Häusliche Gewalt: «Nichts tun fühlt sich falsch an»
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«Nichts tun fühlt sich falsch an»

Lesedauer: 4 Minuten

Eine Mutter meldet sich beim Elternnotruf, weil die Freundin ihres Sohnes häusliche Gewalt erfährt. Die Beraterin zeigt der Mutter Wege auf, wie sie sich in dieser Situation verhalten kann.

Aufgezeichnet von Martina Schmid
Bild: Adobe Stock

Mutter: Guten Abend, ich würde mich gern mit Ihnen über eine Situation austauschen, bei der ich gerade sehr anstehe und nicht weiss, was ich machen soll.

Beraterin: Guten Abend. Wir können gern versuchen, gemeinsam herauszufinden, was ein nächster Schritt sein könnte.

Mutter: Sehr gern. Mein Sohn ist 14 Jahre alt und hat seit ein paar Wochen eine Freundin. Sie kennen sich schon lange und wir mögen das Mädchen sehr. Nun hat diese Freundin meinem Sohn einen Brief geschrieben, in dem sie von heftiger Gewalt zu Hause berichtet. Wir sind gerade sehr aufgewühlt. (Die Mutter weint.)

Beraterin: Da kommt gerade viel zusammen in Ihrem Leben. Möchten Sie, dass wir Ihrem Aufgewühlt­sein etwas Ruhe und Aufmerksamkeit schenken – ich habe Zeit –, oder möchten Sie lieber das Gespräch über Ihren Sohn fortsetzen?

Mutter: Ich möchte gern das Gespräch fortsetzen. Ich weiss einfach nicht, was ich tun soll.

Ich sollte das alles gar nicht wissen, weil das Mädchen will, dass niemand etwas davon erfährt.

Mutter

Beraterin: Ich höre von dieser jungen Liebe zwischen Ihrem Sohn und seiner Freundin und Ihrer Freude darüber. Gleichzeitig werden die beiden, und auch Sie, mit einer heftigen Geschichte konfrontiert, die viel auslöst. Ich höre von Ihrer Verunsicherung, was Sie mit diesen Informationen machen sollen, von Ihrer Sorge und vielleicht auch von Ihrem Bedauern um Ihren Sohn und seine erste Liebe, die nicht unbeschwert beginnen kann.

Mutter: Genau, ausserdem hat das Mädchen meinem Sohn gesagt, dass er niemandem davon erzählen darf. Das erste Problem besteht darin, dass ich das alles ja gar nicht wissen dürfte. Das macht es noch schwieriger.

Mit dem Wissen überfordert

Beraterin: Das ist wirklich ein Dilemma, in dem Sie sich befinden. Sie sehen diese Freundschaft und das wachsende Vertrauen. Da ist etwas Spezielles am Entstehen. Sie nehmen dies wahr und möchten dem mit Sorgfalt begegnen. Gleichzeitig ist Ihnen klar, dass dieses Mädchen Schutz braucht, und Sie fühlen sich verantwortlich, für diesen Schutz einzustehen.

Mutter: Ja, eigentlich ist es wahnsinnig schön, wie viel Vertrauen die beiden verbindet. Ich sehe aber auch, dass dieses Wissen meinen Sohn überfordert. Darum hat er mir den Brief gezeigt. Das war nicht einfach für ihn und er befürchtet, damit ihr Vertrauen zu missbrauchen.

Beraterin: Ich bin froh, dass er diesen Schritt gemacht hat. Er spürt, dass diese Information zu viel für ihn ist, und vertraut sich Ihnen an. Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass nichts tun für Sie keine Option ist. Sonst würden Sie wohl eher nicht anrufen, sondern sich einfach dazu entscheiden, nichts zu tun. Wo stehen Sie dies­bezüglich momentan mit Ihren ­Gedanken?

Mutter: Es ist tatsächlich so. Nichts tun fühlt sich falsch an. Ich habe Kenntnis von etwas, bei dem ich nicht wegschauen kann, möchte aber auch nicht hinter dem Rücken der beiden handeln oder die Freundschaft zwischen meinem Sohn und seiner Freundin gefährden. Vielleicht ist sie ja froh, wenn jemand reagiert. Es kann aber auch sein, dass sie meinem Sohn Vorwürfe macht oder sich zurückzieht.

Ihre klare Haltung, dass Sie nicht wegschauen wollen, sondern handeln, gibt allen Beteiligten Halt.

Beraterin

Beraterin: Ihre Gedanken machen für mich Sinn, und auch ich sehe diese Unsicherheiten. Auch wenn Sie momentan aufgewühlt sind, ­gelingt es Ihnen, mit viel Klarheit und Weitsicht abzuwägen und weiterzudenken. Ihre Verunsicherung über den nächsten Schritt rührt meiner Einschätzung nach nicht daher, dass Sie noch nicht «das Richtige» gefunden haben, sondern dass es in dieser Situation kein einfaches Richtig und Falsch gibt.

