ein Kind über die nötige Geduld und Strategie verfügt, um etwa den Übergang von einer dicken Matte am Boden auf den von der Decke hängenden Holzteller zu schaffen, also ein Hindernis zu überwinden. Diese Überlegungen seien allein schon als Prozess zu werten, sagt Buchmann. Hinzu kommt, dass es oft um Zugehörigkeit geht: Das Kind fühlt sich anders in der Welt und in der Familie, die Beziehung zu den Eltern ist fragil oder die Familiensituation schwierig. «Es ist, als ob diese Kinder noch nicht ganz angekommen sind», sagt Theresia Buchmann. «Es geht deshalb in der Psychomotorik oft auch darum, bei sich selbst anzukommen.» Dazu gehöre auch, sich der eigenen Verletzlichkeiten bewusst zu werden und sich diese einzugestehen.
Psychomotorik in Kürze
Ursachen: Die Ursachen für eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung der Körpersinne sowie im sozioemotionalen Bereich liegen oft in einem nicht klar zu diagnostizierenden Geflecht aus biopsychosozialen Entwicklungsbedingungen. Die Einflüsse, die eine Person prägen, werden in der Psychomotorik-Therapie mitberücksichtigt.
Ziel: Psychomotorik-Therapie will die Handlungs- und Interaktionskompetenzen sowie die Lernfähigkeit und Aufmerksamkeit der Kinder stärken und ihnen so ermöglichen, ressourcenentsprechend am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Abklärung: Die Abklärung gibt Auskunft darüber, wo das Kind in den Bereichen Wahrnehmung, Motorik, sozialemotionale Entwicklung und Kognition steht und wie diese zusammenspielen. Eltern und Fachpersonen besprechen mögliche Ansatzpunkte für die Förderung. Gemeinsam wird entschieden, ob Psychomotorik oder eine andere Massnahme angezeigt ist. Die Anmeldung zu einer Psychomotorik-Abklärung ist kantonal unterschiedlich geregelt. Am besten wenden sich Eltern direkt an die zuständige Therapeutin.
Förderung und Überforderung
Sie nennt ein Beispiel. Marco ist ein aufgewecktes Kind, das mit seinem Vater in die Therapiestunde kommt. Marco hatte einst beim Familienausflug Angst, mit dem Velo eine steile Strasse hinunterzufahren und ist abgestiegen, trotz elterlicher Ermutigungen. In der Therapiestunde versucht Marco, eine Kugel durch eine Bahn mit Schlaufen von einem Ende zum anderen sausen zu lassen, während er gleichzeitig auf einem Schaukelbrett steht. Eine knifflige Sache, die er in rund zehn Minuten löst. Damit beweist er, dass er Geduld hat, den Dingen auf den Grund gehen möchte und hartnäckig ist.
Danach konstruiert Marco mit mehreren Matten eine höhere Ebene, von der er auf das Trampolin hinunterspringt. Der Vater erzählt Theresia Buchmann währenddessen vom Fahrradausflug. Als die Therapeutin den Jungen fragt, wie viel von dem Mut, den er gerade beim Trampolinspringen gezeigt hat, er damals beim steilen Stück gebraucht hätte, wird Marco wütend. Er sagt, dass er nie mehr zu ihr in eine Therapiestunde gehen werde, zieht die Schuhe an und marschiert davon. Was ist passiert? «Die Förderung wurde zur Überforderung», erklärt Buchmann. «Vielleicht hat ihn aber auch die Erinnerung an das Erlebnis verletzt.» Der Vater gibt im Gespräch an, er versuche künftig Marcos vorsichtiges Bewegungsverhalten besser anzunehmen, ihm sein eigenes Tempo zu lassen.
Das Beispiel zeigt, worum es in der Psychomotorik auch geht: das Kind beim Ausprobieren und beim Scheitern zu begleiten. Und ihm und seinen Eltern aufzuzeigen, dass es sein eigenes Tempo leben darf, dass es seine Schwächen – wie zum Beispiel das vorsichtige Bewegungsverhalten – annehmen darf. Aber auch die Eltern sollen ihr Kind annehmen, wie es ist. Über gemeinsame schöne Erfahrungen mit Vater oder Mutter, positive Erlebnisse im Umfeld und gemeinsames Handeln tritt das Kind in Beziehung mit sich selbst. Es wird, so sagt die Psychologie, selbstwirksam. Das heisst, das Kind erfährt, dass es auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen kann. Diese Erfahrung geschieht über den Körper, die Bewegung und die Interaktion.
Ein Vertrauensverhältnis aufbauen
Manchmal braucht ein Kind auch Psychomotorik, weil Eltern es zu sehr beschützen und behüten. Wie bei Leander. Ihm fehlen, so meldet die Kindergärtnerin, verschiedene sogenannte Basisfunktionen wie Anziehen, Schuhebinden, Abräumen, Tischdecken usw. So gibt Leander beim Spiel, beim Klettern an der Sprossenwand, schnell auf, der Junge sagt, seine Fusssohlen würden schmerzen. Theresia Buchmann versucht ihn zu motivieren, diesen kleinen Moment auszuhalten. Dann springt er von einem Ort zum anderen, ohne dort verweilen zu können.
