Wie wirken sich Erfahrungen aus der Kindheit aufs Elternsein aus?
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Wie wirken sich eigene Kindheitserfahrungen aufs Elternsein aus?

Lesedauer: 4 Minuten

Die Psychotherapeutin Stefanie Stahl hat einen Ratgeber darüber geschrieben, was die Gefühle von Eltern zu ihren Kindern beeinflusst. Ein Gespräch über Empathie, Kindheitserfahrungen und Selbstreflexion.

Interview: Julia Meyer-Hermann
Bild: Ana Francisconi / Pexels

Frau Stahl, gerade in stressigen Momenten hören Eltern sich manchmal Sätze sagen, die sie aus ihrer eigenen Kindheit kennen und eigentlich ablehnen. Woher kommt das?

Unser rationales Wissen darüber, wie Konflikte zu lösen wären, wird von starken Emotionen blockiert. Dann verfallen wir schnell in alte Muster, auch wenn wir sie nicht mögen. Es wäre daher hilfreich, herauszufinden, wo unsere blinden Flecken liegen, welche «Knöpfchen» es sind, deren Drücken uns triggert.

Ist nicht offensichtlich, was uns zu Tränen rührt, ängstigt oder wütend macht?

Wir sind wenig objektiv, was unsere Gefühle angeht. Wir interpretieren Situationen aufgrund eigener Erfahrungen und agieren entsprechend. Oft sind das Prägungen, die in die Kindheit zurückreichen und die uns gar nicht bewusst sind.

Stefanie Stahl ist Psychotherapeutin in Hamburg und Bestsellerautorin («Das Kind in dir muss Heimat finden»). Mit der Psychologin Julia Tomuschat hat sie kürzlich mit «Nestwärme, die Flügel verleiht» einen Ratgeber über Gefühle in der Eltern-Kind-Beziehung veröffentlicht.
Stefanie Stahl ist Psychotherapeutin in Hamburg und Bestsellerautorin («Das Kind in dir muss Heimat finden»). Mit der Psychologin Julia Tomuschat hat sie kürzlich mit «Nestwärme, die Flügel verleiht» einen Ratgeber über Gefühle in der Eltern-Kind-Beziehung veröffentlicht. (Bild: zVg)

Haben Sie ein Beispiel für uns?

Ich habe in meiner Praxis einen Vater beraten, der mit seinem dreijährigen Sohn immer wieder wahnsinnige Machtkämpfe ausgetragen hat. Er hat seinen Sohn dabei lautstark angeschrien und empfand das selbst als unangemessen und nicht hilfreich. Trotzdem konnte er dieses Verhalten nicht ablegen, bis wir analysiert haben, was dahintersteckte. Er hatte das Gefühl, von ihm nicht respektiert zu werden, und das kannte er aus seiner eigenen Kindheit. Als Junge ist er von seinen Eltern oft übergangen und nicht wertgeschätzt worden. Sein Sohn hat diese alte Verletzung in ihm hochkommen lassen, deshalb hat der Vater so heftig reagiert. Nachdem ihm das bewusst war, konnte er mit den Trotzanfällen des Sohnes viel gelassener umgehen.

Aber ist es nicht auch authentisch, seinen Ärger zu zeigen? Muss ein Kind nicht lernen, welche Emotionen es auslöst?

Natürlich sollten Eltern deutlich machen, was sie wütend, traurig oder auch fröhlich macht. Authentisch zu sein, kann aber nicht bedeuten, dass man selbst wieder in sein Kindheits-Ich rutscht und ausflippt. Das ist einfach nur unreif.

Durch einen Reflexionsprozess können schwierige Muster ganz gut aufgelöst werden und wir geben sie nicht an die eigenen Kinder weiter.

Gibt es immer einen Zusammenhang zwischen den eigenen Kindheitserfahrungen und den Elterngefühlen?

Nicht jede aktuelle Gefühlslage ist von der eigenen Kindheit beeinflusst, aber die frühen Erfahrungen prägen uns schon sehr. Wir kommen mit einem unfertigen Gehirn auf die Welt, und gerade in den ersten Lebensjahren werden ganz viele synaptische Verschaltungen gebildet. Diese Prägungen wirken wie eine Art Brille mit einer leichten Wahrnehmungsverzerrung, durch die man später die Welt sieht. Es gibt natürlich Menschen, die derart positive Erfahrungen gemacht haben, dass sie später nicht mit alten Gefühlslasten kämpfen müssen und intuitiv vieles richtig machen als Eltern. Aber für alle Menschen, die etwas problematischere Bindungen und Situationen erlebt haben, ist es schon wichtig, sich zu fragen: Wie war das eigentlich bei mir daheim? Durch diesen Reflexionsprozess können schwierige Muster ganz gut aufgelöst werden und wir geben sie nicht an die eigenen Kinder weiter.