Ich höre zwei Sachen sehr klar von Ihnen: Ihr Wissen verlangt eine Handlung, denn das Mädchen muss in irgendeiner Form Schutz erhalten. Ebenfalls Klarheit höre ich beim Punkt, dass Sie nicht hinter dem Rücken Ihres Sohnes und seiner Freundin etwas in die Wege leiten möchten.

Mutter: Ja, das ist so.

Dem Sohn mit Klarheit begegnen

Beraterin: Ich finde diese Klarheit hilfreich und sie gibt dem Ganzen einen Rahmen. Sie haben diesen Entscheid in Ihrer Rolle als Mutter gefällt. Sie übernehmen die Verantwortung, dass Sie aktiv werden. Natürlich würde es sich gut anfühlen, wenn Ihr Sohn einwilligt. Es würde ihn aber überfordern, die Zustimmung geben zu müssen.

Ich finde darum wichtig, dass Sie Ihrem Sohn mit dieser inneren Klarheit begegnen: Ich habe Wissen von etwas, bei dem ich nicht wegschauen kann, ich lasse euch nicht allein! Ich werde euch nicht hintergehen, ich teile meine Schritte mit euch. Sie müssen dies nicht in Worte fassen, aber sich innerlich daran orientieren, denn dies gibt allen Beteiligten Halt.

Mutter: Das tönt stimmig für mich! Ich möchte den beiden gern mit dieser Haltung begegnen. Doch was soll ich denn nun konkret als Nächstes tun?

Beraterin: Eine naheliegende Möglichkeit wäre, eine Gefährdungsmeldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) zu machen. Da Ihnen Transparenz den Jugendlichen gegenüber wichtig ist, könnten Sie in einem ersten Schritt bei der zuständigen Kesb anrufen und sich in Bezug auf das Vorgehen bei einer Gefährdungsmeldung ohne Nennung von konkreten Namen beraten lassen. Sie hätten dann mehr Einblick, welche Schritte anstehen und welche Konsequenzen daraus resultieren können. Mit diesem Wissen könnten Sie Ihren Sohn und seine Freundin informieren. Eine andere Möglichkeit ist, die Schulsozialarbeit zu involvieren. In diesem Fall würde dann wahrscheinlich die Schule eine Gefährdungsmeldung machen.

Ihre Rolle könnte darin liegen, die beiden zu stärken.

Beraterin

Mutter: Ich kenne die Schulsozialarbeiterin, für mich wäre es somit angenehmer, diesen Weg zu gehen. Ist es denn auch möglich, dass mein Sohn und seine Freundin zusammen zur Schulsozialarbeiterin gehen? Sie gehen ja in die gleiche Schule. Ich merke gerade, dass es sich gut anfühlen würde, den beiden dies vorzuschlagen.

Beraterin: Das ist möglich. Ihre Rolle könnte in dem Fall darin liegen, die beiden zu stärken und ihnen zu verdeutlichen, dass es wichtig und richtig ist, diese Situation mit einer Fachperson zu besprechen, und ihnen anzubieten, sie bei diesem Schritt zu unterstützen.

Elternnotruf

Bei Themen rund um den Familien- und Erziehungsalltag ist der Verein Elternnotruf seit 40 Jahren für Eltern, Angehörige und Fachpersonen eine wichtige Anlaufstelle – sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Beratungen finden telefonisch, per Mail oder vor Ort statt. www.elternnotruf.ch 

An dieser Stelle berichten die Berater aus ihrem Arbeitsalltag.

Mutter: Ich probiere das und melde mich gerne wieder, wenn ich weitere Fragen habe. Vielen Dank und auf Wiederhören!

Beraterin: Ich wünsche Ihnen, ­Ihrem Sohn und seiner Freundin alles Gute!

Dieses Protokoll ist die stark verkürzte und auf das Wesentliche reduzierte Aufzeichnung eines längeren Beratungsgesprächs. Wir möchten damit einerseits Einblick geben in unsere Arbeit und andererseits den Leserinnen und Lesern Denkanstösse für ähnliche Fragestellungen vermitteln.

Yvonne Müller, Co-Leiterin Elternnotruf

Martina Schmid Elternnotruf

Martina Schmid
ist gelernte Primarlehrerin und Heil­pädagogin und arbeitet seit zehn Jahren als dipl. systemisch-lösungsorientierte Therapeutin beim Elternnotruf. Sie ist Mutter von drei Kindern.

Alle Artikel von Martina Schmid

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