Wenn Jugendliche im Internet hassen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Wenn Jugendliche im Internet hassen

Lesedauer: 6 Minuten
Beschimpft, ausgeschlossen, ausgelacht: Mobbing ist für jedes Kind, für jeden Jugendlichen ein Trauma – besonders wenn es online und in den sozialen Netzwerken stattfindet. Dort entfaltet Mobbing eine neue Dimension: Psychoterror, der Kinder in den Suizid treiben kann. Prävention und ein frühes Eingreifen sind entscheidend. 
Der Satz im Whats-App-Gruppenchat tut beim Lesen weh: «Ach leg dich einfach untern Zug, hilfst uns allen damit», schreibt Luca seinem Mitschüler Marius. «Da würde er sich selber und der Welt einen Gefallen tun», doppelt Luca nach. «Von der Brücke springen wär auch ok. Aber dafür hat der auch nicht die Eier». Der Grund für diese Hetze ist banal. Offenbar hat sich Marius zu oft im Unterricht gemeldet. Der Satz hat nur ein Ziel: Marius fertigzumachen. «
Wie beim Mobbing im Klassenzimmer oder auf dem Schulhof besteht das Ziel der Cybermobber darin, ihr Opfer über einen längeren Zeitraum hinweg zu zer stören », sagt Cybermobbing-Expertin Catarina Katzer. Sie ist eine der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet der Cyberpsychologie.

Jeder vierte Jugendliche wurde schon Opfer von Cybermobbing

Cybermobbing gehört zu den am meisten diskutierten Themen in den Medien. Weil es keine allgemeingültige Definition von Cybermobbing gibt, variieren die Angaben über die Zahl der Betroffenen stark. Die aktuellsten Zahlen liefert die JAMES-Studie von 2016, die sich seit vielen Jahren mit dem Medienumgang von Schweizer Jugendlichen beschäftigt. «Ist es schon vorgekommen, dass über dich Falsches oder Beleidigendes im Internet verbreitet wurde?», wollten die Macher der Schweizer Studie im letzten Jahr von Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren wissen. Und: «Ist es schon vorgekommen, dass Dich jemand im Internet fertigmachen wollte?» Laut Gregor Waller, Projektleiter der JAMES-Studie, haben 24 Prozent eine der beiden Fragen mit Ja beantwortet. Das bedeutet: Jeder vierte Jugendliche in der Schweiz wurde schon Opfer von Cybermobbing.

Online-Dossier Mobbing

Dieser Artikel gehört zu unserem
Dieser Artikel gehört zu unserem Online-Dossier zum Thema Mobbing. Erfahren Sie mehr darüber, wie Mobbing entsteht und was Sie als Eltern tun können. 


Wie beim «klassischen» Mobbing sind mehrere Personen oder Gruppen am Cybermobbing beteiligt, die sich aus den Tätern, dem Opfer und den Bystandern (den Zuschauern, Duldern) zusammensetzen. Die Auslöser für den gruppendynamischen Prozess Mobbing sind vielfältig: «Aus einer harmlosen, online geposteten Neckerei kann sich eine Hassposting-Lawine entwickeln, die gar nicht im Sinne des Absenders war», sagt Medienwissenschaftler Martin Hermida. Die Motivation der Mobber ist jedoch oft dieselbe: «Ob online oder offline – Täter wollen Anerkennung», sagt Catarina Katzer. Auch Spass und Langeweile seien häufige Motive für Cybermobbing.
Bei manchen Jugendlichen ist die Verzweiflung so gross, dass sie nicht mehr leben wollen. Der Suizid der 15-jährigen Kanadierin Amanda Todd ist ein tragischer Fall von vielen. Das Mädchen nahm sich das Leben, nachdem es wegen eines im Netz verbreiteten Nacktfotos über Monate hinweg online gemobbt worden war.