Welche Rolle spielt dabei, wie viel Fürsorge beziehungsweise Freiheit man in der eigenen Kindheit erlebt hat?

Wir alle haben ein Grundbedürfnis nach Autonomie und Zugehörigkeit und es ist zentral, wie in frühen Jahren mit diesem Grundbedürfnis umgegangen wurde. Mit der Fähigkeit, einerseits selbständig zu sein und andererseits Bindungen eingehen zu können, hängt unser Selbstwertgefühl zusammen. Es beeinflusst auch massgeblich, ob wir später eher autonome oder angepasste Eltern sind.

Was bedeutet in dem Fall autonom und angepasst?

Autonome Eltern haben ein grosses Freiheitsbedürfnis. Sie überfordern ihr Kind manchmal, indem sie ihm zu viel Selbständigkeit abverlangen. Auf der anderen Seite stehen die angepassten Eltern, die aufgrund ihres grossen Bindungsbedürfnisses manchmal das Bestreben haben, es allen recht zu machen.

Je unbewusster Kindheitsprägungen sind, desto mehr Macht haben sie über uns.

Es ist beispielsweise häufig so, dass Eltern, die in ihrer Kindheit wenig behütet wurden, später eine überproportional enge Bindung zu ihren Kindern aufbauen. Diese Mütter und Väter wollen ihren Kindern dieses Gefühl des Verlassenseins ersparen, was ja ein liebevoller Gedanke ist. Leider  haben sie dann manchmal Probleme, ihre Kinder gross werden zu lassen und ihnen Freiheiten zuzugestehen. Den umgekehrten Fall gibt es natürlich auch: Einige Eltern, die ich beraten habe, sind in ihrer Kindheit derart überbehütet worden, dass sie als Erwachsene ein übergrosses Freiheitsbedürfnis hatten. Die fühlten sich durch ihre elterlichen Pflichten sehr eingeengt.

Ist es wirklich so wesentlich, dass man die eigenen Kindheitsprägungen genau aufschlüsselt? Kann es nicht manchmal sogar ganz hilfreich sein, manches zu vergessen?

Wenn man etwas verdrängt, klopft es doch irgendwann wieder an. Und je unbewusster solche Prägungen sind, desto mehr Macht haben sie über unsere Gefühle. Dann laufen emotionale Prozesse automatisiert ab. Die Bewusstwerdung hilft dabei, die eigenen Gefühle zu verstehen. Je nachdem, wie stark man sich als Kind verbiegen musste, kann es als Erwachsener leichter oder schwieriger sein, Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen. Das Verständnis für die eigenen Emotionen braucht man aber, um auf seine Kinder einfühlsam eingehen zu können.

Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?

Ein simples Beispiel: Wenn mein Kind weint und mir erzählt, dass an diesem Tag keiner mit ihm in der Schule spielen wollte, muss ich kurz in mich hineinhorchen und spüren, wie es sich anfühlt, wenn man so ganz allein und isoliert ist. Das ist ein Prozess, der idealerweise ganz selbstverständlich und natürlich abläuft. Wenn man dieses Gefühl nachvollziehen kann, fällt es einem leichter, sich in das Kind hineinzuversetzen und es zu trösten und zu beraten. Eltern, die einen Mangel an dieser Fähigkeit haben und sich nur an bestimmten Regeln orientieren, schauen leichter an den Bedürfnissen der Kinder vorbei. Einfühlungsvermögen ist das Königskriterium für Erziehungskompetenz.

Ist das denn den meisten Eltern bewusst?

Eltern achten heute viel stärker auf ihre eigenen Gefühle und auf die Gefühlswelt ihrer Kinder, als das bei ihren eigenen Eltern der Fall war. Man wirft ihnen dann schnell vor, Helikoptereltern zu sein, aber ich meine, dass es zunächst einmal sehr positiv ist, dass es eine grössere Achtsamkeit gibt. Früher waren negative Emotionen verpönt. Die Eltern haben ihre Gefühlswelt oft nicht so gut verstanden und konnten somit auch ihren Kindern nicht vermitteln, damit reflektiert umzugehen. Gerade bei den Vätern hat es diesbezüglich einen grossen Bewusstseinswandel gegeben. Sie zeigen auch schwache Gefühle wie Schmerz, Angst oder Kummer und vermitteln, dass das so richtig ist. «Indianer kennen keinen Schmerz» ist passé.

Julia Meyer-Hermann
lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Hannover. Ihre Schwerpunkte sind Wissenschafts- und Psychologiethemen.

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