«Wir idealisieren die Vergangenheit»
Die Klage über Leistungsdruck ist fast so alt wie die Menschheit selbst, sagt Martin Dornes. Der Entwicklungspsychologe über Schulreformen, Förderwahn und warum Kinder und Eltern heute nicht mehr Stress haben als früher.
Herr Dornes, Sie bestreiten, dass Kinder und Eltern unter Druck stehen. Warum?
Herr Dornes, Sie bestreiten, dass Kinder und Eltern unter Druck stehen. Warum?
Leistungsdruck wird seit Jahrzehnten immer wieder vorgebracht und als Grund sowohl für Unzufriedenheit in der Schule und im Studium angeführt als auch für die angebliche Zunahme seelischer Erkrankungen, zunehmende Jugendgewalt, Alkoholkonsum, Computersucht und so weiter. Offenkundig handelt es sich dabei um einen Universalschlüssel, der beliebig einsetzbar ist.
Was macht Sie da so sicher?
Wir hatten es bereits früher mit angeblich zunehmend erschöpften Kindern und Erwachsenen zu tun. Die dokumentierte Verbreitung der vegetativen Dystonie, später auch Stresssyndrom genannt, betrug Anfang der 1960er-Jahre 30 bis 50 Prozent, was alle heutigen Burnout- Ziffern in den Schatten stellt. Als Ursache galt, wie übrigens schon 1890 für die später als Erschöpfungsdepression umschriebene Neurasthenie, die «Hochtourenzivilisation» mit ihren vielfältigen Anforderungen in Arbeit und Freizeit.
Eine Hamburger Studie von 1958 ergab, dass 61 Prozent aller 10- bis 11-Jährigen mindestens ein psychopathologisches Symptom wie Kopfschmerzen, Einschlafstörungen, Übelkeit oder Zähneknirschen aufwiesen. Die Zeitdiagnose lautete: wachsender Verkehr und Strassenlärm, vom Wiederaufbau erschöpfte Mütter und «neue» Medien – damals amerikanische Comic-Hefte. An unseren Schulen orteten Soziologen bereits 1978 «extremen Leistungsdruck». Gerade was die Schule betrifft, gibt es aber Anhaltspunkte dafür, dass die Leistungsanforderungen nicht gestiegen sind.
Zum Beispiel?
Wenn in Deutschland heute 50 Prozent eines Jahrgangs Abitur machen – zu meiner Zeit waren es 10 Prozent – und die durchschnittliche Abschlussnote in den letzten 15 Jahren mit jedem Jahrgang besser geworden ist, liegt der Gedanke an gelockerte Leistungsanforderungen nahe. Denkbar ist auch, dass heute zu viele Kinder das Gymnasium besuchen, die dafür nicht die notwendigen Voraussetzungen mitbringen und sich deshalb überfordert fühlen.
Der Stress beginnt nicht erst im Gymnasium. Experten wie der Kinderarzt Herbert Renz-Polster monieren, dass schon die Primarschule vom Lernort zum Arbeitsmarktzulieferer verkomme.
Das halte ich für eine typische Nostalgiethese. Sie impliziert, dass die Schule früher ein Lernort war und es heute nicht mehr ist. Wann hat die Schule denn diesen Glorienschein des Lernorts verloren? Dass wirtschaftliche und wettbewerbsorientierte Interessen die Schullandschaft dominieren, ist eine der vielen Halbwahrheiten, die über die Schule zirkulieren.
Was früher die Gesellschaft vorgab, dürfen oder müssen wir nun selbst herausfinden.
Die meisten Schulreformen der letzten 40 Jahre sind nicht von der Wirtschaft gefordert, sondern von Politikern implementiert worden – und zwar meist unter dem Vorzeichen der Emanzipation, des Nachteilsausgleichs, der Förderung Benachteiligter, der Inklusion. Richtig ist, dass die Bedeutung qualifizierter Schulabschlüsse zugenommen hat und das Anliegen der Eltern, ihr Kind solle Abitur beziehungsweise die Matura machen
Was mitunter im viel diskutierten Förderwahn gipfelt.
Die Verschulung der Kindheit durch übertriebene Förderung wird seit mindestens 35 Jahren diskutiert. Schon 1981 schrieb der US-Psychologe David Elkind ein Buch, das sich damit befasste und die These «college starts at two» aufstellte. Dafür wurden Einzelbeispiele wie Fremdsprachenunterricht ab zwei als Beleg angeführt. Die gibt es immer.
Die Pädagogin, Dokumentarfilmerin und Sachbuchautorin Donata Elschenbroich dagegen hat Dutzende von Frühförderungseinrichtungen und Kitas besucht. Ihr Resümee lautet: «Unseren Kindern, egal aus welchen Elternhäusern, wird heute so achtungsvoll begegnet wie in keiner Generation zuvor.»