Cybermbobbing zerstört das soziale Leben eines Jugendlichen

Cybermobbing hört im Gegensatz zum klassischen Mobbing nie auf Mobbing und Cybermobbing laufen meist parallel. Trotzdem unterscheidet sich Cybermobbing in vier Punkten vom klassischen Mobbing:

  • Der Anonymitätsgrad bei Cybermobbing ist sehr hoch. Das Opfer sieht den oder die Täter nicht – was sein Ohnmachtsgefühl verstärkt.
  • Das Publikum kann von überall zusehen.
  • Cybermobbing verschwindet nicht. Videos, Fotos, Hasspostings können nie ganz gelöscht werden.
  • Cybermobbing-Opfer haben keinen Schutzraum. Jugendliche sind heute fast rund um die Uhr online. Die Täter kommen über das Smartphone und den PC bis ins Kinderzimmer.
Dass viele Jugendliche ihren Selbstwert an ihr Image in sozialen Netzwerken koppeln, erhöht den Psychoterror, der von Cybermobbing ausgeht. Mobbing zerstört das soziale Leben eines Jugendlichen Stück für Stück: Was mit Selbstzweifeln und Schlaflosigkeit beginnt, kann sich schnell zur Isolation und Depression entwickeln.
Mädchen machen sich online angreifbarer

Erotische Bilder versenden ist kein Liebesbeweis

Gerade das Sexting, der Austausch von erotischen Bildern, gibt Cybermobbern eine gefährliche Waffe in die Hand. Eine Tatsache,deren sich viele Teenager nicht bewusst sind, wenn sie auf «Send» drücken. «Viele Mädchen, die zu unseren Workshops kommen, sind ganz verstört, wenn sie erfahren, dass es den Jungs nicht, wie behauptet, um einen Liebesbeweis geht», sagt Katzer. Davor sind auch Jungs nicht gefeit: «Ein aufgelöster Junge rief an. Er hatte sich dazu hinreissen lassen, sich vor der Webcam auszuziehen», sagt Friederike Adrian, Beraterin bei der Kinder- und Jugendanlaufstelle 147 von Pro Juventute. «Er hatte mit einem Mädchen geflirtet, das ihn zu diesem Spiel animiert hatte, und nun befürchtete er, dass Bilder oder ein Video gemacht wurden.» 
Auch sonst exponieren sich Cybermobbing-Opfer online oft zu sehr. Welche Ausmasse dies annehmen kann, zeigt das Youtube-Phänomen «Pretty or Ugly» (dt. «hübsch oder hässlich»). Dabei erzählen junge Mädchen von Mobbing und Hänseleien wegen ihres Aussehens, um dann mit einem scheuen Lächeln und unsicherer Stimme in die Kamera zu fragen: «Bin ich hübsch oder wirklich hässlich?» Sie möchten «ehrlich gemeinte» Bewertungen von Wildfremden aus dem World Wide Web in der Hoffnung, ihre von Unsicherheiten geplagte junge Seele aufzupäppeln. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie destruktiv «ehrlich gemeinte» Online-Kommentare für das verletzliche Selbstbewusstsein dieser Mädchen sein können.

Mobbing mit strafrechtlichen Mitteln bekämpfen

Über eine Tatsache müssen sich alle Online-Hetzer allerdings im Klaren sein: Angriffe, Beschimpfungen und Bedrohungen in der virtuellen Welt sind keine Kavaliersdelikte und können strafrechtlich verfolgt werden. In der Schweiz beginnt die Strafmündigkeit mit zehn Jahren im Vergleich zu anderen europäischen Ländern schon sehr früh. Zwar existiert hier, anders als in Österreich, kein Gesetzesartikel zu Cybermobbing, «trotzdem kann Cybermobbing in Tatbestände wie zum Beispiel Nötigung, Drohung, Ehrverletzung, Beschimpfung oder üble Nachrede aufgeschlüsselt werden », sagt Martin Niederer, stellvertretender Leiter des Jugenddienstes der Stadtpolizei Zürich.

Extra-Dossier Cybermobbing

In der Mai-Ausgabe 05/17 berichtete Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi in einem Extra-Dossier über das Thema Cybermobbing. Heft bestellen: hier. 