Ein Vertrauensverhältnis ist für den Entwicklungsprozess unabdingbar. Psychomotorik ist also auch Beziehungsarbeit.
Gemeinsam mit den Eltern lernt Leander nun, bei einem Spielzeug zu bleiben, also beispielsweise auf dem Trampolin eine von der Mutter vorgegebene Anzahl Sprünge zu machen, diese vielleicht zu wiederholen. Das Ziel: Leander lernt, sich etwas zuzutrauen und zuzumuten. Das sei nur möglich, so Theresia Buchmann, wenn ein Vertrauensverhältnis herrsche. Eltern sollen den Entwicklungsstand des Kindes akzeptieren und Vertrauen zum Kind und zur Therapeutin aufbauen. Das heisst: die Beziehung pflegen, sodass jenes Vertrauensverhältnis entsteht, welches wiederum für den weiteren Entwicklungsprozess unabdingbar ist.
Die Psychomotorik ist also auch Beziehungsarbeit. «Es geht aber nicht darum, zu heilen, sondern respektvoll und empathisch zu vermitteln, dass eine positive Entwicklung des Kindes möglich ist, auch wenn die Umstände schwierig sind.» Wie viel Zeit das braucht, variiert von Kind zu Kind. In der Psychomotorik werde kein einheitliches Programm «durchgeturnt», so Sibylle Hurschler Lichtsteiner. Dauer und Arbeitsweise seien sehr verschieden und passt sich dem individuellen Bedürfnis an. In der Praxis können es einzelne Beratungsstunden, regelmässige wöchentliche Therapiestunden über ein bis zwei Jahre, gelegentlich auch einmal eine mehrjährige Begleitung in grösseren Abständen sein. Ziel sei immer, die Fördermöglichkeiten zu Hause zu etablieren.
Psychomotorik möchte…
- die soziale Interaktion stärken.
- das Kind beim Ausprobieren und beim Scheitern begleiten.
- das Kind über das gemeinsame Handeln Wirksamkeit erleben lassen.
- ressourcenorientiert arbeiten, z. . Spielideen aus der eigenen frühen Kindheit oder der Kindheit der Eltern aufgreifen.
- über die Wahrnehmung Denkprozesse entstehen lassen.
(Quelle: Regula Tichy)
«Das Kind lernt, sich zu vertrauen»
Psychomotorik-Therapeutin Theresia Buchmann sagt, es gehe in ihrer Arbeit nicht darum, Schwächen eines Kindes auszumerzen, sondern um das Entdecken seines Kraftpotenzials. Denn jedes Kind habe Kompetenzen. Diese gelte es zu erkennen.
Frau Buchmann, in welchem Alter kommen Kinder in Ihre Therapie?
Hauptsächlich sind es Kinder in der Unterstufe beziehungsweise im ersten Zyklus, ab Kindergarten und erster Klasse. Auch ältere Kinder, etwa in der dritten und vierten Klasse, nehmen teil. Und manchmal kommen auch noch grössere Kinder, wenn sich beispielsweise eine Symptomatik verschärft oder sich noch deutlicher zeigt als Jahre zuvor.
Weshalb benötigen diese Kinder Psychomotorik?
Es sind Kinder, die in ihrem Bewegungsverhalten beeinträchtigt sind. Das kann die Grobmotorik sein, also beispielsweise, dass ein Kind ungeschickt ist, immer wieder stolpert oder nicht ruhig sitzen kann. Oder es betrifft die Feinmotorik. Vielleicht hat das Kind Mühe, etwas auszuschneiden, seine Schuhe zu binden oder Perlen aufzufädeln. Oder es hat Mühe mit dem Schreiben und der Stifthaltung. Und dann gibt es noch die hochsensiblen Kinder, die Mühe haben mit der Reizverarbeitung. Motorische Probleme können aber auch die gesamte Entwicklung betreffen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ein Kind ist unsicher bei Wurfspielen oder hat Mühe mit dem Gleichgewicht, beim Hüpfen an Ort oder mit dem «Hampelmann». Das eine Kind entwickelt Strategien, um diese Unsicherheit selbständig zu meistern. Das andere fühlt sich ungenügend, hat Angst, wenn es zum Sport muss, tut alles, damit es nicht in eine Situation kommt, in der es werfen oder hüpfen muss. Womöglich wird es sozial ausgegrenzt, hat dann einen Übungsrückstand und ist noch unsicherer als zuvor.
Ist die Selbstoptimierung das Ziel?
Wir möchten den Selbstwert des Kindes stärken. Es soll sich als stark erleben und selbstwirksam fühlen, das ist sein Grundrecht. Insofern ist es nicht falsch, von Optimierung zu sprechen. Die Psychomotorik fokussiert aber auf die Ressourcen, wir sehen die Stärken des Kindes, nicht die Schwächen. Das Kind lernt, sich zu vertrauen.
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