Warum reden wir nicht darüber?
Sagen Sie es uns. Fragt man Erwachsene nach dem Zustand der Jugend, so hört man seit je überwiegend pessimistische Antworten. Befragt man sie hingegen danach, wie es ihren Kindern oder denen ihrer Bekannten geht, ist es umgekehrt.
Die Anforderungen an schulische Leistungen sind nicht gewachsen.
Aus Umfragen und Studien wissen wir auch, dass die Lebenszufriedenheit von Kindern im deutschen Sprachraum sehr gross ist. Die Jugendforscher Hurrelmann und Albrecht etwa konstatieren in ihrer einschlägigen Arbeit von 2016: «Mit Stress können die meisten beeindruckend gut umgehen, auch wenn sie gerne jammern.»
Hurrelmann spricht in der aktuellen Shell-Jugend-Studie aber auch von einer «Generation unter Druck». Demnach spiele insbesondere der unberechenbar gewordene Arbeitsmarkt eine Rolle.
Unstrittig ist, dass sich die Erwartungen an Arbeitnehmer verändert haben. Früher wurden Erduldung von Monotonie am Fliessband und Folgebereitschaft bei Anweisungen erwartet, heute Flexibilität und Selbständigkeit. Wieso sollte das einen zunehmenden Druck darstellen?
Eben: weil Berechenbarkeit fehlt.
Erwartungen und Anforderungen verändern sich, das war schon immer so. Zwischen 1950 und 1970 sind die meisten bäuerlichen Arbeitsplätze verschwunden und durch industrielle ersetzt worden. Stress bei der Arbeit gab es früher reichlich: Arbeiter litten unter schwerer körperlicher Belastung und den langen Arbeitszeiten. Wir idealisieren die Vergangenheit. Vati gehörte damals samstags noch dem Arbeitgeber, nicht der Familie.
Heute sind Eltern dafür im Stress, weil sie alles allein schaffen müssen: Kinderbetreuung, Beruf, Haushalt. Das Los der heutigen Kleinfamilie?
Dieser Topos wird überstrapaziert. Oft hört man dann noch die afrikanische Weisheit, dass es ein ganzes Dorf brauche, um ein Kind grosszuziehen. Oder den Hinweis, dass einem früher die Grossmutter zur Seite gestanden sei. Da werden das Dorf und die Grossfamilie idealisiert.
Die meisten afrikanischen Dörfer sind keine Idyllen, und das Verhältnis zwischen den Generationen war früher oft angespannt. Die Mutter wünschte sich nichts sehnlicher, als von der bevormundenden Grossmutter in Ruhe gelassen zu werden.
Gleichwohl boten feste Strukturen und verbindliche Werte auch Sicherheit. Heute ist alles offen. Birgt das neben vielen Vorteilen nicht auch die Gefahr, dass Orientierungslosigkeit uns überfordert?
Was früher die Gesellschaft vorgab, dürfen oder müssen wir nun selbst herausfinden. Das erhöht zweifellos die Anforderungen an die Selbstorganisierungs- und Selbststeuerungsfähigkeiten von Eltern und Kindern. Das ist psychische Arbeit und manchmal anstrengend. Es besteht das Risiko, dass manche Menschen diesem erhöhten Selbststeuerungsaufwand nicht gewachsen sind. Gerade jene, die nicht in einem verhandlungsorientierten Elternhaus aufgewachsen sind.
Partnerschaftliche Erziehung ist eine gute Vorbereitung aufs Leben.
Ein starrer Baum bricht im Wind, ein biegsamer nicht. Das macht doch deutlich, dass frühere «Sicherheiten» keine Leitlinie für Erziehung mehr sein können. Die heute verbreitete partnerschaftliche oder demokratisierte Erziehung erachte ich dagegen als ganz gute Vorbereitung aufs Leben.
Es heisst aber auch, sie führe zu verunsicherten Eltern.
Sie mag mit manchen Verhaltensunsicherheiten verbunden sein; darüber, was nun erlaubt oder geboten ist. Unsicherheit kann aber auch produktiv sein, sie regt zum Nachdenken über unser Tun an. Bei all den Debatten über Verunsicherung, Überforderung und Druck drohen wir die eine historische Errungenschaft des Erziehungswandels aus den Augen zu verlieren: Sie besteht darin, dass wir die Gewalt aus dem Eltern-Kind-Verhältnis zurückgedrängt haben und kindbezogener erziehen. Allein dieser Vorteil wiegt alle eventuellen Nachteile auf.