Mitschüler und Freunde können eine wichtige Rolle bei der Prävention einnehmen
Hören die Angriffe nicht auf, ist eine Anzeige oft das letzte Mittel: Bevor es aber so weit kommt, versuchen die Ermittler, Jugendlichen aufzuzeigen, was ihr Online-Verhalten alles nach sich ziehen kann. Dabei gehen die Polizisten in Schulkassen oder laden einzelne Jugendliche zu einem Gespräch auf den Polizeiposten vor. «Die meisten wissen durchaus, dass das, was sie da tun, ‹irgendwie nicht ganz okay ist›», erklärt Martin Niederer. Opfern von Cybermobbing rät er, auf gar keinen Fall Beweise zu löschen (siehe Tipps-Box) und sich an ihre Eltern oder an eine andere Vertrauensperson zu wenden. Nicht nur die Eltern von Cybermobbing-Opfern fallen aus allen Wolken, wenn sie davon erfahren – auch die der Täter.
Auch die Eltern der Täter sind oft ahnungslos.
Was können Mütter und Väter tun, wenn ihr Kind andere im Internet mobbt? «Sie müssen herausfinden, was hinter den Cyberattacken steckt, ob Probleme, Ängste, auch Gruppendruck oder eigene Opfererlebnisse», sagt Sozialpsychologin Catarina Katzer. «Wichtig ist, klarzumachen, dass sie als Täter Verantwortung zeigen müssen. » Nicht nur in der Schule, auch im Elternhaus sollten Kinder für das Thema sensibilisiert werden – am besten, indem man immer wieder darüber spricht und nicht erst, wenn das Kind sich seltsam verhält.

Auch Mitschüler und Freunde können eine wichtige Rolle bei der Prävention einnehmen und sogar dazu beitragen, Cybermobbing in seinen Anfängen zu stoppen. Wer bemerke, dass jemand online fertiggemacht wird, sollte eingreifen und andere Mitschüler mobilisieren, um nicht alleine dazustehen, rät Katzer. Nicht immer ist dies ein einfaches Unterfangen, der Gruppendruck ist gross. Trotzdem: Zivilcourage zeigen, kann eine wichtige Lektion auf dem Lebensweg eines Jugendlichen sein. «Oft kann Cybermobbing vorgebeugt und Schlimmeres verhindert werden.»

Bild: iStock


Tipps bei Cybermobbing

  • Hilfe holen. Unterstützung und Trost durch Eltern, Lehrpersonen, Freunde oder andere Vertrauenspersonen sind im Ernstfall essenziell. 
  • Keine Schuldzuweisungen. Ahnen Eltern, dass ihr Kind im Internet gemobbt wird, sollten sie es darauf ansprechen. Im Ernstfall gilt: nicht überreagieren, keine Schuldzuweisungen, Ruhe bewahren und dem Kind versichern, dass Sie gemeinsam eine Lösung finden werden. 
  • Nicht mit einem Handy- oder Internetverbot reagieren. Das Internet und das Handy spielen für die Freizeit und für die Schule des Kindes eine grosse Rolle. Ein Verbot sendet ein falsches Signal. 
  • Keine Reaktion auf Online-Attacken. Die Täter leben von der Rückmeldung des Opfers. Auch wenn die Versuchung gross ist: nicht zurückpöbeln. 
  • Beweise sichern. Unterhaltungen, Nachrichten, Videos oder Bilder speichern – inklusive Screenshots. Internetseitenbetreiber kontaktieren Eltern können Internetseitenbetreiber auffordern, Inhalte über ihr Kind zu löschen. 
  • Schule einschalten. Eltern sollten sich an die Schule wenden und im Idealfall über die Schule mit den Eltern des Mobbers oder der Mobber im Gespräch versuchen, eine Lösung zu finden. 
  • Anzeige erstatten. Wenn alles nichts hilft: Polizei einschalten. Beleidigungen, Erpressungen und Drohungen sind strafbar.

Tipps für Eltern zur Prävention 

Bringen Sie Ihrem Kind bei …

… keine persönlichen Kontaktdaten im Internet preiszugeben sowie Fotos und Videos nur sehr zurückhaltend zu veröffentlichen. Passwörter sollten nicht geteilt werden: Oft sind es gerade ehemalige beste Freunde, die später zu Mobbern werden. Auch persönliche Angelegenheiten oder Differenzen zwischen Freundinnen und Freunden sollten lieber offline und unter vier Augen besprochen werden.

… dass Sexting das Risiko von Cybermobbing erhöht. Ein als Liebesbeweis geschicktes Nacktfoto kann nach einer Trennung aus Rache für Mobbingzwecke eingesetzt werden.


Dossier Cybermobbing

In der Mai-Ausgabe 2017 berichtete Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi in einem Extra-Dossier über das Thema Cybermobbing. Heft bestellen: hier. 

Weiterlesen: